Scheit – Bei Heidegger immer das Selbst

Immer das Selbe

Gerhard Scheit

Im Dezember 1944 schrieb Martin Heidegger – auf der Flucht aus dem zerbombten und von den Alliierten ‘bedrohten’ Freiburg – ins Gästebuch eines Freundes: “Anderes denn ein Verenden ist das Untergehen. Jeder Untergang bleibt geborgen in den Aufgang.’” [ 1 ] So bleibt Heidegger Hitler treu bis zuletzt – und doch befindet sich sein Denken schon wieder im Vorlauf. Es ist nicht nur die diskrete Philosophie des Nationalsozialismus, sonderen ebenso die aparte des Postfaschismus; Heidegger ist nicht allein der Hitler, sondern ebenso der Adenauer und Kohl des Denkens. Er ist der ideelle Gesamtdeutsche des 20. Jahrhunderts.

Diese Doppeldeutigkeit seiner Philosophie bezeichnet Heidegger selbst als “Kehre”. In dem Aufsatz über “Nietzsches Wort ‘Gott ist tot’” von 1943 werden nun wirklich die Weichen für die Nachkriegsphilosophie gestellt. Während er zur selben Zeit in den Heraklit-Vorlesungen noch auf den Endsieg hofft – darauf, daß die Deutschen im Einvernehmen mit der Wahrheit des Seins seien –, heißt es hier, wo Nietzsche als eine Art Chiffre für Hitler fungiert, “jeder Weg zur Erfahrung des Seins” sei “ausgelöscht”: “Mit dem Sein ist es nichts.” [ 2 ] Das ist die Enttäuschung über die sich abzeichnende Niederlage Deutschlands. Aber Heidegger weiß daraus eben Nutzen zu ziehen: Dem nationalsozialistischen Deutschland wird es plötzlich als Verdienst angerechnet, das Zeitalter der Subjektivität, des Nihilismus vollendet und damit dessen Überwindung, die Überwindung der Seinsvergessenheit, als Möglichkeit gerettet zu haben. Hier sieht Heidegger nun auf einmal die Bedeutung Nietzsches und wie sich aus seinen aktuellen Anspielungen erkennen läßt: Hitlers. Deren Umwertung der Werte, deren theoretischer und praktischer Nihilismus verharre selbst noch innerhalb der Metaphysik, und demonstriere, daß in ihr die Wahrheit des Seins ausbleibe. Gerade darin aber könnte – in der nachträglichen Legitimation des Vernichtungskriegs – das Einvernehmen mit der Wahrheit des Seins bestehen: sichtbar gemacht zu haben, daß sie ausbleibe. Indem der bereits postfaschistische Philosoph statt auf sichtbare Werte auf das verborgene Sein sich bezieht, statt der Werte des Gebrauchs und der Moral (des Humanismus!) also den Wert – das Jenseits des Gebrauchs und der Moral (des Humanismus) – beschwört, ist er der deutschen Gesellschaft abermals ein Stück voraus.

“Das Wesen des Nihilismus beruht in der Geschichte, der gemäß es im Erscheinen des Seienden als solchen im Ganzen mit dem Sein selbst und seiner Wahrheit nichts ist, so zwar, daß die Wahrheit des Seienden als solchen für das Sein gilt, weil die Wahrheit des Seins ausbleibt. (…) Das Sein kommt nicht an das Licht seines eigenen Wesens. Im Erscheinen des Seienden als solchen bleibt das Sein selbst aus. Die Wahrheit des Seins entfällt. Sie bleibt vergessen.” [ 3 ] Wenn die Wahrheit des Seins ausbleibt, so heißt es nicht, daß es sie nicht gibt, ganz im Gegenteil – aber die Subjektivität rückt in ein anderes Verhältnis zu ihr: “Mit dem Beginn des Kampfes um die Erdherrschaft treibt das Zeitalter der Subjektivität in seine Vollendung. Zu ihr gehört, daß das Seiende, das im Sinne des Willens zur Macht ist, seiner eigenen Wahrheit über sich selbst nach seiner Weise in jeder Hinsicht gewiß und deshalb auch bewußt wird.” [ 4 ] Damit “entzieht” sich aber das Sein selbst “in seine Wahrheit. Es birgt sich in diese und verbirgt sich selbst in solchem Bergen.” [ 5 ] Aus dem Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus geht der Mensch als bloße Funktion der Seinsgeschichte hervor – ausersehen zu hüten, was er nach wie vor weder begreifen noch kritisieren kann, aber nicht mehr zu führen. Der Mensch als “Hirte des Seins” – so lautet Heideggers Versuch, das Endspiel zu ontologisieren, so übersetzt er den Beckettschen Satz “Something is taking its course” ins Deutsche.

