Gerhard Scheit – Der Antisemitismus: Politik und Vernichtung

Der Antisemitismus: Politik und Vernichtung

Gerhard Scheit

Kaum etwas, meinte Hannah Arendt, sei für den gesunden Menschenverstand so aufreizend wie die Tatsache, daß von »all den großen ungelösten politischen Problemen unseres Jahrhunderts gerade die Judenfrage die zweifelhafte Ehre gehabt haben soll, die ganze teuflische Maschinerie eines totalitären Herrschaftsapparates in Gang zu setzen« (1986: 25). Gilt doch diese Frage in aufgeklärten Kreisen als denkbar partikular: ein Vorurteil wie so viele andere, das durch Aufklärung beseitigt werden könne.

So mußte gerade hier die Dialektik der Aufklärung ihren eigentlichen Gegenstand finden: »Zwischen Antisemitismus und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Zusammenhang.« (AGS 3: 196) Das heißt: die Bedeutung des Antisemitismus erschließt sich nur im Zusammenhang des Ganzen – wie umgekehrt die Unwahrheit des Ganzen im Antisemitismus beschlossen ist.

Der Zusammenhang wurde im totalen Vernichtungskrieg realisiert: Die ganze teuflische Maschinerie folgte der pathischen Projektion, wonach die imaginierten Juden sich überall verbergen würden – hinter allen feindlichen politischen Mächten, in Amerika wie in Rußland, an der New Yorker Wallstreet wie im Moskauer Politbüro. Totalität meint aber ebenso etwas anderes: die pathische Projektion ist keineswegs bloß ein Produkt der Propaganda, sie gründet im konkreten alltäglichen Leben jedes einzelnen, sonst hätte die Maschinerie selbst nicht funktionieren können.

Kastrationskomplex

Sigmund Freud schien es unabweisbar, »daß eine Wurzel des bei abendländischen Völkern so elementar auftretenden und sich so irrational gebärdenden Judenhasses« in den von ihm entdeckten Kastrationskomplex liege. Hatte er diesen Komplex am Fall des »kleinen Hans« studieren können, so erlaubte der Fall des jungen Philosophen Otto Weininger die Verallgemeinerung für den Judenhaß. Sie setzt jedoch voraus, daß die Kastrationsangst im späteren Leben in veränderter Form wiederkehrt – Inbegriff einer Regression unter der Herrschaft infantiler Komplexe: »Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus, denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, daß dem Juden etwas am Penis – er meint, ein Stück des Penis – abgeschnitten werde, und dies gibt ihm das Recht, denJuden zu verachten. Auch die Überhebung über das Weib hat keine stärkere unbewußte Wurzel. Weininger, jener hochbegabte und sexuell gestörte junge Philosoph, der nach seinem merkwürdigen Buche ›Geschlecht und Charakter‹ sein Leben durch Selbstmord beendigte, hat in einem vielbemerkten Kapitel den Juden und das Weib mit der gleichen Feindschaft bedacht und mit den nämlichen Schmähungen überhäuft. Weininger stand als Neurotiker völlig unter der Herrschaft infantiler Komplexe; die Beziehung zum Kastrationskomplex ist das dem Juden und dem Weibe dort Gemeinsame.« (FGW 7: 271)

Weininger kam aus jüdischem Elternhaus: d. h. er wandte die antisemitische Projektion mit allen Konsequenzen gegen sich selbst, brachte sie damit aber in einer Klarheit zum Ausdruck, wie es keinem gewöhnlichen Antisemiten möglich war: entlarvte sie darin beinahe schon. Freud mußte nur noch die philosophische Formulierung der infantilen Komplexe durchdringen, um die familialen Bedingungen der Projektion zu erkennen, die pathisch allerdings gerade dort wurde, wo sie sich der deutschen Philosophie bediente. Wenn Weininger sagt, »der echte Jude hat wie das Weib kein Ich und darum auch keinen Eigenwert« (1947: 267) – so hat Freud hier lediglich das Ich durch den Phallus ersetzen müssen – und die Diagnose vom Kastrationskomplex ist unabweisbar. Nach seiner Auffassung liegt es eben ganz allgemein in der Konstellation der Familie, daß der Heranwachsende die Drohung hört, man werde ihm das »teure Organ wegnehmen«, wenn er »sein Interesse dafür allzu deutlich betätigt. Unter dem Einfluß dieser Kastrationsdrohung deutet er jetzt seine Auffassung des weiblichen Genitales um; er wird von nun an für seine Männlichkeit zittern, dabei aber die unglücklichen Geschöpfe verachten, an denen nach seiner Meinung die grausame Bestrafung bereits vollzogen worden ist.« (FGW 8: 165)

Diese Verachtung für die Frau kann nun auch auf die Juden übertragen werden: »Die Beschneidung wird von den Menschen unbewußterweise der Kastration gleichgesetzt.« (Ebd.) Tatsächlich hat die Beschneidung, die zum jüdischen Ritus gehört, die Phantasie der Nichtjuden stets besonders angeregt und Anlaß zu argwöhnischen Vermutungen über eine spezielle Beschaffenheit der männlichen Sexualorgane von Juden gegeben. Seit dem Mittelalter etwa ist das Gerücht in Umlauf, daß jüdische Männer menstruieren. Aber die Gleichsetzung der Beschneidung mit der Kastration ist nur ein Anlaß, ein möglicher äußerer Einsatzpunkt für eine Entwicklung, die letztlich ganz unabhängig davon das antisemitische Bewußtseins prägt, da ihre Dynamik doch im inneren Verhältnis der Christen zu sich selbst, zur eigenen Geschlechtlichkeit, wie in der spezifischen Konstellation der Familie, im Verhältnis von Narzißmus und ödipalem Konflikt, zu suchen wäre: so tief und so unbewußt ist diese »Wurzel des Antisemitismus«, daß fast an jedem beliebigen, realen oder erfundenen Merkmal, mit dem Juden und Jüdinnen in Verbindung gebracht werden, das Exempel sich statuieren läßt. (Juden durften zum Beispiel keine Waffen tragen; sie galten als unfähig zu ›produktiver‹, ›schaffender‹ Tätigkeit; Feigheit und Hinterhältigkeit wurden ihnen ebenso wie Geschwätzigkeit und Verlogenheit zugeschrieben; Adorno und Horkheimer sprechen in diesem Zusammenhang von der »Gestik« einer »von Zivilisation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden« – AGS 3: 206.) Was immer an Wünschen und Sehnsüchten das männliche Bewußtsein in der wiedergekehrten Angst vor Kastration und in der regressiven Zuflucht zum Narzißmus an sich selbst nicht wahrhaben möchte und abspaltet, wird als Negatives auf sie projiziert.

Das »Weib«, sagt Weininger, ist »die bejahte Sexualität des Mannes« (1947: 217). Diese Festlegung ist die Bedingung dafür, daß der Phallus vollständig desexualisiert werden kann. Es ist der verzweifelte Versuch einer Rettung. Der Phallus wird als Fetisch der Familie, als Inbegriff des bürgerlich-kleinfamilialen Lebens beschworen, wenn Weininger seine magische Wirkung auf die Frau sich ausmalt. Dabei wird gerade von aller sexuellen Lust abstrahiert: »er ist ihr Schicksal, er ist das, wovon es für sie kein Entrinnen gibt. Nur darum scheut sie sich so davor, den Mann nackt zu sehen, und gibt ihm ein Bedürfnis danach zu erkennen: weil sie fühlt, daß sie in demselben Augenblicke verloren wäre. Der Phallus ist das, was die Frau absolut und endgültig unfrei macht.« (Ebd.) Die Angst vor der Kastration spricht sich eben darin aus, wie sehr deren Objekt verherrlicht werden muß. Die Lust aber fällt der Verherrlichung zum Opfer.

Soweit die Frau domestiziert in der Familie lebt, ist eine solche asexuell übersteigerte Verherrlichung offenkundig nicht nötig: die infantilen Komplexe sind scheinbar gebannt. Die antisemitische Projektion jedoch verrät, wie es in Wahrheit darum steht. Die bloße Existenz der Juden bedeutet für den Antisemiten immer so etwas wie die Entfesselung der Ängste, die er im ehelichen Zusammenleben bewältigt glaubt. Der Jude oder die Jüdin – das ist die abstrakte Frau; ein Wesen, losgelöst von jedem familialen Zusammenleben, das darum unerkennbar und unheimlich in seiner Geschlechtlichkeit geworden ist – ein Unwesen. Der Jude ist das Menetekel der Sexualität als ein eigenes Volk projiziert – die »Gegenrasse«: so darfst du nicht werden, sonst bist du kein richtiger Mann, kein menschlicher Mensch, kein echter Deutscher mehr. »Dies ist es, was der Arier dem Juden zu danken hat; durch ihn weiß er, wovor er sich h üte: vor dem Judentum als Möglichkeit in ihm selber.« (265)

Diese Möglichkeit, die dem Antisemiten immer ganz ungreifbar vorschwebt, ist die Gefahr, zu wenig ›männlich‹ zu sein. Demnach wären die Frauen anders antisemitisch als die Männer: Sie sind im Sinne Freuds judenfeindlich, soweit sie sich mit dem Mann identifizieren, dessen Judenhaß übernehmen und auf diese Weise ihren »Penisneid«, die weibliche Dimension des Kastrationskomplexes, bewältigt glauben. Ihr Antisemitismus ist lediglich vermittelt über die Abspaltung, die im männlichen Bewußtsein vollzogen wird. Er kann aber ebenso als unmittelbares Einverständnis mit dem Zwang gelten, den Kreis der Familie nicht zu verlassen. Denn die nichtjüdische Frau fühlt sich, je mehr sie an sich die ›Weiblichkeit‹ – »bejahte Sexualität« – akzeptiert, in die Nähe der Juden gerückt. Sie gilt – im Unterschied zum Mann – als besonders gefährdet, von den Juden beeinflußt und verdorben zu werden: die offene Flanke, die dem Feind ausgeliefert ist, der über sie ins Innere der Gemeinschaft vordringt, um diese zu zerstören. Will sie diese Nähe nicht, so muß sie sich in besonderer Weise von den eigentlich Kastrierten und gleichwohl Sexbesessenen distanzieren und abgrenzen, sie umso mehr verachten, als sie – wie überall angedeutet wird – etwas mit ihnen gemeinsam haben könnte.89

Weiningers Geschlecht und Charakter hat ein bestimmtes Modell: das Buch läßt sich durchaus als entfaltete Philosophie des Parsifal studieren. Der Autor nimmt auch immer wieder direkt Bezug auf dieses Werk Richard Wagners, das in der Offenlegung wie in der Verschleierung des Kastrationskomplexes einzigartig dasteht in der abendländischen Kultur. Amfortas, der Hüter des Grals, hat seit seiner sexuellen Begegnung mit Kundry an der Seite unter dem Herzen – an derselben Stelle wie der Gekreuzigte – eine Wunde, die sich nicht mehr schließt. In der ersten Prosafassung ist sie noch deutlich als Kastrationswunde zu erkennen: Amfortas »siecht an einer unheilbaren Speerwunde, die er in einem geheimnisvollen Liebesabenteuer empfangen «; ihm wird bei seinen Auftritten außerdem symbolisch »eine hochaufgerichtete Lanze mit blutiger Spitze nachgetragen« (Wagner 1984: 88, 95). Unter dieser Verletzung leidet nun der ganze Orden der Gralsritter: er kann sich nicht mehr durch die Feier des Abendmahls erneuern, die in Wagners wahnhafter Konzeption anstelle des Geschlechtsverkehrs die physische Reproduktion der rein männlichen Gruppe gewährleistet. Die Wunde des Amfortas schließt sich nur durch den Speer, der sie schlug, so wie dieser Speer, mit dem man Jesus einst am Kreuz die Wunde an der Seite zufügte, schließlich zu dem heiligen Gral kommen muß – der Opferschale, worin das Blut von Jesus aufgefangen wurde –, damit die Ritter sich erneuern und siegreich bleiben können. Durch Amfortas‘ Abenteuer mit Kundry aber ist der Speer in den Besitz Klingsors geraten.

Klingsor ist der Feind der Gralsritter, er hatte Kundry angeleitet, Amfortas zu verführen. In manchem läßt sich eine Verwandtschaft dieses Zauberers mit »Judenkarikaturen« (Adorno) feststellen, die Wagner in früheren seiner Musikdramen gestaltet hatte, so Beckmesser in den Meistersingern und Mime, Alberich und Hagen in der Ring- Tetralogie. Auch Klingsor strebt nach dem Fetisch von Macht und Reichtum – was für Alberich der Ring, ist für ihn der Gral, die Schale mit dem Blut des Gekreuzigten. Die Assoziationen, die Klingsor mit dem Judentum verbinden, werden jedoch nicht karikaturistisch ausgemalt (so hat ihn auch Adorno nicht explizit zu den »Judenkarikaturen « in Wagners Werk gezählt): sie beruhen allein auf jener frühen Tradition, die Juden mit Zauberern in Zusammenhang bringt; oder spekulieren mit der Nähe des Judentums zum Osten, indem sie Klingsors Ambiente orientalisch ausmalen; sein »Zauberschloß« ist im Gegensatz zur Burg der Ritter »dem arabischen Spanien zugewandt anzunehmen«, also jenem Spanien, in dem die Juden in Frieden und relativem Wohlstand leben konnten. Abgesehen von der inneren Unruhe, die Klingsor im Musikalischen zugeschrieben wird, konzentriert sich die Stigmatisierung der Physis bei diesem orientalischen Zauberer eigentlich auf ein einziges Merkmal: Klingsor ist kastriert. Es heißt, er habe sich »selbst verstümmelt, um die sinnliche Sehnsucht in sich zu ertödten, welche zu bekämpfen durch Gebet und Busse ihm nie vollständig gelungen sei« (Wagner 1984: 90). An ihm ist realisiert, was allen Gralsrittern droht, wenn sie sich mit Kundry einlassen. Er hat Amfortas »dieselbe Schmach zugedacht, die er sich einst selbst in rasender Verblendung zugefügt« (98).

Aber Wagner beläßt es im Falle Amfortas‘ bei einem Menetekel. Der Gralsritter darf Klingsor und dem »wilden Weib« Kundry nicht wirklich gleichgemacht werden. Von Kundry »abseits gelockt«, wurde er »tückisch von Bewaffneten überfallen …, die ihn binden u. zu Klingsor führen sollten: mit Mühe habe er sich gewehrt, und zur Flucht gewendet, jenen Speerstich in die Seite erhalten, an dem er nun siecht, und von dem ihm nichts zu heilen vermag« (90 f.). Damit gelang Amfortas zwar die Flucht und die Kastration wurde noch einmal verhindert, aber die Gralsritter sind angeschlagen und entscheidend geschwächt: der Speer ist in Klingsors Besitz gekommen, ohne ihn kann jenes Ritual der Gralsritter nicht stattfinden, die Wunde des Amfortas sich nicht schließen. Das Gralsritual wird für Amfortas hinfort zur Qual – mythisch dargestellte Impotenz, die offenkundig von der Kastrationsangst herrührt.

