Beate Scheder

Das eigentlich Selbstverständliche

 

Über das Ich und das Über-Ich und alles andere: Die Zeichnungen des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich sind postum als Buch unter dem Titel „Realität und Imagination“ erschienen.

Im September 2019 war es, als Klaus Gerrit Friese beim Durchblättern und Durchlesen der Buchausgaben des Berliner Religionsphilosophen Klaus Heinrich auf die kleinen Vignetten aufmerksam wurde, die dort abgedruckt waren. Ob da wohl noch mehr sei, fragte er sich. Zeichnungen vielleicht? Sein Gespür täuschte den Galeristen nicht, tatsächlich war das Zeichnen – was bis dato kaum bekannt war – von Kindheit an Heinrichs Passion. Sie war Hobby und Ausdrucksmittel für das, was ihn bewegte, Zeitvertreib und nicht zuletzt eine willkommene Ablenkung in nicht enden wollenden Sitzungen an der Freien Universität, die er als Student mitgründete und wo er später das Religionswissenschaftliche Institut leitete.

Zu lesen ist diese Geschichte im Band »Realität und Imagination«, den die Galerie Klaus Gerrit Friese gerade gemeinsam mit dem ça ira-Verlag herausgebracht hat. Noch besser als diese sind aber die Zeichnungen selbst. Ein Riesenglück ist es, dass der Galerist Friese sie entdeckte oder vielmehr Klaus Heinrich sie selbst wiederentdeckte, aus Kisten hervorzog, nachdem die beiden darüber sprachen. Von 3.000 ist die Rede.

Ende Januar 2020 zeigte die Galerie Klaus Gerrit Friese in Charlottenburg eine Auswahl des Konvoluts, 148 Zeichnungen und zehn Skizzenbücher, entstanden in der Zeit von 1955 bis 2020, nie für ein größeres Publikum gedacht, schon gar nicht für den Kunstmarkt. Schade ist das vielleicht, eher aber gut so, womöglich hätten sie sonst etwas an Originalität eingebüßt.

Gestalten der Mythologie und der Kulturgeschichte begegnet man in ihnen, schlummernden Kuscheltieren, schrulligen Gestalten in universitären Talaren, Zirkuselefanten, überhaupt Tieren, vielen fliegenden und solchen, die es gerne würden, Hybridwesen, halb Tier, halb Mensch, die die Unzulänglichkeit menschlicher Existenz bildlich sichtbar machen. Auch seine Frau und sich selbst hielt Heinrich in oft ziemlich uneitlen Selbstporträts fest – er zeichnet sich mit unschmeichelhaft bedröppeltem Gesichtsausdruck, krank im Bett, noch berückt vom Besuch einer Giacometti- Ausstellung, oder stellt sein Ich als Pinguin, sein Über-Ich als lurchiges Wesen dar.

Andere Zeichnungen sind seiner Stadt, sind Berlin und seinen Bewohner*innen gewidmet, dem Berliner Spießbürgertum unter anderem. Herrlich etwa das grotesk verformt, etwas griesgrämig dreinblickende nackte, armlose, vielleicht dann doch auch harmlose Paar, dem er die Unterzeile gab: »Herr und Frau Sütterlin machen einen Spaziergang im schönen Steglitz«.

Die Zeichnungen liefen für ihn nebenbei, anderes zu tun hatte er schließlich genug. Klaus Heinrich war Religionsphilosoph, vielmehr eigentlich Universalgelehrter, ein kritischer Geist, ein Lehrender, dessen legendäre Vorlesungen Generationen von Studierenden begeisterte, und ein überaus feinsinniger Mensch mit feinem Lächeln, das sich auch nach der Begegnung mit ihm in der Ausstellung im Herbst 2020 einprägte, als er durch die Schau führte und zu jedem der Blätter kleine Geschichten voll Geist und Witz und mitunter fast kindlichem Charme zu erzählen hatte. Und auch zum Zeichnen an sich, zu den Räumen, die sich dadurch für ihn öffneten, weil sich die Dinge über Zeit und eben Raum hinweg zusammenbringen, in einen Kontext stellen lassen, die im Titel benannte Realität und Imagination auch. Luftschlösser baut Heinrich mit seinem Stift mitunter – oder scheint sich selbst wieder mit ebendiesem auf den Boden der Tatsachen zu rücken, indem er ganz lakonisch »oben« und »unten« auf die entsprechenden Stellen des Papiers schreibt.

Der Erklärende fehlt mittlerweile. Klaus Heinrich starb im November 2020. Umso schöner ist es, dass es nun das Buch gibt. Nachlesen kann man in ihm auch die Rede, die Heinrich zur Eröffnung der Ausstellung hielt und in der er seine Beziehung zum Zeichnen unter anderem so erklärt: »Das mir Unheimliche am Zeichnen ist das eigentlich Selbstverständliche. Alle haben wir es getan, alle machen wir es weiter, und dann hören wir plötzlich auf. Und wenn man doch weitermacht, heißt das auch, man läßt die Verbindung zur Kindheit nicht abbrechen – und plötzlich tut sich das ganze Leben auf.«

Das ganze Leben fürwahr. Auch wenn es dabei für die dafür etwas zu junge Leserin eine kleine Hürde gibt, das Sütterlin macht bisweilen Schwierigkeiten, alles zu entziffern – ein Index am Ende des Buchs löst glücklicherweise so manches Schrifträtsel.

Heinrichs Zeichnungen sind kleine Feuilletons in Bildform, Spitzen (nicht nur) gegen den universitären Betrieb, Selbstanalysen, Träumereien, Spielereien, auch Wortspielereien, ein Tagebuch ersetzende Skizzen. Den künstlerischen Vergleich scheuen müssen sie keineswegs, manche erinnern von ihrem Strich her an Picasso, Matisse oder auch Beckmann.

Mal erscheinen sie sorgsamer, mal energischer mit Kugelschreiber oder Filzstift aufs Papier gebracht, bei dem es sich oft um wohl eher zufällig ausgewähltes Gebrauchsmaterial handelt, was nochmals ganz andere Anknüpfungspunkte bietet. Mensamenüs sind das mitunter, Sitzungsprotokolle, Flugblätter, Stenoblöcke, an sich schon Zeitdokumente im weiteren Sinne, aber eben auch biografische Indizien. Sie helfen dabei, sich die Situation vorzustellen, in der sie entstanden sind, und dabei, sie in Zusammenhang zu Heinrichs Schriften zu stellen. Die Zeichnungen sind bisweilen Kommentar und Ergänzung dazu, sie lassen noch einmal leicht und spielerisch teilhaben an der Art und Weise, wie Klaus Heinrich auf die Welt blickte, feinfühlig und kritisch zugleich.

Aus: taz, 7. Oktober 2021