Es gibt keinen Bruch in Heideggers Entwicklung, sondern einen ständigen Integrationsprozeß: jede Erfahrung, die der Philosoph machen könnte, wird sofort dem ontologischen Wahngebilde integriert und bedingt eine etwas veränderte Konstellation von Dasein, Seiendem und Sein. Vor allem aber macht sich nun bezahlt, daß Heidegger sein Abstraktionsniveau nie verlassen und auf die Personifizierung des real Abstrakten im Judentum so gut wie verzichtet hat. So kann er seine Vorstellungen von Amerika und Rußland weitgehend unbeschadet und nahezu unzensiert in die Nachkriegszeit retten. Im Briefwechsel mit Herbert Marcuse ist es ihm darum ein Leichtes, das Schicksal der Juden vor 1945 einfach mit dem der Ostdeuschen nach 1945 gleichzusetzen und auszutauschen. Heidegger hat damit das Geheimnis der Totalitarismustheorie begriffen, ohne sie (wie von seiner Schülerin Hannah Arendt gedacht) gegen das nationalsozialistische Deutschland wenden zu müssen: “Zu den schweren berechtigten Vorwürfen, die Sie aussprechen ‘über ein Regime, das Millionen von Juden umgebracht hat, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was ja wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit u. Wahrheit verbunden war, in sein Gegenteil verkehrt hat’, kann ich nur hinzufügen, daß statt ‘Juden’ ‘Ostdeutsche’ zu stehen hat und dann genauso gilt für einen der Alliierten, mit dem Unterschied, daß alles, was seit 1945 geschieht, der Weltöffentlichkeit bekannt ist, während der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tatsächlich geheimgehalten worden ist.” [ 6 ]

Heidegger befreit das deutsche Volk und damit sich selbst von der Schuld, an den Verbrechen des Dritten Reichs mitgewirkt zu haben, und stellt es gleichermaßen als Opfer der Nazis wie als Opfer der Alliierten hin. Er ist zweifellos der geeignete Mann dazu, hat er doch immer schon die deutsche Volksgemeinschaft beschworen und ebenso hartnäckig über jene geschwiegen, deren Vernichtung die Voraussetzung von Volksgemeinschaft ist. Georg Lukács spricht in diesem Sinn vom “Inkognito” des Heideggerschen Denkens; er zitiert dessen Satz über die nationalsozialistischen Täter, daß “die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten, angesichts des Todes anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab”, und fügt hinzu: “Heidegger verschweigt hier diskret – das gehört offenbar auch zum ontologisch geschichtlichen Inkognito –, daß diese Jünglinge unter Hitler nicht nur in einer ‘Situation angesichts des Todes’ waren, sondern sich höchst aktiv an Mord und Folterung, an Raub und Vergewaltigung beteiligt haben. Er hält es offenbar für überflüssig, dies zu erwähnen; denn das Inkognito deckt ja alles zu: wer kann wissen, was so ein von Hölderlin berauschter Schüler Heideggers ‘gedacht und gelebt’ hat, als er Frauen und Kinder in die Gaskammern von Auschwitz stieß? Niemand kann es wissen, was Heidegger selbst ‘gedacht und gelebt’ hat, als er die Freiburger Studenten zur Abstimmung für Hitler führte.” [ 7 ]

Hannah Arendt meint, daß Heideggers Wendung vom Macht-Willen zu “neuer Gelassenheit” und “paradoxem ‘Willen zum Nichtwollen’”, von der Entschlossenheit des Daseins zur “Heiterkeit des ‘Seinlassens’”, stimmungsmäßig “die Niederlage Deutschlands” ausdrücke. [ 8 ] Sie selbst aber konnte diese Kehre nicht akzeptieren, da sie doch in der Demokratisierung von Sein und Zeit, in der Umstellung des Seins zum Tode auf das “Herstellen” und “Handeln” für die Demokratie, den Sinn ihrer Philosophie erblickte. [ 9 ] So mußte Hannah Ar endt, als sie die späten Werke Heideggers las, von dem schockiert sein, was zur selben Zeit Michel Foucault und Jacques Derrida zu faszinieren begann: daß der Mensch eben lediglich als eine Funktion des Seins zu begreifen wäre. Alle ihre Werke seit Vita activa können als Gegenentwurf zu dieser Spätphilosophie Heideggers und damit auch zum französischen (Post)Strukturalismus gelesen werden. [ 10 ] Und es klingt fast schon wie eine Provokation, wenn Heidegger ihr die Suggestivfrage stellt: “Durch welche Höllen muß der Mensch noch hindurch, bis er erfährt, daß er nicht sich selbst macht?” [ 11 ]