Die Zauberkunst Klingsors wird als Anspielung auf die Macht des Geldes in Szene gesetzt. Nur einmal gibt sie sich als solche auch zu erkennen – in einer Metapher, womit der Zauberer über die Ritter höhnt: »Feil sind sie alle, / Biet‘ ich den rechten Preis…« (Wagner 1914: 207) Das Geld, das Klingsor anbietet, ist die Frau: »bejahte Sexualität«. Durch sie gelangt er in den Besitz des Speers, durch siewill er den Orden der Gralsritter entmannen. Ähnlich wie Alberich, an den er unter allen Wagnerschen Figuren noch am meisten erinnert, hat Klingsor der Liebe abgeschworen – aber eben radikaler: er hat sich selbst entmannt, um sich unangreifbar zu machen. Darum vermag Klingsor andererseits den Geschlechtstrieb vollkommen zu instrumentalisieren und animiert auf seiner Burg, in einem Zaubergarten, seine Blumenmädchen und Kundry, die keuschen Ritter zu verführen. Auf einem Notenblatt, worauf Wagner das den Blumenmädchen zugeschriebene, sogenannte Kose-Motiv – »Komm! Holder Knabe!« – notiert hat, findet sich die Bemerkung: »amerikanisch sein wollend« (und wer die Musik der US-Revuefilme noch im Ohr hat, kann darüber staunen, daß Wagner den gewünschten Ton offenbar getroffen hat).

Kundry, das »wilde Weib«, ist die ewige schöne Jüdin. Sie verdirbt nicht nur die Gralsritter durch geschlechtlichen Kontakt, sie ist in aller Deutlichkeit Ahasver nachgebildet. Einst hat sie den Gekreuzigten verlacht – schlimmste Kränkung für den Narziß –, und seither ist sie zu ewigem rastlosem Leben verflucht. Erlösung erwartet sie sich – darin liegt der Fluch – gerade durch die unheilige, die sexuelle Verbindung mit den Gralsrittern. Sie verkörpert, was die Gralsritter im Namen der Reinheit sich verbieten: den Trieb. In der Polarität von Klingsor und Kundry kommen die beiden Extreme zum Ausdruck, die Antisemiten dem Judentum zuschreiben: impotent und geil zugleich zu sein. Aber es gibt auch eine heilige Verbindung, die Kundry zuletzt wirklich »erlöst«: Parsifal, der unschuldige Tor, der reine Narziß und unmittelbare Nachfolger des Heiland, schafft diese Verbindung, indem er Kundry, allerdings nach schweren inneren Kämpfen (»Wie alles schauert, bebt und zuckt / In sündigem Verlangen«), sexuell entsagt – an die Mutter (»Die Mutter, die Mutter konnt‘ ich vergessen! «) und Amfortas (»Die Wunde!«) denkend. »Die Kastration, die sich dem Subjekt aufdrängt, wenn es ins Himmelreich gelangen will, schreibt sich in die Wahl der reg ressiven Lösung für den Narzißmus ein: in die Entscheidung für die Reinheit.« (Grunberger/Dessuant 2000: 158)

Damit bricht die Macht Klingsors zusammen. Der äußeren Vernichtung des Zauberers korrespondiert die innere Kundrys. Wenn sie, die nach dem Zusammenbruch von Klingsors Macht bereits musikalisch degradiert ist und am Beginn des dritten Akts außer zu stöhnen und zu schreien nur »dienen … dienen« zu stammeln vermag, wenn nun diese Kundry von Parsifal getauft wird, dann verkündet die Musik, daß sie »zur Vernichtung getauft« wird (Holland 1984: 27). Der Vorgang der Taufe leitet unmittelbar zum »Karfreitagszauber« über: mit einem Schlag wendet sich Parsifal von Kundry ab und blickt mit »sanfter Entzückung auf Wald und Wiese«, welche »jetzt im Vormittagslichte leuchten.« Der wahre Zauber kann beginnen, der Narzißmus ist vollendet: die Natur und die Männer sind von Kundry erlöst. Die ewige, schöne Jüdin ist musikalisch bereits tot, auch wenn sie als Gespenst, als bloße Bühnenfigur, den ganzen Akt hindurch weiter existiert – als wollte Wagner ihren Tod als Voraussetzung der Erlösung die ganze Zeit hindurch präsent halten. Erst kurz bevor der Vorhang fällt und zu den Worten »Erlösung dem Erlöser«, sinkt auch ihr Bühnenschatten »entseelt zu Boden.«

Die Tatsache, daß eine solche Handlung in Deutschland und von einem Deutschen erfunden worden ist und sich, was Totalisierungder antisemitischen Projektion betrifft, nichts Ähnliches in der Kultur anderer Nationen finden läßt, ist – trotz aller Wagner-Kritik – bisher nicht wirklich ins Bewußtsein gerückt, damit auch die Frage, die Wagner selbst sich gestellt hat: Was ist deutsch? Was ist deutsch, wenn nicht diese alles erfassende und bis zum letzten durchgehaltene Vernichtungsphantasie.

Mit dem Ende von Klingsor und Kundry kann der Reproduktionszyklus der narzißtischen Gralsritter wieder ungestört funktionieren – jenes gespenstische Abendmahl, das anstelle des Geschlechtsverkehrs stattfinden soll: Der Speer, mit dem der Körper des Gekreuzigten einst verletzt worden ist, kommt zur Schale, die dessen Blut enthält – die wahre »Erleuchtung«, »hellstes Erglühen« des Grals wird möglich. Bei den folgenden Zeilen wird jedoch ebenfalls verständlich, warum Nietzsche meinte, der Parsifal sei »ja ein Operetten-Stoff par excellence « (1999 a: 430) – nach bestandenen sexuellen Abenteuern knallen die Sektkorken: »Den heil‘gen Speer – / ich bring‘ ihn euch zurück«, singt Parsifal, »den Speer vor sich erhebend … Alles blickt in höchster Entzückung auf den emporgehaltenen Speer, zu dessen Spitze aufschauend Parsifal in Begeisterung fortfährt: Oh! Welchen Wunders höchstes Glück! – / Der deine Wunde durfte schließen, ihm seh ich heil‘ges Blut entfließen / in Sehnsucht nach dem verwandten Quelle, / der dort fließt in des Grales Welle!« Alle singen: »Höchsten Heiles Wunder: Erlösung dem Erlöser.« (Wagner 1914: 231)

Aber diese Operette des deutschen Blutes kostet der schönen Jüdin das Leben. Parsifal bedeutet: Mythisierung des Phallus, wahnhafte Vorstellung einer rein phallischen Sexualität, die noch das Physische des Triebs verleugnet. Entsinnlichung des Körpers (die bildende Kunst der Naziära hat solche gefrorenen Leiber massenhaft fabriziert)90, Sexualität bei gleichzeitiger Verneinung der Sexualität.91 Nur so wird gerettet, was Freud als die »Herrennatur« des Führers beschrieb, also des Objekts, das der Massenmensch an die Stelle seines Ichideals setzt: »absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbständig« (FGW 13: 138). Absolut narzißtisch heißt: Vernichtung. Der Inzest, der bereits Siegfried (im Ring) gezeugt hat, wird auf solche Weise vollendet, statt Sperma – Blut. Darin werden die Deutschen, nachdem vom Physischen bereits abstrahiert wurde, dann doch wieder konkret: »Heldentodgeilheit« (Karl Kraus).

Es ist die ›Sexualität‹ des Selbstopfers. Parsifal führt das Christentum an seinen Ursprung zurück und zugleich über sein Ende hinaus. Das Blut, das geschützt werden muß, steht in gewisser Weise für die Arbeit, wie sie vormals die Identität des Schwert schmiedenden Siegfrieds der Ring-Tetralogie und des Schuhe nagelnden Hans Sachs der Meistersinger ausgemacht, den Helden mit seinem göttlich entsprungenen Stamm und den Handwerker mit seiner deutschstämmigen Zunft verbunden hat. Nun aber ersetzt das Blut alle diese Funktionen der Identitäts- und Gemeinschaftsbildung. Das Opfer garantiert die Einheit.

Als die Soldaten der deutschen Wehrmacht die allseitige Vernichtung über die Welt verbreiteten, ging die Kastrationsangst in einer Weise um, die selbst Freud nicht ahnen konnte. ›Der Jude‹, der hinter den feindlichen Mächten steckte, verfolgte nicht zuletzt das Ziel, die deutschen Männer zu entmannen. Aber die Soldaten der Wehrmacht waren keine Wagnerischen Gralsritter. So ließ der Generalstab Bordelle einrichten, Prostituierte zwangsverpflichten und ärztlich überwachen. Die Truppe wurde auf Schritt und Tritt begleitet, mit Belehrungen von den Vorgesetzten, Kontrollkarten und Anordnungen – als sollte der Ritus des Parsifal in die Praxis des normalen Geschlechtsverkehrs rückübersetzt werden: »Nach Verkehr Abstreifen des Gummischutzes, ohne dass seine Außenseite mit den Fingern oder Eichel und Harnöffnung in Berührung kommt. Dann gründliche Reinigung der Hände und Geschlechtsteile, danach Harn lassen.« (Zit. n. Maiwald/ Mischler 1999: 198) Trieb, das hieß Gefahr »der Rassenschande, der tückisch sich einschleichenden Geschlechtskrankheit, des Ansehensverlustes im Besatzungsgebiet schließlich, wenn die Vergewaltigungen überhand nahmen; als abgeführter, mit der helfenden Hand der Volksgemeinschaft bewältigter aber bedeutete er Schönheit – in der Befriedigung darüber, zum Wohle aller am Frauenkörper masturbiert zu haben, ohne Flecken zu hinterlassen.« (Dehnert/Quadfasel/ Witte 2003: 26)

Personifizierung des real Abstrakten

Der Antisemitismus, so Otto Fenichel, ist »eine Verdichtung der widersprüchlichsten Bestrebungen: eines Aufruhrs der Triebe gegen die Obrigkeit sowie einer gegen das eigene Selbst gerichteten, grausamen Unterdrückung und Bestrafung für diese Rebellion. Im Unbewußten der Antisemiten verkörpern die Juden gleichzeitig das, wogegen sie gern rebellieren möchten, und die rebellische Tendenz in ihnen selbst« (1993: 45). Dieser Möglichkeit zur Verdichtung der widersprüchlichsten Bestrebungen, die durch den Kastrationskomplex ebenso vorgebildet ist, wie auf ihn antwortet und darin die innerste Struktur des Christentums – von der Polarität zwischen Jesus und Judas bis zur spezifischen Rolle des Teufels – bestimmt, verdankt der antisemitische Haß zweifellos auch seine politische Karriere. Hier handelt es sich aber um eine Art gesellschaftlicher Verdichtung, die mit psychoanalytischen Begriffen nicht mehr faßbar ist.

Moishe Postone hat in seinem Aufsatz über »Antisemitismus und Nationalsozialismus« dargelegt, daß im Dritten Reich die Juden nicht nur – wie von alters, d. h. vom Christentum her – mit dem teuflischen Geld, der Zirkulationssphäre, sondern mit dem »Kapitalismus« überhaupt, oder genauer: mit allem, was an ihm als Abstraktes hervortritt, gleichgesetzt werden; daß also der moderne Antisemitismus als ein »Antikapitalismus« in einem umfassenderen Sinn zu begreifen wäre – als ein Antikapitalismus, der die neuen Produktivkraftentwicklungen durchaus integriert. »Die positive Hervorhebung der Natur, des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals… Diese Form des ›Antikapitalismus‹ erscheint daher nur so, als ob sie sehnsüchtig rückwärtsgewandt sei; als Ausdruck des Kapitalfetischs drängt sie in Wirklichkeit vorwärts. Sie trittauf im Übergang vom liberalen zum organisiert industriellen Kapitalismus. Diese Form des ›Antika pitalismus‹ beruht also auf dem einseitigen Angriff auf das Abstrakte. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit als begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die gilt, daß die wirkliche Überwindung des Abstrakten – der Wertseite – die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt. Statt dessen findet sich lediglich der einseitige Angriff gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene, gegen das Geld- und Finanzkapital. « (1995: 37) Dieser Angriff schaffe sich die dazu nötige Personifikation: »So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus – der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird – als internationales Judentum.« (38)

Die Juden wurden »nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte Formen antikapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung tretenden abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden, und zwar nicht etwa, weil die Juden bewußt mit der Wertdimension identifiziert worden waren, sondern vielmehr deshalb, weil durch den Gegensatz seiner konkreten und abstrakten Dimensionen der Kapitalismus selbst so erscheinen konnte. Deshalb geriet die ›antikapitalistische‹ Revolte zur Revolte gegen die Juden.« (Ebd.) Steht also der Rassistin dieser zum Wahnsystem hypostasierten Ökonomie auf dem Standpunkt des abstrakten Werts und phantasiert die ›Minderwertigen‹ als Natur, die zu unterwerfen und in die Form des Gebrauchswerts zu zwingen wäre, so nimmt darin der Antisemit umgekehrt die Position des konkreten Gebrauchswerts ein und personifiziert den Tauschwert, der ihn als stummer Zwang überwältigt, in Gestalt des Juden. Der eine bildet jeweils die notwendige Ergänzung des anderen, soll der Gegensatz, der in der Ware liegt, nicht bewußt werden: Vexierbild des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft.

Moishe Postone versucht in gewisser Weise, den Ursprung desAntisemitismus in der Ökonomie der Gesellschaft zu isolieren. Daß Kapitalismus »so erscheinen konnte«, wie der Antisemit ihn wahrnehmen und ausagieren möchte; daß darum die antikapitalistische Revolte zur antisemitischen »geriet«: solche Formulierungen geben zu erkennen, wie nahe dabei die Erklärung einer Rationalisierung der antisemitischen Projektion kommt. Der theoretische Ansatz verkennt, daß es eines nicht-automatischen Subjekts, einer – mit Marx gesprochen – »gesellschaftlichen Tat« bedarf, damit der »Kapitalismus« erscheinen kann. Wenn der Antisemitismus, wie Joachim Bruhn schreibt, »eine bürgerliche Gesellschaft ohne kapitalistische Krise, eine Gesellschaft bürgerlicher Subjekte ohne Markt, ohne Konkurrenz « halluziniert, wenn er »das Bedrohliche an der Konkurrenz und an der Akkumulation, die sein Leben ist«, abspaltet und »der Willkür eines Anti-Subjekts, eines ›Gegenvolks‹« zurechnet, dann ist das »bürgerliche« dieses halluzinierenden Subjekts »eine Tautologie, denn die Rede ist vom juristischen Subjekt« (Bruhn 1998: 13). Der »Kapitalismus « wird immer nur durch den Staat hindurch wahrgenommen – und nicht unabhängig von ihm, gewissermaßen kapitalunmittelbar. Ein Drittes ist Bedingung, daß der Gegensatz von Konkretem und Abstraktem sich überhaupt niederschlägt: die gesellschaftliche Tat der Identifikation, die Einheit des einzelnen Bürgers mit dem allgemeinen Souverän.

Der Staat ist das A priori der antisemitischen Revolte gegen das Kapital, die Bedingung der Möglichkeit, Personifikationen des ›Kapitalismus‹ zu schaffen – eine Kritik des Antisemitismus darum nur möglich, wenn diese Bedingung selbst zu ihrem Gegenstand wird. Indem er der Frage nachgeht, warum gerade die Juden zur Personifikation des real Abstrakten ›auserwählt‹ worden sind, überschreitet Postone bereits die Grenzen seiner Theorie. Denn hier nicht vom Staat zu sprechen, ist schlechterdings unmöglich: »In Europa war … die Vorstellung von der Nation als einem rein politischen Wesen, abstrahiert aus der Substantialität der bürgerlichen Gesellschaft, nie vollständig verwirklicht. Die Nation war nicht nur eine politische Entität, sie war auch konkret, durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte Traditionen und Religion bestimmt. In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion.« Darum, so läßt sich mit Postone folgern, wurde die »Realität der Abstraktheit, die nicht nur die Wertdimension in ihrer Unmittelbarkeit kennzeichnet, sondern auch mittelbar den bürgerlichen Staat und das Recht, … genau mit den Juden identifiziert« (1995: 39).