Aber drückt sich letztlich in dieser Gelassenheit, in der Heiterkeit des Seinlassens statt der Niederlage nicht vielmehr ein Triumph deutscher Ideologie aus? Wer integriert hier wen – lautet heute die Frage nicht nur im Fall von Deutschlands Stellung innerhalb der NATO. Bei den Briefen allerdings, die Heidegger zunächst an Arendt schrieb, kann von Gelassenheit durchwegs keine Rede sein. 1950 heißt es: “die wachsende Bedrohung durch die Sowjets” zwinge “uns jetzt (…) heller zu sehen, heller auch als jetzt der Westen sieht. Denn jetzt sind wir die unmittelbar Bedrohten. (…) Ich mache mir auch darüber nichts vor, daß ich mit meinem Denken zu den Bedrohtesten gehöre, die zuerst ausgelöscht werden (…) es kann auch geschehen, daß auf lange Zeit hinaus kein Weitergeben des Großen und kein Wiederbringen des Wesenhaften mehr möglich ist.” [ 12 ] In späteren Briefen aus den sechziger und siebziger Jahren tritt diese unmittelbare Bedrohung durch die Sowjetunion zurück und unter dem alten Begriff der Seinsvergessenheit (“die sich heute bis ins Äußerste steigert”) treten nun die Bedrohungen durch das “Informationszeitalter” – “die Macht des Wesens der Technik”. Inmitten des Wirtschaftswunders und an dessen Ende triumphierend bleibt Heidegger damit bei seiner Sache: die Krise deutsch denkend. Ja sein Denken ist nach wie vor im Kern faschistisch: denn wenn Heidegger gegen die Technik im Namen des Seins auftritt, dann denkt er den Wert – aber gegen das Wertgesetz, so wie der NS-Staat das Kapital zu seiner Sache machte, indem er der unmittelbaren kapitalistischen Rationalität zuwider handelte. Wie ehedem betreibt Heidegger die Ontologisierung der Krise als “ontologische Differenz”: “Die Geschichte des Seins (…) beginnt mit der Seinsvergessenheit, damit, daß das Sein mit seinem Wesen, mit dem Unterschied zum Seienden an sich hält.” [ 13 ] Und zur Wahrheit des Seins gehört es, daß das Sein “wohl wese” ohne das Seiende, daß niemals “aber” ein Seiendes sei ohne das Sein.

Groß ist die Klage über die “Wirrnisse des Weltalters” – und eindeutig der gegenüber Hannah Arendt geäußerte Zweifel: “Ich glaube nicht daran, daß Amerika die Sache schafft.” [ 14 ] In seiner ehemaligen Schülerin sieht er indessen die Möglichkeit, genau dort Einfluß zu gewinnen, damit die Sache doch geschafft werden könne: “Es wäre ein großartige und weittragende Sache, wenn der Übergang meines Denkens in die angelsächsische Sprachwelt durch Deinen überprüfenden Blick hindurch ginge und von ihm überwacht bliebe.” [ 15 ] Aber die Verbreitung des Heideggerschen Denkens entzieht sich natürlich einer solchen bewußten Kontrolle – und das wiederum geschieht nicht unabhängig von seiner spezifischen Doppeldeutigkeit. So gewinnt es seit den siebziger Jahren vor allem über den Umweg des französischen Poststrukturalismus, insbesondere über Lacan, Foucault und Derrida, Einfluß im Westen. [ 16 ]

Wird die Welt auch “immer düsterer”, ist Europa auch “nur noch ein Name”, wie Heidegger insbesondere nach 1945 klagte, sah er stets “trotz gesteigerter äußerer Bedrohung in allem eine Ankunft” [ 17 ] und bekannte sich bis zuletzt zum “Angriffscharakter” seiner Philosophie [ 18 ]. Ungebrochen ist dabei der Bezug aufs Abendland und dessen Kern: Deutschland – sie werden “weltgeschichtlich aus der Nähe zum Ursprung” begriffen. “Das ‘Deutsche’ ist nicht der Welt gesagt, damit sie am deutschen Wesen genese, sondern es ist den Deutschen gesagt, damit sie aus der geschickhaften Zugehörigkeit zu den Völkern mit diesen weltgeschichtlich werden.” Aber das ist nicht die Kinderhymne von Brecht, sondern nach wie vor das Deutschlandlied von Heidegger, denn weltgeschichtlich heißt Nähe zum Ursprung: “Die Heimat dieses geschichtlichen Wohnens ist die Nähe zum Sein.” [ 19 ] Deutschland, Deutschland am nächsten zum Sein.