Unklar bleibt, worin die vermeintliche Konkretheit der Nation, die Postone supponiert, nun wirklich besteht – an der also die emanzipierten Juden nicht teilhaben. Diese Konkretheit der Nation existiert nicht an sich, sie ist nicht urwüchsig, nicht einmal gegeben wie der Familienzusammenhang, sie ist selbst bereits sekundäre Konkretheit – vermittelt über die Vorstellung vom Abstrakten. Sie ergibt sich überhaupt erst aus dem ideologischen Vermögen, die Juden als das Abstrakte an die Wand zu malen. Das aber ist ein Vermögen des Subjekts, das sich an der Realität des Staates ausbildet – in den vielfältigen Versuchen, diese Realität, die ja doch die je eigene Unterwerfung beinhaltet, psychisch zu bewältigen.

Das Problem von Postones theoretischem Versuch liegt letztlichdarin, daß er Ökonomie und Staat wie Basis und Überbau denkt, den Staat aus der Ökonomie ableitet, während der Staat selbst nur als Einheit der Ökonomie zu denken wäre, so wie das Recht die Einheit von Warenbesitzer und Ware darstellt.92 Als Überbau gesehen, spiegelt der Staat die Basis bloß wider und verdoppelt oder ergänzt die bereits darin vorhandene Abstraktion. Als Einheit aber betrachtet, könnte er als die unabdingbare Voraussetzung antisemitischer Personifikation begriffen werden. Wie das Verhältnis zum jüdischen Wucherer in der frühen Phase des Handelskapitals bereits ein bestimmtes Verhältnis zur Obrigkeit einschloß, so ist unterm entwickelten Kapitalverhältnis das Bewußtsein, Angehöriger einer Nation zu sein, conditio sine qua non der antisemitischen Projektion geworden.

Abstrakter Staatsbürger und konkreter Deutscher

Wenn Hannah Arendt für das 19. Jahrhundert den Anspruch der Antisemiten, über den Parteien zu stehen, registriert, dann schließt sie daraus, daß es sich um eine »klare Kriegsansage an den Nationalstaat « handle, »wie wir sie später unter dem Namen der faschistischen Bewegung in ganz Europa kennen«. Charakteristisch für die zahllosen Programme der Antisemitenvereine sei, daß sie »ihren revolutionären Elan … gegen die Staatsmacht als solche richteten und nicht gegen eine bestimmte Klasse oder deren Einfluß im Staatsapparat. Worum es ihnen ging, war nicht eine revolutionäre Neuordnung der Gesellschaft, sondern die Zerstörung des politischen Gefüges durch eine Partei, nicht, oder jedenfalls nicht ausschließlich, die Beseitigung der Juden, sondern das ›Instrument des Antisemitismus‹ für die Beseitigung des Staates, wie er im Nationalstaat verkörpert war.« (Arendt 1986: 82 f.) In dieser »Staatsfeindlichkeit« spricht sich jedoch – was Arendt nicht wahrhaben möchte – ein besonders inniges Verhältnis zum Staat aus.

Mit Moishe Postones Antisemitismus-Kritik läßt sich dieses Verhältnis ebensowenig fassen. Es war Ulrich Enderwitz, der an dem theoretischen Versuch Postones die falsche Abstraktion vom Staat kritisiert hat: der nationalsozialistische Antisemitismus werde darin auf allgemeinste kapitalistische Strukturbedingungen zurückgeführt, er erscheine als ein ebenso geschichtslos unvermitteltes wie gesellschaftlich subjektloses Phänomen. Enderwitz wirft Postone vor, daß er aus dem nationalsozialistischen Antisemitismus »einen, qua ›Haß auf das Abstrakte‹ wie immer ›verkürzten‹, originär antikapitalistischen Affekt« mache, »diesen Effekt dann aber als frei flottierende Emotion im gesellschaftlichen Raum sich selbst überläßt, statt den Versuch zu machen, ihn einem gesellschaftlichen Träger und historischen Subjekt zuzuordnen.« Würde sich Postone um diese Zuordnung bemühen, er müßte seine These vom antikapitalistischen Kern des Antisemitismus klassen- wie geschichtstheoretisch überprüfen; das heißt, den Antisemitismus im Kontext der historischen Entwicklung einer von gesellschaftlicher Fraktionierung und Klassenkampf bestimmten bürgerlichen Gesellschaft spezifizieren, und zwar als eine Abfolge von Strategien gleichermaßen zur Unterdrückung, Kanalisierung und Umfunktionierung der aus solchem Klassenkampf resultierenden sozialen Konflikte. Vor allem aber wäre er so gezwungen, »die Rolle des seit dem 19. Jahrhundert als oberster Krisenmanager fungierenden Staates in Rechnung zu stellen und zu erkennen, wie im 20. Jahrhundert der Staat als Initiator und Schutzmacht eines die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts suspendierenden Burgfriedens zwischen Kapital und Arbeit den Antisemitismus in aller Form pachtet, um mit ihm nicht nur einem verbreiteten antikapitalistischen Affekt in der Gesellschaft Genüge zu tun, sondern auch und mehr noch der politisch-ökonomischen Ambivalenz, die er sich selber im Zuge seiner die gesellschaftlichen Kräfte kontraktiv kurzschließenden Garantiemacht- Funktion zuzieht, ein Ventil zu verschaffen. Und schließlich wäre Postone so am Ende imstande, den Antisemitismus des deutschen Faschismus in der historisch-gesellschaftlichen Spezifizierung wahrzunehmen, in der er nur auf dem Hintergrund einer jahrhundertelangen klassengesellschaftlichen Entwicklung und Auseinandersetzung sichtbar wird: als letzte, mörderisch fehlerleistungshafte Ausdrucksform einer durch ökonomische, politische und ideologische Verdichtung, Verschiebung und Entstellung in ihr Gegenteil, in blanke Affirmation, verkehrten sozialen Widerstandskraft, oder anders gesagt, als agonal verschwindendes Symptom eines im katalytischen Ferment der Staatsfunktion zur Reaktion gebrachten – will heißen, konterrevolutionär gewendeten – revolutionären Potentials« (Enderwitz 1993: 46).

Verselbständigt sich aber bei Postone die Ökonomie gegenüber dem Staat, so bei Enderwitz der Staat gegenüber seinen Bürgern. Als autonomer Krisenmanager agiert dieser Souverän, schaltet und waltet, gängelt die Bürger durchs antisemitische Band, verkehrt das revolutionäre Potential und den klassenkämpferischen Widerstand ins Gegenteil – dabei kritisierte Enderwitz doch Postones Auffassung vom originär antikapitalistischen Affekt des Antisemitismus. Das Problem, das damit verdrängt wird, besteht darin, daß jenes Potential sich überhaupt erst in der Zerschlagung antisemitischer Projektion als wirklicher Widerstand und als revolutionäre Kraft erweisen müßte.

Das Bürgertum ruft bei Enderwitz den Staat auf den Plan, sei‘sgegen das Proletariat oder zur Überwindung der Krise, büßt aber darin seine eigene Macht ein. Der Staat selbst wird zum Subjekt, das auch noch das Proletariat zu absorbieren vermag, um die Krise zu bewältigen; der Antisemitismus erscheint als »Erziehungsinstrument« fürs machtlos gewordene Bürgertum (Enderwitz 1998 b: 108) wie als Mittel zur Integration der ursprünglich staatsfremden Arbeiterklasse. Diese Reduktion des Antisemitismus auf ein handhabbares Werkzeug ist der Preis, den Enderwitz zahlen muß, damit er den Staat als Subjekt vom Staatssubjekt, von den Bürgern selber, abheben kann. Das führt zu einem eigenartigen, nicht reflektierten Widerspruch in der Darstellung der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden, bei der immerhin zuletzt doch eine Entlastung der deutschen Bürger herausspringt. »Dabei kann die Ungeheuerlichkeit, daß eine bloß symbolische Aktion praktisch mit allgemeiner Duldung beziehungsweise Zustimmung in der Ermordung von Millionen Menschen resultieren, daß ein symptomatisches Verhalten, ohne groß auf Protest oder Widerstand zu stoßen, die Gestalt eines ebenso bürokratisch geordneten wie viehisch ausgetüftelten Massenmordes annehmen kann, als Indiz dafür gelten, wie sehr das pathologisch handelnde Subjekt, das am Ersatzobjekt seinen Widerspruch abreagierende faschistische Staatskonstrukt, dem Dafürhalten und Wollen der einzelnen entzogen ist, wie sehr es sich zu einem ohne Rückbezug auf die empirischen Staatsbürger, ohne Rückkoppelung an individuelle Urteils- und Meinungsbildungsprozesse prozedierenden und nurmehr seiner eigenen Irrenlogik verpflichteten Herrschaftsautomaten verselbständigt hat.« (Enderwitz 1998 b: III) Auf der einen Seite erscheint die antisemitische Verfolgung als Aktion, die mit allgemeiner Duldung beziehungsweise Zustimmung im Massenmord resultiert; auf der anderen Seite geschieht dies aber »ohne Rückbezug auf die empirischen Staatsbürger«, ohne Rückkoppelung an individuelle Urteils- und Meinungsbildungsprozesse. Auf der einen Seite mündige Bürger, die zusehen und zustimmen, auf der anderen ein Herrschaftsautomat, der nur seiner Irrenlogik verpflichtet ist.

Aber die Irrenlogik sitzt eben in jedem empirischen Staatsbürgerhirn, solange es den Staatsbürger in sich nicht ausgetrieben hat, und das Staatssubjekt selbst kann darum kein Herrschaftsautomat sein. Enderwitz beschreibt jedoch den nationalsozialistischen Staat nicht als Volksgemeinschaftsstaat, sondern ganz nach dem gebräuchlichen preußischen Modell, von dem er, was die Begriffsbildung des Volksstaats betrifft, auch ausgegangen ist. Noch der Begriff Herrschaftsautomat läßt an die alte absolutistische »Staatsmaschine« denken. Die Überlegungen zum Nationalsozialismus, die Enderwitz formuliert, erinnern unvermeidlich an die alte These sowohl des bürgerlichen wie auch des real-sozialistischen Antifaschismus von der »Verpreußung « Deutschlands, während es doch um die Verdeutschung Preußens ginge. Besser gesagt: die Schwierigkeit liegt darin zu verstehen, daß Preußen – wie Bayern oder Österreich – deutsch geworden, in der Volksgemeinschaft wahrhaft aufgegangen ist. Wenn aber das verselbständigte pathologisch handelnde Subjekt Staat im empirischen Staatsbürger existiert, dann kann auch nicht mehr einfach davon abgesehen werden, welcher Nation im einzelnen dieser Bürger angehört; dann vermag vielmehr das Wort, das diese Nation markiert, zum Begriff zu werden, der jene Einheit von empirischem Bürger und verselbständigtem Staatssubjekt überhaupt erst sichtbar macht. Das ist auch der Grund, warum antideutsche Kritik innerhalb der Linken, die sich alles vom Staat erwartet und das Volk hofiert, so sehr mißfällt: die Kritik nämlich beharrt darauf, daß der verbrecherische Staat von seinen Bürgern nicht abstrahiert werden kann – ohne darum über den Verbrechen der Bürger vom Staat zu schweigen. »Nicht nur manipuliert der Staat die Gesellschaft, indem er den gesellschaftlichen Antagonismus von Kapital und Arbeit kassiert und dafür den bürgerlichen Egoismus in Gestalt des Juden als Menetekel darstellt, sondern die Gesellschaft manipuliert vice versa auch den Staat, gibt seinem administrativen Handeln die soziale Bestimmung für den Volksgenossen und damit notwendig zugleich die Vernichtungsbestimmung für die Asozialen vor: Nicht nur erzeugt der Volksstaat das Staatsvolk; zugleich bestimmt das Staatsvolk den Volksstaat.« (Krug 2003 a: 90) Es sei darum kein Zufall, schreibt Uli Krug weiter, daß bei Enderwitz die nationalsozialistische Partei kaum je Erwähnung finde: »Jener Führerstaat war vielmehr so beschaffen, daß weniger der ›bürokratische Apparat‹ die ›völkisch-revolutionäre Bewegung simulierte und dirigierte‹, sondern eher so, daß diese sich in Staat warf, sich selbst als ›Bürokr atie‹ kamouflierte. Daß der NS-Staat gesellschaftliches Handeln nur noch als staatliches Handeln zuließ, heißt zugleich, daß staatliches Handeln nur noch am gesellschaftlichen Vorurteil sich orientiert, wahrhaft volkstümlich, zum unmittelbaren Werkzeug des staatsvölkischen Willens wird.« Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft bedeute eben nicht nur die Durchstaatlichung des zuvor mehr oder weniger autonomen gesellschaftlichen Lebens, sondern umgekehrt nicht minder die Rücknahme des zuvor mehr oder minder autonomen Staatszieles in unmittelbar gesellschaftliche Regie. »Statt, wie es das Bild des hierarchischen ›Führerstaates‹ nahelegt, Ausdruck einer durch staatlichen Terror zur Passivität verurteilten Gesellschaft zu sein, war das nationalsozialistische Regime vielmehr ein Staat, der vermittels der Partei und ihrer Organisationen sein terroristisches Potential erst voll entfaltete: Ein Staat, der die Gesellschaft komplett mobilisierte, die Konkurrenz der Marktsubjekte in den Staat selber hineintrug. Diese schlug mittels des Hitlerschen Systems der Improvisationen, der unklaren Hierarchie, der kurzen Wege, der persönlichen Gefolgschaften, des Standrechts etc. als Vernichtungsvorhaben auf ihren in bekannter Weise exterritorialisierten ›Feind‹ durch; die zur staatlichen Veranstaltung gewordene Konkurrenz der Behörden, Organisationen, Kompetenzen, Potentaten ist einer der wichtigsten Treibsätze der alptraumhaften, strändigen und maßlosen Radikalisierung des Regimes.« (91 f.)

Opfer und Selbstopfer: die politische Einheit

Mit der »Bereitschaft zum Nichts, welches der Tod ist, verstanden als Opfer des Lebens an einen Staat, dessen eigene ›Voraussetzung‹ schon das Entscheidend-Politische ist« (Löwith) – mit dieser Bereitschaft wird der empirische Bürger selbst zum Element des verselbständigten Souveräns, er wird mit dem Staat identisch. Solange es ein Opfer im alten Sinn ist, eines, das zu einem einzelnen bestimmbaren Zweck geschieht, dem somit eine gewisse, wenn auch phantastische, magische Rationalität von Mittel und Zweck zugehört, ist der empirische Staatsbürger von der Irrenlogik des Souveräns nochin irgendeiner Form zu differenzieren. Die Übergänge sind fließend – wer sich aber bereit findet, der Vernichtung jeden anderen Zweck, der noch in der Reproduktion der Gesellschaft seinen Grund hat, unterzuordnen, dessen Identität mit dem Souverän kennt keine Grenzen mehr.

Diese Grenzen wußte der westliche Nationalismus noch zu ziehen. Wenn Ernest Renan 1882 die Frage Was ist eine Nation? beantwortet, dann kann auch er nicht auf die Bestimmung des Opfers verzichten: »Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktumzusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist … ein täglicher Plebiszit« (Alter 1994: 46). Der Zusammenhang, in dem sich der französische Religionshistoriker auf das Opfer besinnt, läßt keinen Zweifel, daß es dabei gerade um den Wunsch geht, das Leben fortzusetzen, so wie die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft immer nureine Übereinkunft ihrer einzelnen Mitglieder sein kann und nicht eine biologische Substanz, ein bloßes Schicksal, das wahre Sein.

Die Heideggersche Philosophie ist der vielleicht vollkommenste Ausdruck für den Gegensatz, wie ihn die deutsche Ideologie hervorgebracht hat. Am Höhepunkt der Vernichtung, im Jahr 1943, legt sie offen, daß jenes »Sein zum Tode« aus den früheren Schriften des Philosophen – die Auffassung der Zeit selbst aus Sein und Zeit – immer schon Ontologisierung des Opfers war, das heißt: das Opfer über alles Leben stellte. Nur daß Heidegger mit seinem Begriff des Seins als »dem Anderen des Seienden« weiterhin ganz unpolitisch denkt – und so, ohne auch nur das Geringste vom Kapital zu wissen und wissen zu wollen, das Verhältnis von Wert und Gebrauchswert, Abstraktem und Konkretem, das eine immerzu dem anderen opfernd, auf besonders eindringliche Weise sich zu eigen macht. Diese Freiheit des Opfers wird als »Abschied vom Seienden auf dem Gang zur Wahrung der Gunst des Seins« (Heidegger 1996: 310) beschworen: »Statt mit dem Seienden auf das Seiende zu rechnen«, verschwende sich das wesentliche Denken »im Sein für die Wahrheit des Seins«: Das Opfer, worauf dieses Denken zielt, ist »heimisch im Wesen des Ereignisses, als welches das Sein den Menschen für die Wahrheit des Seins in den Anspruch nimmt. Deshalb duldet das Opfer keine Berechnung, durch die es jedesmal nur auf einen Nutzen oder eine Nutzlosigkeit verrechnet wird, mögen die Zwecke niedrig gesetzt oder hoch gestellt sein. Solches Verrechnen verunstaltet das Wesen des Opfers. Die Sucht nach Zwecken verwirrt die Klarheit der angstbereiten Scheu des Opfermutes, der sich die Nachbarschaft zum Unzerstörbaren zugemutet hat… Das Opfer kann durch das Werken und Leisten im Seienden zwar vorbereitet und bedient, aber durch solches nie erfüllt werden.« (311)

Allein in der konsequenten Abweisung jeder einzelnen, begrenzten Zwecksetzung kann die Entscheidung fallen, die Souveränität absolut verwirklicht und die Einheit des Ganzen gewaltsam geltend macht; oder besser gesagt: jene Abweisung ist bereits diese Entscheidung. Als totale gewordener Zweck führt sie ad absurdum, von Zweck noch zu reden. Darum spricht Schmitt von der Entscheidung um ihrer selbst willen; darum ist für Heidegger das Sein immer das Andere des Seienden. Für das wahre Opfer gibt es keinen Zweck; sich dem Sein zu opfern, kann niemand genötigt werden: in ihm »überantwortet« der Mensch sein geschichtliches Wesen »dem Einfachen der einzigen Notwendigkeit, die nicht nötigt, indem sie zwingt, sondern die Not schafft, die sich in der Freiheit des Opfers erfüllt. Die Not ist, daß die Wahrheit des Seins gewahrt wird, was immer auch dem Menschen und allem Seienden zufallen möge. Das Opfer ist die allem Zwang enthobene, weil aus dem Abgrund der Freiheit erstehende Verschwendung des Menschenwesens in die Wahrheit des Seins für das Seiende. Im Opfer ereignet sich der verborgene Dank, der einzig die Huld würdigt, als welche das Sein sich dem Wesen des Menschen im Denken übereignet hat, damit dieser in dem Bezug zum Sein die Wächterschaft des Seins übernimmt.« (309 f.)

Die »einzige Notwendigkeit«, die nicht als Zwang empfunden wird, ist die im empirischen Warenhüter stets vorhandene und immer wieder aufs Neue entfachte Not, vollkommen überflüssig zu sein. Sie erfülltsich nur, wenn der Warenhüter diese Überflüssigkeit als Staatsbürger und Volksgenosse ebenso vollkommen bejaht – die Wächterschaft des Seins selbst übernimmt. Das hat niemand anders als die Heidegger- Schülerin Hannah Arendt mit einiger Verblüffung als wesentliches Element »totaler Herrschaft« erkannt: »Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst nicht ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen, das wohl den einzelnen dazu bewegen konnte, sein Leben in die Schanze zu schlagen, aber mit dem, was wir gewöhnlich unter Idealismus verstehen, nicht das geringste zu tun hatte… Mit dem Verlust der gemeinsamen Welthatten die vermassten Individuen die Quelle aller Ängste und Sorgen verloren, die das menschliche Leben in der Welt nicht nur bekümmern, sondern es auch leiten und dirigieren. Sie waren in der Tat nicht ›materialistisch‹ und reagierten auf materialistische Argumente nicht mehr, weil selbst rein materielle Vorteile in dieser Situation ein gut Teil ihres Sinnes verloren.« (1986: 511)

Wenn das Wesen des Christentums darin besteht, das Selbstopfer als das einzig wahre Opfer einzuführen, so ist deutsche Ideologie dadurch bestimmt, auf solcher Basis die Freiheit des Opfers als das nationale Selbstbewußt sein der Staatsbürger zu begründen. Schonbei Nietzsche, der den Souverän im »Übermenschen« mythisierte und sich dabei doch als »Antichrist« stilisierte, wurde dieser innere Zusammenhang deutlich: Die ganze Polemik gegen das Christentum erweist sich als nichtig, wenn es darum geht, die Einheit der Gewaltzu schmieden, wenn es ums Opfer geht. Der Übermensch, von dem im Zarathustra offen gesprochen wird, taucht bereits inkognito in der Morgenröte auf: er entspringt einer Liebe zum Nächsten, die sich eben dadurch bewährt, den Nächsten zu opfern – als Selbstzweck. Aber dieses Selbst wird als Wir beschworen, als Gemeinschaft, die an die Stelle des Fürsten tritt. »Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern? – so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten, ›der allgemeinen Interessen wegen‹, wie man sagte. Aber auch wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle? — Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung, als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl oder wehe thut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir und die Nächsten einbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des Glückes. – Zuletzt, wenn diess sogar – – doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden. « (Nietzsche 1999 b: 137 f.) Das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht, positive Vermehrung des Glücks besteht nur noch in bloßer Destruktivität: Vernichtung um ihrer selbst willen als »Ja-sagen zur Welt«, so wie sie ist (amor fati), wird zum Geheimnis, worüber die Gemeinschaft sich allein mit Blicken verständigen kann. Heidegger macht daraus seine große Krämerei. Ein Blick genügt nicht mehr, Tausende Worte, darunter viele neuerfundene, sind nötig.

Aber die Vernichtung um ihrer selbst willen ist immer die Vernichtung von jemandem ganz bestimmten. So abstrakt das Opfer ist, das jeder als seine Freiheit begreift, Abstraktion vom eigenen Leben wie von allem »Seienden«, so konkret die Auswahl derer, die vernichtet werden, um dem Opfer, das keinen Zweck haben darf, doch seinen Sinn zu geben. Denn der Zweck ist begrenzt, der Sinn aber kennt keine Grenze.

Wenn Carl Schmitt 1932 formuliert, daß die »politische Einheit gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen« müsse, läßt sich darin die allgemeine Bestimmung des modernen Staates erkennen – des westlichen liberalen wie des östlichen despotischen. Sobald dieser Satz aber gleichsam umgestülpt wird, um vom einzelnen Subjekt aus die politische Einheit als dessen eigentliche Identität zu bestimmen und eben darum das Opfer des Lebens zu verlangen, tritt die Drohung, die er enthält, offen zutage. Es ist das Herzstück der deutschen Ideologie: Wer zum Opfer nicht von sich aus und unbedingt bereit ist, dessen Vernichtung wird dem Opfer Sinn geben, wenn die politische Einheit gewaltsam geltend gemacht werden soll. Festgestellt muß da nur noch werden, wer im einzelnen wie im allgemeinen prinzipiell das Opfer verweigere, und genauer auch: warum. Vor 1933 ist die Negation der Opferbereitschaft noch mit dem Liberalismus sehr undeutlich benannt: »Für den Individualismus des liberalen Denkens ist dieser Anspruch auf keine Weise zu erreichen und zu begründen« (1963: 70); die Ablehnung des Opfers gilt Schmitt als Kern eines ganzen Systems »entmilitarisierter und entpolitisierter Begriffe… Immer ist dabei zu beachten, daß diese liberalen Begriffe sich in einer typischenWeise zwischen Ethik (›Geistigkeit) und Ökonomik (Geschäft) bewegen und von diesen polaren Seiten her das Politische als eine Sphäre der ›erobernden Gewalt‹ zu annihilieren suchen, wobei der Begriff des ›Recht‹-, d.h. ›Privatrecht‹-Staates als Hebel dient und der Begriff des Privateigentums das Zentrum des Globus bildet… So wird der politische Begriff des Kampfes im liberalen Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur Konkurrenz, auf der andern, ›geistigen‹ Seite zur Diskussion…« (Ebd.)

Auf der Straße betrieb Adolf Hitler schon lange die Dramatisierung dieser Kampfansage an alle Individualisten und Privatiers, an alle, die vor dem Opfer zurückwichen: »Da war der kleine SA-Mann, ein Kämpfer. Eines Tages stellte er sich dieser jungen Bewegung zur Verfügung. Was kann sie ihm bieten? Gar nichts! Was kann sie ihm bezahlen? Gar nichts! Was muß er geben? Alles, wenn notwendig, sogar das Leben! Mein lieber Bürger! Du weißt gar nicht, wieviel das ist. Du beklagst dich oft, wenn dich jemand anspricht: Geben Sie einen Groschen. Sie sind angesprochen worden: Parteigenosse, gib das Leben! Deutschland fordert es von dir!« (Führer-Reden 1937: 23) Im Zuge der Durchführung des Winterhilfswerks wurden dann mitunter »Schmarotzer«, die nicht opfern wollten, durch die Straßen geschleift, zumindest auf »Schandbrettern« ihre Namen angeschlagen; in Dörfern und Provinzstädten eskalierten einige Aktionen insbesondere gegen spendenunwillige Reiche, so daß diese schließlich vor der aufgebrachten Menge in Schutzhaft genommen werden mußten (vgl. Grunberger 1972: 87).

Bereits in Mein Kampf findet sich die Tautologie, die in ihrer ganzen Banalität der Freiheit des Opfers und der Bereitschaft zum Nichts am genauesten entspricht: »In der Hingabe des eigenen Lebens für die Existenz der Gemeinschaft liegt die Krönung alles Opfersinnes.« (Hitler 1942: 326 f.) Ob in Heideggers philosophischer Ontologie, in Schmitts Politischer Theologie, in Hitlers Führerreden oder in den Aktionen des Mobs – immer ging es darum, das kleine mit dem großen Opfer, das alltägliche Opfer des Geldes mit dem einmaligen Opfer des Lebens zu assoziieren. Unauflösbar verbunden werden sie nur, wenn es ein Menetekel gibt: einen phantasierten Feind, ein ausgemaltes Gegen- Volk, das seinem Wesen nach die Negation des Opfers verkörpern kann, weil sein Leben selbst nur das Leben des Geldes sei.

Die Unbestimmtheit war auch bei Carl Schmitt immer nur scheinbar gewesen. Der politische Theoretiker abstrahierte von der positiven Religion und übernahm zugleich deren Denkformen, die längst bestimmt hatten, wer niemals zum Opfer bereit sei, und die dann – mit seiner tatkräftigen Hilfe – nach 1933 in politischer Konkretheit umgesetzt werden sollten. Die Juden galten dem Christentum als das Volk, das sich der Identifikation mit dem sich opfernden Jesus verweigere, nicht zuletzt weil sie ihn – der christlichen Wahnvorstellung zufolge – selber ermordet haben; die Juden galten der deutschen Nation als jenes Gegenvolk, als jene Individualisten und Volksfremde, die sich dem Anspruch des Staates auf das Leben seiner Bürger systematisch entzogen, da sie doch allein an der Ausbeutung ihrer Mitbürger, nicht aber am Ganzen der Nation Interesse hätten.

Nur der Deutsche, der sich opfert, wird nach Fichtes Reden an die Nation zum wahren Staatsbürger. Nur in ihm erscheint »Göttliches «, und »das Ursprüngliche hat dasselbe gewürdigt, es zu seiner Hülle und zu seinem unmittelbaren Verflößungsmittel in die Welt zu machen; es wird darum auch ferner Göttliches aus ihm hervorbrechen. Sodann tätig, wirksam, sich aufopfernd für dasselbe. Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzen de s wechselnden Daseins, hat für ihn ja ohnedies nie Wert gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des Dauernden; aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muß er sogar sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat.« Im »Gemüte« dieses Bürgers »lebt die Liebe des Ganzen, dessen Mitglied er ist, des Staates und des Vaterlandes, und vernichtet jede selbstische Regung« (Fichte 1845/46: 383, 431).

Soviele Juden auch von den Freiheitskriegen gegen Napoleon bis zum Ersten Weltkrieg ›für Deutschland‹ gefallen sind, die in der religiösen Denkform eingebrannte Projektion konnte von solchen Tatsachen nicht korrigiert werden, bildete diese Projektion doch selbst bereits das einheitsstiftende Prinzip der Nation. Jeder Assimilierte, jeder ›für Deutschland‹ gefallene deutsche Jude, konnte nur noch die Gefahr bestätigen, die vom Judentum ausging: nichts als Mimikry, um dem verborgenen Feind zum Durchbruch zu verhelfen, der Deutschland den Garaus machen wolle. Nur der christliche Deutsche, der sich opfert, wird zum wahren Staatsbürger – aber es muß von vornherein eben ein Christ und Deutscher sein, denn er geht mit dem Opfer in jene Ewigkeit des Volkes ein, in die er schon immer hineingeboren ward: »Dies ist seine Liebe zu seinem Volke … mit der Abstammung daraus sich ehrend.« (Fichte 1845/46: 383) Der Rekurs auf die Abstammung – die Religion oder das Blut, den Volksgeist oder die Rasse – dient immer dazu, den Antisemiten gegen den bohrenden Zweifel an der eigenen Opferbereitschaft zu stärken.

Otto Weininger, der junge Philosoph aus jüdischem Haus, richtete die pathische Projektion gegen sich selbst und schrieb mit direktem Bezug auf Fichte: der Jude habe »kein Ich« – er könne sich nicht identisch machen mit der positiven Gemeinschaft, denn er sei gekennzeichnet durch die »Unfähigkeit zum Opfer« (1947: 283). Der am meisten Bedrohte erkennt, was den Kern der Bedrohung ausmacht – auch wenn er nicht mehr die Kraft findet, sich zur Wehr zu setzen, mit dem Aggressor, wie es scheint, sich so vollständig identifizierend, daß er förmlich in den Selbstmord getrieben wird. Noch bei dem, der als Inkarnation des jüdischen Antisemitismus gilt, durchbricht aber etwas von den Geboten jüdischer Religiosität die von den nichtjüdischen Antisemiten übernommenen Begriffe: Weininger besteht auf der Unfähigkeit zum Opfer, als der einzigen Bestimmung dessen, was jüdisch ist und verwirft ebenso Religionszugehörigkeit wie Rassentheorie, ganz als ob er das Bilderverbot einzuhalten sich verpflichtet fühlt: »›Jüdisch‹ ist also eine Kategorie und psychologisch nicht weiter zurückzuführen und zu bestimmen; metaphysisch mag man es als Zustand vor dem Sein fassen; introspektiv kommt man nicht weiter als bis zur inneren Vieldeutigkeit…« (Ebd.) Ausdrücklich wird erklärt, daß unter Judentum »keine Nation und keine Rasse, keine Konfession und kein Schrifttum« zu verstehen sei: »Wenn ich fürder vom Juden spreche, so meine ich nie den einzelnen und nie eine Gesamtheit, sondern den Menschen überhaupt, sofern er Anteil hat an der platonischen Idee des Judentums.« (265)93 Soweit immerhin konnte Weininger den Antisemitismus durchschauen: die platonische Idee des Judentums ist dem Staat feindlich, der das Opfer verlange. »Dies ist es, was der Arier dem Juden zu danken hat; durch ihn weiß er, wovor er sich hüte: vor dem Judentum als Möglichkeit in ihm selber.« (414 f.)