Die Kehre, die Heidegger vollzogen hat, bedeutet zwar eine Abwendung von der Subjektivität, von der Möglichkeit des Eingriffs durch den Staat, aber sie ändert nichts an der Nähe zum Nationalsozialismus. “Soll aber der Mensch nocheinmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. (…) Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen (…).” [ 20 ] Nachdem der Führer als “Leithammel des Seins” (ISF Freiburg) abdanken mußte, das ganze Debakel des Seienden hinterlassend, ist also der Mensch “Hirte des Seins”, nicht mehr “Herr des Seienden”. Aber das “Da” kann ihn jeder Zeit wieder vor das “Seiende” als solches bringen, der Bedrohung ausliefern, dem Tod aussetzen, ins Nichts hineinhalten, so daß er das Seiende vernichten muß, um das Sein nicht zu vergessen, die Nähe zu ihm zu finden. Das “Totsein”, das Heidegger einst im “Sein zum Tode” als Möglichkeit des Ganzseinkönnens beschworen hat, gehört nunmehr – nach der großen Vernichtung – zum “innersten Sein” der Sterblichen, die durch die Vernichtung zum Ganzen geworden sind. Vernichtung und Ganzseinkönnen sind damit für das Sein jederzeit abrufbar geworden: “Jedesmal, wenn das Sein in seinem Geschick an sich hält, ereignet sich jäh und unversehens Welt (…) Das epochale Wesen des Seins ereignet das ekstatische Wesen des Da-Seins.” [ 21 ]

Es fällt heute nicht mehr schwer, hier bereits – also abermals “im Vorlauf” – den Jubel beim Fall der Berliner Mauer zu hören. [ 22 ] Hannah Arendt hat ihn nicht gehört. Dabei hatte ihr Heidegger doch geschrieben: “Was ich mache? Immer das Selbe.”

Nachbemerkung

“Immer das Selbe” – die ewige Wiederkehr des deutschen Wahns, sie kann von der bürgerlichen Gesellschaft des Westens im besten Fall rationalisiert werden – und kehrt in dieser Gestalt dann als Beschwörung der “Zivilgesellschaft” oder des “kommunikativen Handelns” nach Deutschland zurück. Schließlich handelt es sich um so etwas wie kommunizierende Gefäße im Ideologischen. Was in Deutschland ausgedacht und ebenda oder auch woanders fallweise umgesetzt wird, vermag nicht wirksam bekämpft und kritisch aufgelöst zu werden, solange sich das Denken jenes gesellschaftliche Unbewußte nicht bewußt macht, das die Existenz von Nationen ebenso voraussetzt wie es Krisenbewältigung durch Menschenvernichtung notwendig hat; solange also mit dem unwahren Ganzen nicht gebrochen wird.

Abschaffen könnte den mörderischen Wahn nur eine Gesellschaft ohne Kapital und Staat – was zu Heinrich Heines Zeiten Kommunismus genannt wurde. “Aus Haß gegen die Anhänger des Nationalismus könnte ich schier die Kommunisten lieben”, bekannte Heine, weil er darauf hoffte, daß der Kommunismus die “sogenannten Vertreter der Nationalität in Deutschland” als “erste auf seinem Weg finden” und “ihnen den Gnadenstoß versetzen” werde – “und gewiß nicht mi t einem Keulenschlag, nein mit einem bloßen Fußtritt, wie man eine Kröte zertritt, wird der Riese sie zertreten. Damit wird er beginnen.” [ 23 ]