Darin bestand die Abstraktheit, die man in den Juden personifizierte; darin bildete man sich – unter dem ganzen Schwulst von religiösen und rassistischen Invektiven – den Umstand und das Beweisstück ein, daß sie nicht konkrete Deutsche werden konnten, daß die Assimilation scheitern mußte. Die Juden erfüllten nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion – denn ihnen wurde das Entscheidende abgesprochen, das sie einzig zu konkreten Deutschen machen konnte: der Wille zum Nichts. Als jene Gruppe und jene Individuen vorgestellt, die sich dem Opfer fürs Kollektiv grundsätzlich entzogen und auf ihren individuellen Interessen beharrten, dienten sie dem christlichen und staatsbürgerlichen Bewußtsein nicht nur als Menetekel für alle liberal gesinnten Bürger, die sich dem nationalen Einheitsprinzip irgendwie widersetzten, sie waren dazu ausersehen zu personifizieren, was im Opfer niemals aufgehen wollte, ihm zuwider hartnäckig nach seinen eigenen undurchschaubaren und abstrakten Gesetzen fortwirkte: die verselbständigte Ökonomie und das universelle Recht, das Geld und das Gesetz. »Welches Volk endlich hat größere Umwälzungen mitgemacht als dieses – und ist dennoch immer als dasselbe aus den gewaltigsten Katastrophen der Menschheit hervorgegangen?« (Hitler 1942: 329; Hervorheb. G.S.)

So forderte bereits Fichte nach der Französischen Revolution, den Juden keine Bürgerrechte zu geben – denn ihnen diese Rechte zu geben, dazu sehe er »wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei« (Fichte 1973: 176); so postulierte Carl Schmitt nach der »deutschen Revolution«, nunmehr das »jüdische Gesetz« der abstrakten Gleichheit und formalen Gleichstellung aller Staatsbürger (dessen Gesetzgeber sich in einer für immer unerreichbaren Sphäre befinde, auf ewig abwesend bleibe) vollständig zu ersetzen durch ein konkretes »Rassengesetz« der absoluten Ungleichheit und substanzhaften »Gleichartigkeit« (das vom Führer gebracht und geschützt wird). Es geht darum, dem abstrakten jüdischen Universalismus und der Herrschaft des Gesetzes einen konkreten, erscheinenden Gott und die »Herrschaft des Menschen« entgegenzustellen – und der Katholik Schmitt fühlte sich berufen, die Wiederkehr von Gottes Sohn in der Gestalt des Führers zu kodifizieren. 94

Nachdem Schmitt 1935 die »Nürnberger Gesetze« schon als die »Verfassung der Freiheit« kommentiert hatte (Schmitt 1935: 1133 ff.), worin die »Stimme des deutschen Blutes« endgültig das entscheidende Kriterium der Rechtslehre geworden ist, errichtete er in der von ihm 1936 organisierten Tagung über »Das Judentum in der Rechtswissenschaft« eine geistige Rampe, an der genau entschieden wurde, wer nur als fremd, eine fremde Rasse – und wer darüber hinaus als schlechthin anders, die Gegenrasse, zu gelten habe: »Wenn wir dabei von Juden und Judentum sprechen, so meinen wir wirklich den Juden und nichts anderes.« Mache man aber »aus den Fremden einen Allgemeinbegriff, der unterschiedslos Artverwandte und Artfremde umfaßt, so kann die spezifisch jüdische Beeinflussung nicht mehr wissenschaftlich erkannt werden. Dann erscheint der Einfluß, den z. B. die italienische Musik auf unsere großen Musiker Händel, Bach und Mozart gehabt hat, in einer Reihe mit der jüdischen Infektion, die von Marx und Heine ausging.« In der »Judenfrage« gehe es immer ums Ganze: hier gebe es »überhaupt keine nebensächlichen Angelegenheiten mehr. Alles hängt aufs engste und innigste zusammen, sobald ein echter Weltanschauungskampf eingesetzt hat.« Denn die Juden könnten sich überall verbergen: der »Maskenwechsel von dämonischer Hintergründigkeit« gehört zu ihrem Wesen, und diese »Virtuosität derMimikry« ist »durch lange Übung noch gefördert« worden. (Zit. n. Gross 2000: 126-130)

Gegenstaat und Gegenvolk: Ausblick auf die pax americana

Analog zu Heideggers berühmter »Kehre« (vgl. Scheit 2001 a: 205212) weitet die »nationalsozialistische Großraumtheorie«, die Carl Schmitt am Kulminationspunkt des Zweiten Weltkriegs entwirft, das antisemitische Paradigma vom abstrakten »jüdischen Gesetz« auf die universelle, »bodenlose« Ordnung der Alliierten aus. Daß er dafür »jüdische Autoren« wie Hans Kelsen namhaft macht, ist fast schon eine überflüssige Markierung: denn alles, was er früher über Kelse ns Rechtslehre geschrieben hat, kehrt nun wieder in der Darstellung der westlichen Alliierten, deren Bild ist von dem des Judentums kaum noch zu unterscheiden, und auch hier formuliert er zunächst nur die Theorie für die Politik Hitlers, der über die USA sagte: »halb verjudet, halb vernegert und alles auf dem Dollar beruhend« (zit. n. Compton 1968: 15). Dabei mißt Schmitt allerdings der mit dem Westen verbündeten Sowjetunion (im Unterschied zu Heidegger) kaum noch wesentliche Bedeutung bei – er sieht sie 1942 gewiß schon zerschlagen von der deutschen Wehrmacht. Die Ordnung, die er schließlich mitten im deutschen Vernichtungskrieg wie den Teufel an die Wand malt, weist über den Kalten Krieg hinaus: es ist die pax americana.

Erscheint er in dieser Hinsicht als der erste Globalisierungskritiker, so knüpft er dennoch nahtlos an Vorstellungen an, die man sich in Deutschland lange vor Hitler vom Westen, insbesondere aber von den Vereinigten Staaten gemacht hatte. Man habe es hier mit einer bürgerlichen Gesellschaft ohne Staat zu tun – jedenfalls ohne den Staat, wie er in Deutschland gedacht wurde: Der »Grundcharakter« dieses merkwürdigen Gemeinwesens, so Hegel, bestehe »in der Richtung des Privatmannes auf Erwerb und Gewinn …, in demÜberwiegen des partikulären Interesses, das sich dem Allgemeinen nur zum Behufe des eigenen Genusses zuwendet. Es finden allerdings rechtliche Zustände, ein formelles Rechtsgesetz statt, aber diese Rechtlichkeit ist ohne Rechtschaffenheit, und so stehen denn die amerikanischen Kaufleute in dem üblen Rufe, durch das Recht geschützt zu betrügen.« (HW 12: 112) Ganz wie die jüdischen, fügte beflissen noch das deutsche Volksvorurteil hinzu. Tatsächlich verhält sich in Hegels System Nordamerika zu Europa ähnlich wie das Judentum zum Christentum. Es wird als eine wesentliche Stufe ins dynamische System integriert – Vorstufe des Umschlags in Versöhnung, die dann Christentum und wahre Souveränität ausmache: »Mit Europa könnte Nordamerika erst verglichen werden, wenn der unermeßliche Raum, den dieser Staat darbietet, ausgefüllt und die bürgerliche Gesellschaft in sich zurückgedrängt wäre.« Erst dann werde es »zu dem Bedürfnis eines organischen Staates kommen. Die nordamerikanischen Freistaaten haben keinen Nachbarstaat, gegen den sie in einem Verhältnis wären, wie es die europäischen Staaten unter sich sind, den sie mit Mißtrauen zu beobachten und gegen welchen sie ein stehendes Heer zu halten hätten.« (113 f.) Während Hegel den Widerspruch zwischen Osten und Westen, Europa und Amerika aufhebt, hält ihn Alexis de Tocqueville fest: in seinem BuchÜber die Demokratie in Amerika erkennt er, daß die moderne bürgerliche Gesellschaft, die er in Amerika besonders weit entwickelt sieht, »für die Errichtung des Despotismus einzigartige Möglichkeiten« biete; zugleich jedoch ahnt er etwas davon, daß diese Möglichkeiten gerade in Europa realisiert werden könnten, wenn er nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten wahrnimmt, »wie sehr die meisten unserer Fürsten sich der Vorstellungen, Gefühle und Bedürfnisse, die diese Gesellschaftsordnung entstehen ließ, bereits bedient hatten, um ihren Machtbereich zu erweitern« (2001: 340). Aber auch Tocqueville konnte nicht ahnen, daß die Art und Weise, den Machtbereich zu erweitern in Amerika und Europa durchaus differieren sollte. Die Souveränität in Nordamerika entwickelte sich ja nicht nach den Maßgaben Hegels, also nach demselben »Bedürfnis eines organischen Staats« wie in Europa, vielmehr ließ sich hier die bürgerliche Gesellschaft – auch nach der Eroberung des gesamten Raums im Westen und der Ausrottung der größten Teile der indianischen Bevölkerung – keineswegs »in sich zurückdrängen«. Sie schickte sich mit ihrer Rechtlichkeit vielmehr an, die Souveränität in Europa gewissermaßen zu überlagern. Darin unterscheidet sie sich auch vom napoleonischen Feldzug: daß ihr Ausgangspunkt ›westlicher‹ liegt – »ein reines Land der bürgerlichen Revolution«, wie Adorno sagt, »in dem diese nicht nur erfolgreich durchgedrungen ist, sondern die Voraussetzung der gesamten Gesellschaft bildet, ein Land also, dessen reale Grundlage es überhaupt gewesen ist, Gesellschaft im konsequent bürgerlichen Sinn durchzuführen und einzurichten« (Adorno 2003-04: 64). Seine Verbreitung von Rechtssicherheit und Warenverkehr ist auf feudalabsolutistische Formen von Souveränität nicht mehr angewiesen; der Souverän, der diese Formen in der amerikanischen Revolution abgeschüttelt hatte, erweist sich dadurch längerfristig als bedeutend flexibler und unabhängiger von den jeweiligen Gegebenheiten des fremden Landes, in dem er nach militärischem Eingriff nicht durch dynastische Diplomatie und bevölkerungspolitische Maßnahmen, sondern mittels Warentausch – und später Geheimdienst – Einfluß zu gewinnen trachtet. Krieg hat die US-Politik immer nur als Vorbereitung solcher Einflußnahme verstanden. Sie hat hat sich darum mit einigem Recht gegenüber der Souveränität europäischer Mächte von Anfang an als anders gelagert begriffen, so daß eine Begegnung auf gleicher Ebene für sie gar nicht in Betracht zu kommen scheint. Das war es auch, was Hegel beunruhigte: dieser Weltgeist ließ sich nicht mehr in der Figur des Herrschers bzw. im Geist des Volks verkörpern; er stellte Souveränität auf neue Weise in Frage, ohne doch selbst auf Souveränität wirklich zu verzichten.

Die USA betrieben also auf ihre praktische, kapitalistische Art die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Mit Notwendigkeit nahm Marx früh schon auf sie Bezug: er sah in den »nordamerikanischen Freistaaten« (»oder wenigstens in einem Teil derselben«) die »vollendete politische Emanzipation« (darum auch die »unendliche Zersplitterung der Religion in Nordamerika«: sie erhält »schon äußerlich die Form einer rein individuellen Angelegenheit«). Diese politische Emanzipation »ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung. Es versteht sich: Wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.« (MEW 1: 351 f.; 356) Als Sieg über die Sklavenhaltergesellschaft des Südens im Bürgerkrieg fand der erste Expansionsschub dieser Emanzipation noch auf amerikanischem Boden statt. Marx, der ihn emphatisch begrüßte95, beurteilte auch die kommende »amerikanische Einmischung in Europa« nicht ohne Sympathie: er sah sie als eine Einmischung der Zivilisation in die Barbarei, aber der »kräftigste Repräsentant des Westens« konnte eben keineswegs die Notwendigkeit der Revolution ersetzen: »Die Revolution, die das Rom des Westens niederwerfen wird, wird auch den dämonischen Einfluß des Roms des Ostens überwinden.« (MEW 9: 236 f.) Der Bruch mit Hegel, mit der deutschen Philosophie schlechthin, kommt hier am unmittelbarsten zum Ausdruck: während Hegel hofft, daß »die bürgerliche Gesellschaft« endlich auch in den Vereinigten Staaten von Amerika durch den Staat »in sich zurückgedrängt « würde, sieht Marx in deren Ausdehnung den Gang der west- lichen Zivilisation, der zwar die östliche Barbarei nicht überwinden könne, aber doch die darin praktizierte Vergöttlichung des Souveräns, den »Volksstaat« in den Köpfen zurückdrängen werde.96 Soweit er jedoch alle Hoffnungen auf das Erstarken der Arbeiterklasse setzt, übernimmt Marx nicht zufällig Hegels Prognose mit anderem Vorzeichen: Der Staat sei in Nordamerika auf bürgerliche Weise abgeschafft, weil dort »die Klassengegensätze nur unvollständig entwickelt« seien; »die Klassenkollisionen werden jedesmal vertuscht durch denAbzug der proletarischen Überbevölkerung nach dem Westen; das Einschreiten der Staatsmacht, im Osten auf ein Minimum reduziert, existiert im Westen gar nicht« (MEW 7: 288). Daraus konnte ex negativo geschlossen werden: mit dem Ende der Expansionsmöglichkeiten im Westen, verschärfen sich überall die Klassenkämpfe, und so müßte auch hier die gestärkte Arbeiterklasse ein Erstarken der Staatsmacht auf europäischem Niveau und in französischer oder preußisch-deutscher Form provozieren. Daß es anders kommen sollte; daß mit der entgegengesetzten ökonomischen Expansion in den Osten, auf dem europäischen Kontinent, etwas vom ursprünglich amerikanischen Verhältnis zum Souverän, auch wenn dieser wirklich erstarkte, bewahrt wurde, diese Gesellschaft also »im konsequent bürgerlichen Sinn« weiterhin kein Bedürfnis nach einem »organischen Staat« bekam, läßt den Fortschritt der »vollendeten politischen Emanzipation «, den der junge Marx festgestellt hatte, erst ermessen.

Was man in Europa »nur mit Schaudern nennt, die Anarchie, sie existiert hier in schönster Blüte«, schrieb ein anderer Revolutionär von 1848 aus Nordamerika: »Es gibt wohl Regierungen, aber keine Herren…« (Zit. n. Fraenkel 1959: 158) Carl Schurz, von dem dieÄußerung stammt, avancierte allerdings in wenigen Jahren zum General der Nordstaaten und schließlich zum Senator der Vereinigten Staaten. Wenn diese Karriere nicht als Widerspruch zu jener Anarchie verstanden wird, dann hat das mit der US-amerikanischen Form politischer Emanzipation zu tun: mit einem bestimmten Verhältnis des US-Bürgers zum Souverän.

Die aber, die nichts Besseres wissen, als sich einem Herrn bis hin zur Selbstaufgabe zu unterwerfen, es sei denn selbst ein solcher zu werden, und nichts Schlimmeres fürchten als die Anarchie, unterschieden noch einige Zeit zwischen den beiden Feindbildern, die ihnen jene Unterwerfung schmackhaft machen und dieses Schlimmste vor Augen führen: zwischen dem Land ohne Souverän und dem Volk ohne Land, zwischen dem Gegenstaat der USA und dem Gegenvolk der Juden. Tatsächlich hat der Antiamerikanismus, der in Europa zunächst nur von den herrschenden Schichten und Klassen gepflegt wurde, weite Kreise der Bevölkerung überhaupt erst erfaßt, soweit sie sich mit ihrem Staat als Volksstaat einig wußten.97 (Es gibt kein besseres Indiz für diese späte Verbreitung als den überwältigenden Erfolg der Wild-West-Phantasmagorien von Karl May in den deutschen Kinderzimmern; vgl. Ripplinger 2003.) Amerika ist ein wirklich existierendes Land und es ist weit weg. Anders als im Fall des Judentums, das ein Volk ohne Land und darum ganz nah ist, gibt man meistens vor, einmal viel von diesem Land gehalten zu haben, zeigt sich aber letztlich enttäuscht – und die Enttäuschung wächst im selben Maß, in dem sich seine überlegene Produktivität erweist. Im Unterschied zum Antisemitismus ging es eben von Anfang an um die Auseinandersetzung mit einer staatlichen Großmacht, um internationale Konkurrenz. Dieses Land, von dem man sich ernüchtert abwendet (vielleicht auch, weil man den Versuch nicht gewagt hat, dorthin auszuwandern), bietet nun aber verschiedene Möglichkeiten der Projektion: einmal identifizieren sich die europäischen Volksstaatsbürger mit den vertriebenen und hingemordeten Indianern oder den zunächst versklavten, dann diskriminierten Schwarzen; das andere Mal sehen sie die Amerikaner selbst durch deren alltäglichen Umgang oder sexuellen Verkehr mit Indianern und Schwarzen als kulturloses Volk an. Nikolaus Lenau, der erste große »Amerikamüde« aus Europa, fühlt in seinen Gedichten mit den Indianern (»Nichts hat uns die Räuberbrut gelassen / Als im Herzen tödlich bittres Hassen: / kommt ihr Kinder, kommt, wir wollen sterben«) – um den Preis, daß er in seinen Briefen die romantische Fetischisierung von Souveränität einschleppt: Was in Amerika geschaffen werde, sei nicht »eine von innen organisch hervorgegangene«, sondern eine von außen gewaltsam und rapid herbeigebrachte »bodenlose« Kultur: »Was wir Vaterland benennen, ist hier bloß eine Vermögensassekurranz. Der Amerikaner kennt nichts, er sucht nichts als Geld; er hat keine Idee; folglich ist der Staat kein geistiges und sittliches Institut (Vaterland), sondern nur eine materielle Konvention.« (Lenau 1971/2: 216) Wie Lenau jedoch im Postskriptum mitteilt, war es gerade der eigentliche Zweck seines Amerika- Aufenthalts, die Vermögensassekuranz bestmöglich zu nützen und sein Geld in der Neuen Welt gewinnbringend und sicher anzulegen.

Friedrich Nietzsche hingegen sieht nun gerade in der amerikanischen Jagd nach dem Geld das Resultat einer Vermischung mit dem Indianischen: es sei »eine indianerhafte, dem Indianer-Bluthe eigenthümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten« (1999 c: 556). In allem, was der Amerikaner wolle, »kommt der Indianer zum Vorschein«, meint ebenso C. G. Jung; auch die »negriden« Attribute in der Seele des Amerikaners seien einschlägig, etwa sein Lachen; der Gang, die schwingenden Hüften der Amerikanerinnen stammten vom »Neger«, die amerikanischen Tanzformen, seien»Negertanz «, etc. (Die Erdbedingtheit der Psyche, 1927 – zit. n. Fraenkel 1959: 301).

Jungs idiosynkratische Beschreibung aus den zwanziger Jahren läßt bereits erkennen, daß jenes ferne Land mit einem Schlag bedrohlich nahegerückt schien. Angebahnt durch die internationalen Verflechtungen des Kapitalverkehrs und schließlich provoziert vom uneingeschränkten U-Bootkrieg des Deutschen Reichs sind die Vereinigten Staaten schon als eines der ökonomisch mächtigsten Länder in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Von da an kamen sich die Projektionen von Uncle Sam und Shylock nicht nur näher, sondern durchdrangen sich. Aber sie wurden darum nicht identisch. Die »jüdische Zersetzungsarbeit« stoße in den USA bloß auf den geringst möglichen Widerstand, hieß es etwa kurz vor der Entfesselung des größt möglichen Widerstands, also der Etablierung des Dritten Reichs (Brockdorff 1929: 11). Schließlich schreibt einer dessen Bestseller-Autoren, in der frühen Expansionsphase des amerikanischen Imperialismus, der Epoche Theodore Roosevelts, hätten noch verhältnismäßig wenige Juden das Gesicht Amerikas bestimmt; erst der Weltkrieg begünstigte sie derart, daß es ihnen gelungen sei, die Finanzoligarchie zu unterwandern, und mit der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts wären sie endgültig an die Herrschaft gelangt, was denn auch an der »jüdischen Versippung« der Familie des Präsidenten ›nachgewiesen‹ wird (Wirsing 1942: 85-99).

Allerdings entwickelte sich das antiamerikanische Feindbild auch hier wesentlich diskontinuierlicher, als es aus dieser Perspektive des Zweiten Weltkriegs erscheint. Franklin D. Roosevelt war noch in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre von deutscher Seite durchaus als der »neue Führer« der Amerikaner gelobt worden; man setzte darauf, daß sich nun auch dort eine »Entwicklung zum autoritären Staat« anbahne, der schließlich eine andere »Rassenpolitik« betreiben werde(vgl. Schröder 1988: 68). Und manche isoliert betrachtete Äußerung Roosevelts schien dies zu bestätigen: 1933 ist etwa in Berlin sein Buch Blick vorwärts publiziert worden, dessen erstes Kapitel den Nietzsche entliehenen Titel »Umwertung der Werte« trägt. Erst als der amerikanische Präsident sich eindeutig gegen die nationalsozialistische Politik äußerte, wurden die amerikafeindlichen Phantasien reaktiviert, um zuletzt fast vollständig mit dem antisemitischen Feindbild zu verschmelzen.

Später hinzutretend zum wahnhaften Bewußtsein deutscher und europäischer Bürger, bleibt die antiamerikanische Projektion im Innersten abhängig vom Haß auf die Juden: Der Antiamerikaner nimmt gerade dort etwas von gesellschaftlicher Wirklichkeit und realer Politik zur Kenntnis, wo sie das Judentum betreffen. Hätte Roosevelt längerfristig eine andere, feindliche Politik gegenüber den verfolgten Juden betrieben und wäre in den USA gar die Lage der Jüdinnen und Juden in Richtung Nürnberger Gesetze geändert worden, in Deutschland hätte sich vermutlich ein anderes Amerikabild durchgesetzt und man wäre um ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten redlich bemüht gewesen. Umgekehrt fand die antiamerikanische Projektion bei der deutschen Linken der sechziger und siebziger Jahre neben dem vernünftigen und dringend gebot enen Protest gegen den Vietnamkrieg zu ihrer alten Form, insofern man nun der Tatsache, daß die USA zugleich Israel unterstützten, die größte Bedeutung beimaß und gerade damit die Gleichsetzung des »US-Imperialismus« mit der NS-Vernichtungspolitik vollendete. Vergeblich suchte Jean Améry genau an diesem Punkt eine eindeutige Disjunktion durchzusetzen und schrieb im Juni 1967: »Was soll in diesem Zusammenhang die Verdammung des amerikanischen Imperialismus? Es gibt ihn, oder wie man es präziser auszudrücken hätte: Es gibt die amerikanische Politik kriegerischer Gewaltanwendung ganz gewiß in Vietnam, wo sie sich täglich aufs häßlichste kundtut. Es hat aber diese Gewaltpolitik der USA nichts zu schaffen mit der Nahostkrise…« (Améry 1967)

Solche innere Abhängigkeit der antiamerikanischen von der antisemitischen Projektion, verweist nicht nur auf eine anderen geschichtlichen Zusammenhang – sie hat auch mit dem Inhalt selbst zu tun, mit dem, was jeweils projiziert wird.

Die USA sind, wie Dan Diner registriert, dazu ausersehen, »das Ausgreifen einer grenzenlos angelegten bürgerlichen Gesellschaft zu verantworten« (2002: 17). Und Ludwig Marcuse schrieb bereits, daß sich Amerika deshalb zum Sündenbock eigne, »weil es überall da ist« (1953: 68). Aber es ist eben anders da als die Juden, die – im Bewußtsein der Antisemiten – auch überall sind, deren wirkliche Diaspora jedoch als geheime Weltverschwörung phantasiert wird. Während sie dazu auserwählt sind, den abstrakten Reichtum zu verkörpern – das Geld, dort wo es dem Antisemiten unheimlich und irreal erscheint, gelten die USA dem antiamerikanisch Gesinnten als einzige real existierende Gesellschaft, in der allein das Geld regiere; als Gesellschaft ohne eigentlichen Staat, ohne Staat, der vom Gemeinsinn getragen würde – als Land der unbegrenzten Konkurrenz. An Stelle des Souveräns finde sich hier bloß ein Sheriff, der eben nur eingreift, wenn wieder einmal ein Toter im Saloon liegt.

Was Marx vom Weltmarkt sagt, könnte den Antiamerikanern sehrgut zur Definition der USA taugen: »Übergreifen der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat« (MEW 42: 188). Dabei kann natürlich kein Zweifel bestehen, daß die USA in Wahrheit immer auch eine Gesellschaft mit staatlicher Souveränität waren. Vom einfachen Rechtsakt bei jedem Warentausch innerhalb der Gesellschaft bis zur Vertreibung und Ausrottung der indianischen Bevölkerung ist der Staat hier wie anderswo auf der Welt in seinem Element: die Voraussetzungen der Akkumulation des Kapitals zu erhalten. Nur haben die Bürger hier – und daran heftet sich die antiamerikanische Projektion – ein anderes Verhältnis zur Souveränität, oder besser gesagt: hier haben sie überhaupt ein Verhältnis zu ihr, fallen mit ihr nicht einfach zusammen, indem sie sich auf Herkunft und Abstammung berufen.

Hannah Arendt sah darin sogar etwas wie die Urform des Rätesystems: »Die erstaunliche Tatsache, daß die Unabhängigkeitserklärung sofort ein wahres Fieber von Verfassungserlassen in den dreizehn Kolonien hervorrief, zeigt schlagartig, wie sehr sich bereits vor Ausbruch der Revolution in der Neuen Welt ein völlig neuer Begriff von Macht und Autorität und völlig neue Vorstellungen von Politik überhaupt durchgesetzt hatten… Diejenigen, welche die verfassunggebende Macht erhielten, waren die regulär gewählten Vertreter konstituierter Gemeinden; sie waren von unten gewählt, nicht von oben ernannt, und wenn sie sich an das alte römische Prinzip hielten, daß alle Macht beim Volk liegt, so war dies für sie keine Fiktion und das Volk für sie nichts Absolutes – die Nation, die über den Gesetzen und über allen weltlichen Autoritäten thront –, sondern eine gegenwärtige Realität. Das Volk war für sie eine in Organisationen und Institutionen zusammengefaßte Menge von Menschen, die gewöhnt war, ihre Macht gemäß bestimmten Regeln und im Rahmen von Gesetzen auszuüben.« (1974: 215) Arendt weist auch darauf hin, daß die bürgerlichen Staatstheorien, insbesondere jene Lockes, ohne den Eindruck, den die amerikanischen Verhältnisse früh schon in Europa machten, gar nicht denkbar sind: »Man hat oft hervorgehoben, wie unermeßlich viel Amerika der Idee des Gesellschaftsvertrags verdanke, hat dabei aber übersehen, daß diese Idee lange vor der Revolution von jenen Kolonisten realisiert wurde, die von irgendwelchen Theorien in diesen Dingen nicht die geringste Ahnung hatten. Die Sache scheint vielmehr genau umgekehrt zu liegen, nämlich so, daß die Amerikaner sich nicht an Theorien gehalten, sondern daß europäische Theoretiker sich an in Amerika etablierten Tatsachen orientiert haben.« (219)

Während in der Französischen Revolution das Recht, das als Vernünftiges auf die ganze Menschheit bezogen wurde, mit der nationalen Identifikation einherging (ohne darin allerdings wie in Deutschland aufgehoben zu werden), während also hier die reale Vermittlung des Rechts durch die irreale Unmittelbarkeit der Abstammung jederzeit überhöht werden konnte (geisterhafte Fortexistenz des dynastischen Prinzips)98, verstand man unter dem Souverän in den unabhängig gewordenen amerikanischen Staaten von vornherein nur den Garanten für die Verträge; als Notwendigkeit, Warentausch und Eigentumsrecht umfassend, mit allen Mitteln und gegen jede Anfechtung zu sichern; und nahm davon Abstand, ihm darüber hinaus eine besondere Qualität, eine eigene Substanz, einen Volkskörper zuzuschreiben. Es blieb bei »einem formellen Rechtsgesetz«, wie Hegel sagt: »Rechtlichkeit ohne Rechtschaffenheit«. Im revolutionären Europa war von Anfang an unklar, wie weit die Homogenisierung der Gesellschaft gehen kann – der Staat, der sie durchsetzt, ist einer, der sich potentiell überall einmischt; in den revolutionären USA hingegen zeigte sich Homogenität ursächlich aufs abstrakte Recht beschränkt – der Staat etablierte sich hier als Macht, die durch diese Homogenität hindurch die größte Diversität zuläßt.

Dieses Verhältnis zum Souverän hat eine lange Vorgeschichte, wie ebenfalls Hannah Arendt deutlich macht: »Insofern die Kolonialpakte sich schon zu Beginn auf keine königliche Gewalt bezogen hatten, war es, als hätte die Revolution diese ursprüngliche Macht des Vertragsschließens und Verfassungserlassens, die sich in den Uranfängen der Kolonisation gezeigt hatte, nur zu befreien brauchen.« (218) Die Einzigartigkeit der Kolonien Nordamerikas, ihr entscheidender Unterschied zu allen anderen kolonialen Unternehmungen, liege darin, daß die Auswanderer aus England von Anfang an darauf bestanden, sich in diesen »civil Bodies Politick« selbst zu konstituieren. Hinzu komme, daß diese »politischen Bürgerschaften« nicht eigentlich regierten und nicht nach dem Vorbild eines Staatsapparates entworfen waren; denn es gab in ihnen keinen Unterschied zwischen Herrschern und Beherrschten. »Dies geht schon aus der einfachen Tatsache hervor, daß das in ihnen vereinigte Volk der Siedler noch mehr als hundertundfünfzig Jahre lang die getreuen Untertanen Englands und des englischen Königs bleiben sollten. Diese eigentümlichen Organisationen waren in Wahrheit das, was man später ›politische Gesellschaften‹ nannte, und ihre große Bedeutung für die Zukunft lag darin, daß sich in ihnen ein politischer Raum gebildet hatte, in dem Macht und die Beanspruchung von Rechten möglich war, ohne daß man doch Souveränität besaß oder auch nur nach ihr verlangte.« (Ebd.) Allerdings – und hier idealisiert Arendt eindeutig die frühe nordamerikanische Gesellschaft – benötigte man unabdingbar einen ›eigenen‹ amerikanischen Souverän, als man sich vom alten englischen lossagte, nur daß hier eine klare Zweck-Mittel-Relation von vornherein konsituierend für das Bewußtsein der Bürger war: der Souverän als Voraussetzung des Vertrags; Gewalt, wie irrational auch immer in ihrer Ausübung, in letzter Instanz gebunden an die Rationalität des Tauschverhältnisses.

Es hängt also zuinnerst mit der Situation eines Einwanderungslandes zusammen, daß hier das Recht in ganz anderer Weise Bedeutung und Selbständigkeit, in Horkheimers Worten: »eigene Natur und Resistenzkraft« (HGS 12: 289) gewinnen konnte, als in den Ländern, aus denen man auswanderte: In einem Land, das – als die Bildung der europäischen Nationalstaaten bereits abgeschlossen war – wachsende Massen neuer Immigranten aufnahm, ließ sich das Recht, darin zu leben, nicht – wie in Europa – bruchlos ableiten vom Ort der Geburt, der Abstammung von einer Familie und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. In diesem buchstäblichen Sinn konnten die Vereinigten Staaten keine Nation werden. Der einzelne Bürger versteht sich hier – in seiner Eigenschaft als Staatsbürger – nicht primär als Teil eines Zeugungs- und Gebärzusammenhangs, sondern als Angehöriger eines Zusammenhangs von Institutionen: »the freedom of becoming a citizen without having to pay the price of assimilation« – so begriff Hannah Arendt den für sie ausschlaggebenden Wert der US-Staatsbürgerschaft (Sonning Prize speech, zit. n. Scott 2003: 72). Das schließt natürlich keineswegs aus, daß derselbe Bürger in seiner Eigenschaft als Privatmann größten Wert auf seine Abstammung legt – und wie jeder Rassist, die Produktivität naturalisierend, mit allen nur erdenklichen Mitteln sich abzugrenzen sucht von als ›minderwertig‹ eingestuften Mitbürgern, hier als Weißer oder wasp (White Anglo-Saxon Protestant) vor allem von den ehemals versklavten Schwarzen. Mit der Ideologie des europäischen Nationalismus wurde im Land der Einwanderer eben nicht durchgehend gebrochen, aber im unmittelbaren Verhältnis des einzelnen Bürgers zum Staat verliert sie ihre Vormacht als innere, einheitsstiftende Kraft. Deutlich wie kaum irgendwo sonst wird in dieser ideologischen Distanzierung vom Staat, wie sie in der US-amerikanischen Gesellschaft am weitesten vorgetrieben scheint, daß es das Recht ist, das die Bürger synthetisiert, nicht Herkunft und Abstammung – abgesehen vom Reichtum, den die unsichtbare Hand verteilt. Schon die Religion mußte dahinter zurücktreten und ist darum mehr als anderswo privatisiert; so oft der Präsident sich auch auf Gott berufen mag, es gibt keine Staatsreligion im eigentlichen Sinn. Für den jungen Marx war eben gerade das ein Zeichen der vollendeten politischen Emanzipation, und er zitiert zustimmend de Beaumont: »In den Vereinigten Staaten gibt es weder eine Staatsreligion noch eine offizielle Religion der Mehrheit, noch den Vorrang eines Kults über den anderen. Der Staat befaßt sich mit keinem der Kulte.« (MEW 1: 352) Für Hegel aber ist das kein gutes Zeichen: »Jeder, sagt man von diesem Standpunkte, könne eine eigene Weltanschauung, also auch eine eigene Religion haben. Daher das Zerfallen in so viele Sekten … die Kirche ist nicht ein an und für sich Bestehendes, die eine substantielle Geistigkeit und äußere Einrichtung hätte, sondern das Religiöse wird nach Gutdünken zurechtgemacht.« (HW 12: 113) Alles was den Deutschen und Europäern als substantiell gilt, was also im Zuge ihrer ›Nationswerdung‹ zur Quintessenz von Identität geworden ist: Religion, Geburt, »Rasse« … wird auf diese Weise nach Gutdünken zurechtgemacht – nur nicht das Recht selbst, das eben das Zurechtmachen erst gestattet. Ein berühmter Satz von Thomas Jefferson lautet, daß nichts unveränderlich sei außer den unveräußerlichen Menschenrechten, die allein in der menschlichen Natur lägen (The Complete Jefferson, zit. n. Arendt 1974: 297) Wer an die Stelle von Menschenrechte Rechte des Staatsbürgers setzt, hat darin eine brauchbare Bestimmung der nordamerikanischen Verhältnisse und der US-amerikanischen Ideologie.

Die antiamerikanische Projektion wiederum macht aus dem historisch gewordenen Unterschied, der sich in einem anderen politischen Verhältnis zu Recht und Souveränität niedergeschlagen hat, das Negative, das es abzuwehren gilt. Sie betreibt damit eigentlich die negative Substantialisierung der Reinen Rechtslehre: Will diese den Staat auf das Recht beschränkt wissen und die Souveränität verdrängen, so sagt der Antiamerikaner seit langem, genau das sei in Amerika bereits Wirklichkeit geworden; die USA gelten ihm als Staat ohne Souverän, ein Staat reduziert auf das Recht als Teil des Geschäfts. Wie das Geschäft ist das Recht auf jedes Gebiet auszudehnen. Es ist universell. Darum erscheinen auch die Amerikaner dem Europäer universell: Sie brauchen das Recht nur, um ihren Geschäften auf der ganzen Welt nachgehen zu können – und eben dazu setzen sie den Völkerbund und später die UNO in die Welt. Das Recht ist bodenlos. Denn anders als bei Hegel vorgesehen entwickelte sich der nordamerikanische Staat, und die europäischen Feinde Amerikas stellen konsterniert fest, daß dieses merkwürdige Gemeinwesen an keine Grenze stößt, sondern jetzt die Erde überzieht; statt die bürgerliche Gesellschaft endlich doch in sich zurückzudrängen, dehne es sie über alle Grenzen hinweg aus – aber das gelinge nur, weil es weiterhin den Staat auf ein formelles Rechtsgesetz reduziere: Rechtlichkeit ohne freiwilligen Gemeinsinn, ohne selbstbestimmtes Opfer für den Staat. (Es mangle den Amerikanern von Natur aus an soldatischen Tugenden, wird seit dem Ersten Weltkrieg beständig betont: von einer »Armee ohne Pathos« sprach verächtlich Hitlers Generalstabsoffizier Adalbert Weinstein.) Und so stehen denn die amerikanischen Politiker bald in dem Ruf, bloße Geschäftsleute zu sein, die nunmehr weltweit agieren und durch das Recht geschützt überall betrügen können: der US-Staat erscheint als »gewalttätiger Geschäftsmann« und sonst nichts (z. B. im Kompendium des Antiamerikanismus der Nachkriegszeit: Leo L. Matthias, Die Entdeckung Amerikas oder das geordnete Chaos, 1953, zit. n. Diner 2002: 31). Das ist der Punkt, an dem Uncle Sam jederzeit als Shylock perhorresziert werden kann, wenngleich jener im Unterschied zu diesem nicht nur über Geld sondern auch Waffen verfügt.

Die USA konnten sich durch alle Konflikte hindurch behaupten und stellten damit ihre Souveränität unter Beweis.99 Die Lehre vom reinen Völkerrecht jedoch blieb so ohnmächtig gegenüber der antiamerikanischen Ideologie wie der wirkliche Völkerbund gegenüber dem Dritten Reich. Sie enthält selbst keine Wahrheit – im Unterschied zur dialektischen Rechtstheorie Franz Neumanns, die ebenso die Erfahrung des von den Nazis Verfolgten reflektiert wie sie der Berührung mit der angelsächsischen Welt ihre Impulse verdankt. Hans Kelsen jedoch, der bereits vor 1933 die konsequenteste Konzeption einer undialektischen Rechtslehre entwickelt hat, nimmt vielmehr die Dominanz der Menschenrechts-Ideologie im Kalten Krieg und die Hypostasierung der UNO als Weltstaat in der Gegenwart vorweg: die Erfahrung des Niedergangs der Weimarer Republik und der Verfolgung durch den Nationalsozialismus konnte der Reinen Rechtslehre wenig anhaben. Weil er das Recht als eine der Realität gewissermaßen vorausgesetzte Struktur begreift, vermag Kelsen seine Lehre buchstäblich mit dem Völkerrecht abzuschließen – als eine Art Zukunftsperspektive: das Völkerrecht sei – so heißt es 1934 – noch nicht entwickelt, noch in einem primitiven Stadium. »Es steht erst am Anfang einer Entwicklung, die die einzelstaatliche Rechtsordnung bereits zurückgelegt hat. Es zeigt sich … noch weitgehende Dezentralisation. Es gibt hier noch keine arbeitsteilig funktionierenden Organe zur Erzeugung und Vollziehung der Rechtsnormen. Die Bildung der generellen Normen erfolgt im Wege der Gewohnheit oder durch Vertrag…« (Kelsen 1994: 131) Aber für die Reine Rechtslehre ist dieser empirische Stand der Entwicklung bedeutungslos: wesentlich allein, daß das Völkerrecht der Souveränität der einzelnen Staaten an sich bereits vorgeordnet ist, auch wenn noch keine zentralisierte Instanz existiert und der ›Weltpolizist‹ nicht wirklich in Aktion getreten ist.

Damit wird systematisch die einfache Erkenntnis verhindert, daß es dieses sogenannte Völkerrecht als Recht gar nicht gibt. Der Rekurs auf die phantastische Einheit des Volks im deutschen Ausd ruck fürs internationale Recht erfolgt nicht zufällig: die Konstitution staatlicher Herrschaft, das wirkliche Verhältnis von Recht und Souverän, zu camouflieren, ist das Wort Volk geradezu erfunden worden, und die Deutschen sind darin Meister. In Wahrheit kann, was als Völkerrecht bezeichnet wird, immer nur eine Konvention sein (wie auch die Genfer Abmachung zur Behandlung von Kriegsgefangenen korrekterweise »Konvention« genannt wurde), Ergebnis einer wechselseitigen Bedrohung der Staaten und allein dazu da, von der souveränen Macht einzelner Staaten – eines einzigen oder mehrerer, von internationalen Organisationen abgestimmt – wiederum in Dienst genommen, um es noch deutlicher zu sagen: instrumentalisiert zu werden. Geschieht dies nicht, so existiert es auch nicht – oder bloß als Hirngespinst in den Köpfen der Völkerrechtsexperten und UNO-Beamten. (Und wem es politisch gerade nicht in den Kram paßt, der spricht dann entrüstet von einem Bruch des Völkerrechts.) Internationales Recht wird immer nur »technisches Mittel zur Durchsetzung politischer Zwecke« sein, wie sehr die Zwecke sich auch unterscheiden mögen. Sowenig es einen Weltsouverän geben kann, sowenig umgekehrt ein internationales Recht, das wie das nationale Recht »eigene Natur und Resistenzkraft « besitzen könnte.

Die Reine Rechtslehre von einst und die Menschenrechtsideologen von heute, die beide gleichermaßen den Souverän verdrängen, wollen aber in dem, was internationales Recht konstituiert, immer nur den unterentwickelten Stand dieses ›Rechts‹ sehen, es sei dies eben noch kaum mehr als »die Technik der Selbsthilfe, von der auch die Entwicklung der einzelstaatlichen Rechtsordnung ausgegangen ist« (Kelsen 1994: 32), die Verrechtlichung stehe erst am Anfang. Der Primat des Völkerrechts ist notwendigerweise der Schlußstein von Kelsens Gebäude: in ihm soll die »Auflösung des Souveränitätsdogmas« sich praktisch niederschlagen. »Der Staat, dessen Begriff nunmehr von der Völkerrechtsordnung her bestimmt werden kann, ist somit eine völkerrechtsunmittelbare, relativ zentrierte Teilrechtsordnung mit völkerrechtlich begrenztem territorialen und temporalen Geltungsbereich und einem hinsichtlich des materialen Geltungsbereiches nur durch den Vorbehalt des Völkerrechts eingeschränkten Totalitätsanspruch. « (150) So begriffen, sei der »Einzelstaat als Rechtswesen aus der Absolutheit gelöst, in der ihn das Souveränitätsdenken erstarren läßt«. Damit beseitige die Rechtslehre »ein Hindernis, das sich schier unüberwindlich, jeder technischen Fortbildung des Völkerrechts, jedem Versuch einer weitergehenden Zentralisation der internationalen Rechtsordnung entgegenstellt.« Indem sie »durch die Relativierung des Staatsbegriffs die erkenntnismäßige Einheit alles Rechtes « sicherstelle, schaffe sie »eine nicht unwesentliche Voraussetzung für die organisatorische Einheit einer zentralisierten Weltrechtsordnung « (153).

Das Souveränitätsdogma wird jedoch nicht wirklich aufgelöst – wie der Staat nicht wirklich relativiert werden kann, solange er existiert. So kehrt Souveränität auch in Kelsens Reiner Rechtslehre wieder, verborgen hinter der Kategorie der »Effektivität« als dem »Rechtsgrundsatz des positiven Völkerrechts«. Danach gilt, »daß eine völkerrechtsunmittelbare Zwangsordnung als legitime, das heißt verbindliche Rechtsordnung, oder, mit anderen Worten, daß die durch solche Ordnung konstituierte Gemeinschaft als Staat im Sinne des Völkerrechts für eben jenen Bereich zu gelten habe, für den dieser Ordnung im großen und ganzen entsprochen wird« (148). Anders gesagt: die Effektivität allein legitimiert die Durchsetzung einer Zwangsordnung auf einem bestimmten Territorium. Die Frage, wann etwas im Sinne des Völkerrechts legitim ist, wird – wie in Hitlers Mein Kampf – durch den blanken Erfolg entschieden.

Dieser Antizipation eines Schulungsprogramms für UN-Bürokraten, das sich formell mit jeder erfolgreichen »Machtergreifung« als kompatibel herausstellt, setzt nun der antisemitische Staatsrechtler und erste Globalisierungskritiker die inhaltlich bestimmte »Großraumordnung « entgegen. Die Sowjetunion existiert für Carl Schmitt praktisch nicht mehr, damit verliert auch der manifeste Antikommunismus wesentlich an Bedeutung. Umso mehr gewinnt die Westfront: Denn in den Vereinigten Staaten sieht Schmitt einen »Beschleuniger wider Willen«, der letztlich doch nur die Sache der Deutschen besorge. »Das große Thema des gegenwärtigen Weltkrieges«, so Schmitt, »liegt gerade in dem Gegensatz gegen eine solche universale Weltmacht und ihren Weltordnungsanspruch. Gegen den Universalismus angloamerikanischer Weltherrschaft hat sich der Gedanke einer in kontinental zusammenhängende Großräume sinnvoll eingeteilten Erde durchgesetzt. Es kann keine gelenkte Weltwirtschaft geben.« (1995 b: 433) Jeder aufmerksame Beobachter habe »die Selbstwidersprüche bemerkt, an denen die westliche Hemisphäre seit langem krankt und die seit dem Beginn der imperialistischen Zeit, seit 1898, so erstaunlich gewachsen sind, daß der Gedanke einer von dort her kommenden neuen Weltordnung grotesk erscheint« (434). So grotesk wie die Verdrängung der Souveränität gegenüber dem Recht, die Kelsen als der konsequenteste Vertreter einer aufgeklärten Staatslehre betreibe. Demgegenüber favorisiert Schmitt die Depotenzierung der Rechtsidee, die absolute Unterwerfung der Rechtsordnung unter den Souverän, wie sie im Dritten Reich betrieben wird – eine antikapitalistische Umwälzung in deutschem Geist, allein imstande, dem was Schmitt unter Kapitalismus versteht, Grenzen zu ziehen. Denn zu der »imperialistischen Wirklichkeit eines ökonomischen Welthandelsanspruchs«, der Schmitt grotesk erscheint, »gehört die grenzenlose, universale Intervention. Die Interessen eines Weltkapitalismus zwingen zu einer allgegenwärtigen, ›ubiquitären‹, Einmischungs- und Nicht-Anerkennungspolitik, die sich anmaßt, zu jeder an irgendeinem Punkt derErde eintretenden Änderung der Lage von Washington aus das Placet zu erteilen oder zu verweigern.« (Ebd.) Die Regierung in Washington agiert nicht als Souverän der Welt, sondern als Organ, das lediglich auf die Verletzung des Rechts reagiert; mit Kelsen gesprochen: den Zwangsakt exekutiert, der im Recht selbst vorgesehen ist und wodurch allein der bedingende Tatbestand als Unrecht, der bedingte als Recht qualifiziert wird; mit einem (heutigen) Wort: als ›Weltpolizist‹.

Schon Jahre zuvor, als noch immer England zur führenden Macht des Universalismus disponiert schien, hat Schmitt das Horroszenario für die Deutschen entworfen: »daß die moderne technische Entwicklung, insbesondere der Luftwaffe, den Staatenkrieg überholen werde, daß die Luftwaffe genüge, um die Erde in Ruhe und Ordnung zu halten, so daß die Staatenkriege von selbst aufhören und schließlich nur noch Bürgerkriege, Polizeiaktionen oder Sanktionen übrigbleiben« (1994 c: 353). Nun stellt sich eindeutig heraus: es sind die USA, die diese Rolle übernehmen. Sie »überziehen die ganze Erde mit einem System von Luftstützpunkten und Luftfähren und proklamieren ein ›amerikanisches Jahrhundert‹ unseres Planeten… Nachdem die letzte dieser globalen Linien, die Linie der westlichen Hemisphäre, in einen grenzenlosen, globalen Interventionismus umgeschlagen ist, hat sich eine völlig neue Situation ergeben. Gegen die Ansprüche einer universalen, planetarischen Weltkontrolle und Weltherrschaft verteidigt sich ein anderer Nomos der Erde, dessen Grundidee die Einteilung der Erde in mehrere, durch ihre geschichtliche, wirtschaftliche und kulturelle Substanz erfüllte Großräume ist.« (1995 c: 447) So wie er stets aus der Ausnahme von der Regel seinen Dezisionismus ableiten konnte, so baut Schmitt jetzt – über die Niederlage Deutschlands hinwegdenkend – darauf, »daß die Erde immer größer bleiben wird als die Vereinigten Staaten von Amerika und daß sie auch heute noch groß genug ist für mehrere Großräume, in denen freiheitsliebende Menschen ihre geschichtliche , wirtschaftliche und geistige Substanz und Eigenart zu wahren und zu verteidigen wissen« (448).

Alle Differenzen zwischen deutscher und US-amerikanischer Ideologie resultieren in einem anderen Verhältnis zur Krise. Der Antiamerikanismus, in Deutschland seit langem zusammengebraut und nun im Vernichtungskrieg der ganzen Welt nahegebracht, zeigt sich als wahnhafte Reaktion auf eine Gesellschaft, die sich so verhält – und der es aufgrund einer einzigartigen geopolitischen Lage auch möglich ist, sich so zu verhalten100 –, als drohe im Inneren der bürgerlichen Gesellschaft kein totaler Ausnahmezustand, als gäbe es an sich keine wirkliche Krise, die nicht mit den konventionellen Mitteln des Geschäfts und des Rechts zu bewältigen wäre; keine, die den Souverän dazu bringen könnte, das Recht in »ein technisches Mittel zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele« (Neumann) zu verwandeln, genauer: zur Durchsetzung des Politischen schlechthin als »Bereitschaft zum Nichts«, »zum Tod und zum Töten« als »oberste Instanz« (Löwith). Daß auch dieser Souverän die Fähigkeit besitzt, »sich und die anderen als tötbares Leben zu konstituieren«, heißt noch nicht, daß ihm diese seine »Voraussetzung« schon zum Entscheidend- Politischen wird. Bricht dann doch die große Krise aus und sieht sich der Staat wie anderswo gezwungen, in die Zirkulationssphäre massiv einzugreifen und mit wachsendem deficit spending als Großkonsument aufzutreten; könnte also auch hier von einem »Staatssubjekt Kapital« (Heinz Langerhans) gesprochen werden, das den inneren Markt zu organisieren beginnt, die Preise reguliert und zugleich die internationalen Handelsbeziehungen in neuer Weise regelt, verwandeln sich darum die US-Bürger nicht schon zu Volksgenossen: es erweitern sich nur vorübergehend die Aufgabenbereiche, die der Souverän zu übernehmen hat, um weiterhin Warentausch und Eigentumsrecht, die Verwertung des Werts zu garantieren; es bildet dieses provisorische ›Staatssubjekt Kapital‹ nur ein Bündel temporärer Maßnahmen, die Voraussetzungen für das automatische Subjekt des Kapitals unter ungünstigen Bedingungen zu wahren.101

Das Recht wird in ein technisches Mittel zur Erreichung bestimmter kurzfristiger, ökonomischer (oder später: militärischer) Ziele verwandelt. Sind sie erreicht, ist seine technische Funktion überflüssig: sie geht nicht in die politische Struktur des Staates ein, verändert nicht das Verhältnis der Bürger zur Obrigkeit. (Und der Präsident weiß, daß er sich – wie schon Lincoln im Sezessionskrieg – für jede Maßnahme, die er eigenmächtig zu setzen hat, vor dem Kongreß wird rechtfertigen müssen.) Anders gesagt: Weil es nur ökonomische (oder militärische) Ziele sind, ist das Recht immer zugleich auch der Zweck, es verliert darin nicht seine »Resistenzkraft« und »eigene Natur« gegenüber dem Politischen. So war die Entscheidung für New Deal keine Entscheidung um der Entscheidung willen – gegen das Gesetz um des Gesetzes willen; sie mobilisierte keine Bereitschaft zum Nichts; es war die bloße Entschlossenheit, etwas zur Wiederherstellung der Verwertungsbedingungen zu unternehmen. Indem diese Verwertung grundsätzlich als Selbstzweck anerkannt wird (nicht selten weiterhin wie ursprünglich: im Namen Gottes; bei F. D. Roosevelt aber mehr im Namen von Freiheit und Demokratie), bleibt auch der Status des Rechts unangetastet.102 So entspricht die US-amerikanische Ideologie in etwa dem, was Karl Kraus vom Souverän sich ganz im allgemeinen erwartet: »Uns ist Politik nur eine Methode, das Leben zu besorgen, damit wir zum Geist gelangen. Wir verabscheuen eine Politik, die, um jenes zu verwahrlosen, diesen mißhandelt hat. Wir sind mit einer zufrieden, die ehrlichen Willens ist, jenes wiederherzustellen und alles weitere uns selbst zu überlassen… Wir wollten frei sein, und da wir‘s sein könnten, kommen jene, denen nie ein Inhalt gebunden war, und möchten uns beherrschen. Gehaben sich als Weltgericht und haben doch nichts als den Fluch der fortzeugend bösen Tat zu vollstrecken.« (KS 16: 20)

Den wirklichen Ausnahmezustand findet die US-Politik aber in anderen Ländern vor, mit denen Handel getrieben wird, und ihre Soldaten kommen, ihn mit möglichst wenigen eigenen Opfern – ist diese Bedingung erfüllt, auch mit möglichst wenigen Opfern der anderen – zu beenden, um dem normalen Gang der Geschäfte wieder Bahn zu brechen. Das ist gewissermaßen ihr regulatives Prinzip – und wird in der Öffentlichkeit sofort eingeklagt, wenn es etwa, wie im Vietnam- oder Irakkrieg, zu Folterungen durch GIs kommt.

Diese Politik realisiert wie keine andere Macht und mit allen Mitteln des Souveräns das Recht als »die Form der Herrschaft über die nichts als Reichtum darstellende weil in immerwährender Produktion befindliche Welt« (Teuber 2003: 15). Um diese Produktion kreisen die Interessen, nicht unmittelbar um irgendwelche Rohstoffe und sei‘sdas unentbehrlich gewordene Öl: denn nur in der Verwertung, nicht schon im Boden, liegt die einzige faktische Chance, Reichtum sich dauerhaft anzueignen. Was als Strategie der US-Politik über Jahrhunderte hinweg verfolgt werden kann, beruht auf solcherart vermittelten Interessen.103

Dagegen wird die »Hypostasierung der Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands« gesetzt (HGS 5: 294); der Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet, als Selbstzweck inthronisiert – die Verwertung aber als Selbstzweck damit nicht mehr anerkannt. Das Staatssubjekt Kapital verewigt sich in jedem Volksgenossen, denn das Recht geht im technischen Mittel zu dem einzigen politischen Zweck auf, der selbst nur als pathische Projektion beschworen werden kann – zu dem Zweck, alle Juden und Jüdinnen zu verfolgen und zu töten. Das ist auch die Krisentheorie der Deutschen: Weil die Nordamerikaner den Staat lediglich haben, um Rechtssicherheit zu schaffen für ihre und der anderen Geschäfte, weil sie den Staat nicht haben als substantiellen Inhalt, ihn nicht als Ausdruck ihres Gemeinsinns verehren und verinnerlichen, seien sie zu wahrer, zu totaler Politik nicht imstande. Denn dazu reicht ein im strengen Sinn ökonomisches Interesse, ein an Reichtum und Profit interessiertes Wollen nicht hin – nur eines, das wie der Nationalsozialismus aus der Ohnmacht gegenüber der Krise den Drang zur Allmacht entwickelt. »Als solches ist es auch zufrieden, wenn es nur zerstört.« (Teuber 2003: 32) Es ist aber dann erst wirklich zufrieden. So muß die Folter mit Jean Améry wahrhaft »als Essenz des Nationalsozialismus« begriffen werden: in ihr hat sich das Dritte Reich »in seiner ganzen Bestandsdichte verwirklicht «; der Hitlergefolgsmann »mußte foltern, vernichten«, um als solcher »groß zu sein im Ertragen von Leiden anderer« (2002 b: 69f.).

Diese innere Bereitschaft zur unbedingten Vernichtung will allein zur Kenntnis nehmen, was ihr als konkret erscheint (sie ignoriert prinzipiell die abstrakten Bedingungen des Rechts und der Verwertung), und mit dem Schein des Konkreten ist sie ideologisch am besten getarnt: Blut und Boden. Den Vereinigten Staaten jedoch, unfähig im Gefühl der Ohnmacht auf die Allmacht zu spekulieren, die immer nur Entschlossenheit zum Nichts sein kann; nicht bereit also, von sich aus um dieser Entschlossenheit willen über das Recht hinauszugehen, müssen gewaltsame Eingriffe zur Herstellung politischer Einheit stets von außen indiziert, wenn nicht aufgezwungen werden. Sie erscheinen als ein »Beschleuniger wider Willen« (Schmitt), der durchschlagendeKrisenlösung ohne innere Überzeugung, sondern aus äußerer Notwendigkeit betreibt: Der ›Weltpolizist‹ kann die Welt nicht erlösen. Und das ist es, was man ihm übelnimmt.

Auf den ersten Blick war es lediglich die Bereitschaft, sich leichter als andere Nationen von den zivilisatorischen Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters zu trennen, die Deutschland befähigte, der Beschleuniger aus eigenem Willen zu werden. »Die Großraumkonzepte «, so Wolfgang Pohrt, »bekunden vor allem den Willen zum Bruch mit dem Weltmarkt, de r schließlich einmal tendenziell alle lokalen Beschränkungen aufgelöst und die Menschen aus der unbedingten Abhängigkeit von den vorgefundenen natürlichen Lebensbedingungen befreit hatte. Nur auf dem Weltmarkt konnte sich die freie Konkurrenz universell entfalten, jene Kraft, die im Sinne eines unbegrenzten Fortschritts der Produktivkräfte als automatisches Regulativ der Produktion wirken und Warentausch in stets wachsendem Umfang herbeiführen sollte. Zum Welthandel gehören der weltweite Reiseverkehr, der freie Informationsaustausch und die Mobilität der Ware Arbeitskraft, in der Terminologie des Faschismus auch Völkervermischung, Entwurzelung oder Überfremdung genannt. Der Weltmarkt stellt den Inbegriff dessen dar, wogegen die Ressentiments in Deutschland nie wirklich verschwunden sind.« (Pohrt 1992)

Aber in dieser Bereitschaft zum Bruch mit dem Weltmarkt lag von Anfang an eine bestimmte Vorstellung von Erlösung: daß man »lieber tot ist als nicht Sklave« (KS 18: 182). Die Substanz, die man von deutscher Seite dem »bodenlosen«, »imperialistischen« Universalismus der ubiquitär gewordenen westlichen Hemisphäre entgegensetzte, war die bodenständige und blutige »Freiheit des Opfers« – die Freiheit, sich selbst noch zu opfern, damit Folter und Massenmord zum eigentlichen Selbstzweck werden. Darin sind alle Widersprüche beseitigt, darin geht die Großraum-Konzeption aufs Ganze. Das läßt sich festhalten und doch nicht begreifen, so wie die Taten der Deutschen zwar aus spezifischen Traditionen abgeleitet werden können, indem sie aber durch den Großraum hindurch Vernichtung als die Sache um ihrer selbst willen verbreiten, lassen sie jede Tradition hintersich. Zwei Jahre nach Carl Schmitts Überlegungen zur »letzten globalen Linie« schrieb Theodor W. Adorno, der hinter dieser Linie noch einmal Schutz gefunden hatte, als jene freiheitsliebenden Menschen losschlugen: »Was die Deutschen begangen haben, entzieht sich dem Verständnis… Dennoch sieht das Bewußtsein, das dem Unsagbaren standhalten möchte, immer wieder auf den Versuch zu begreifen sich zurückgeworfen, wenn es nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen will, der objektiv herrscht.« (AGS 4: 117) Das betrifft auch die Begriffe des Opfers und des Selbstopfers: sie können den Nationalsozialismus nicht erklären, weil sie auf begrenzbare Handlungen verweisen. Ihre Totalisierung im Namen Deutschlands ist das Unbegreifliche, das keine wissenschaftliche Analyse begreiflich machen, das immer nur von neuem festzuhalten ist – und sei‘s im Bild der Götterdämmerung oder des Zeppelins: »Während sie alles gewannen, wüteten sie schon als die, welche nichts zu verlieren haben. Am Anfang des deutschen Imperialismus steht die Wagnersche Götterdämmerung, die begeisterte Prophetie des eigenen Untergangs, deren Komposition gleichzeitig mit dem siegreichen siebziger Krieg in Angriff genommen wurde. Im selben Geiste hat man zwei Jahre vor dem zweiten Weltkrieg dem deutschen Volk den Untergang seines Zeppelins in Lakehurst gefilmt vorgeführt. Ruhig, unbeirrt zieht das Schiff seine Bahn, um plötzlich senkrecht herabzustürzen. Bleibt kein Ausweg, so wird dem Vernichtungsdrang vollends gleichgültig, worin er nie ganz fest unterschied: ob er gegen andere sich richtet oder gegens eigene Subjekt.« (118)104

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