Was darüber hinaus von einem Kommunismus zu erwarten ist, der statt das Privateigentum zu verstaatlichen, den Staat selber abschafft, hat später – als die Vertreter der Nationalität in Deutschland bereits das Reich all ihrer Träume errichtet hatten – Walter Benjamin formuliert. Er tat es ganz beiläufig, in einem Brief an Werner Kraft, – und vermutlich nur beiläufig läßt sich über Kommunismus ernsthaft etwas sagen. Mit Bezug auf Krafts vorangegangenen Brief schreibt Benjamin: “Sie gestehen, den Kommunismus ‘als Menschheitslösung’ vor der Hand nicht annehmen zu wollen. Aber es handelt sich ja eben darum, durch die praktikablen Erkenntnisse desselben (des Kommunismus) die unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspektive auf ‘totale’ Systeme aufzugeben, und den Versuch zumindest zu unternehmen, den Lebenstag der Menschheit ebenso locker aufzubauen, wie ein gutausgeschlafener, vernünftiger Mensch seinen Tag antritt.” [ 24 ]

aus: Gerhard Scheit: Die Meister der Krise: Über den Zusammenhang von Menschenvernichtung und Volkswohlstand, ça ira-Verlag (Freiburg) 2001

Anmerkungen

[ 1 ] Zit.n. Farias S.370
[ 2 ] Martin Heidegger: Nietzsches Wort ‘Gott ist tot’. [1943] Holzwege. 7.Aufl. Frankfurt am Main 1994, S.258f.
[ 3 ] Ebd. S.264
[ 4 ] Ebd. S.257
[ 5 ] Ebd. S.265
[ 6 ] Korrespondenz Martin Heidegger / Herbert Marcuse im Nachlaß Herbert Marcuses. Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main; zit.n. Farias S.374
[ 7 ] Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, S.658f.
[ 8 ] Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. [1973/1977] München 1998, S.415
[ 9 ] Während Herbert Marcuse mit seinen konsequenten Fragen Heidegger zur Schuldabwehr provozierte, setzte Hannah Arendt auf eine Umerziehung des Belasteten. Philosophisch können ihre Schriften als Versuch gesehen werden, Heideggers Ontologie zu rationalisieren. Vita Activa (1958) entspricht in diesem Zusammenhang dem Wunsch, Heideggers Philosophie vom Sein zum Tode in eine vom Sein zur Welt zu wenden. Was bei Heidegger als Alltäglichkeit, als Man und Gerede firmiert, wendet Arendt nun zur Kritik der Arbeit, die den Menschen in ein “animal laborans” verwandelt. Der Krise der Arbeitsgesellschaft und der Weltlosigkeit des animal laborans empfiehlt Arendt als Möglichkeit des Ganzseinkönnens nicht das Sein zum Tode, sondern das “Herstellen” und das “Handeln”. In diesen Kategorien ist ihr philosophischer Gegenentwurf zu Heidegger wie zur totalitären Herrschaft formuliert, und unschwer läßt sich darin eine Art Ontologie des New Deal erkennen: das Herstellen und sein Verhältnis zur Arbeit ist – wie ein abstraktes Modell – der keynesianischen Staatsintervention als Bereitstellung von Infrastruktur und deren Funktion als Arbeitsbeschaffungsprogramm nachgebildet. Die gesamte Tätigkeit von “Homo faber” – Personifikation des Herstellens – bestehe darin, “Maßstäbe anzuwenden und Meßbarkeit jeglicher Art in das ‘Chaos’ zu tragen …” (Vita Activa. 6.Aufl. München-Zürich 1989, S.154) Mit diesem Chaos meint Arendt offenkundig das Marktgeschehen, denn der Maßstab des Herstellens soll über dem des Geldes stehen, so wie sich die Geldpolitik im Keynesianismus über den Markt hinwegsetzt – Herstellen ist deficit spending: “das Geld, das ja offensichtlich als eine Art von Maßstab für die Bewertung der Dinge im Austausch dient, ist natürlich selber eine Ware, bzw. ‘Wert’, und besitzt in keiner Weise die objektive Eigenständigkeit, die dem Maßstab zukommt, der alles, womit er in Berührung kommt, prinzipiell übersteigt und überdauert …” (S.154)
Über Franklin D. Roosevelt selbst und den Keynesiansmus hat Hannah Arendt in etwa sowenig publiziert wie Heidegger über Hitler und den Faschismus: es handelt sich in beiden Fällen eher um unbewußte, verdrängte oder verborgene Referenzpunkte des Denkens. Bereits sehr früh kritisierte Arendt allerdings den Wohlfahrtsstaat, soweit er jene politische Perspektive des “Handelns” verlor, die noch der Kampf gegen Hitler geboten hatte. Sie sah darin das Projekt, “Handeln durch Herstellen zu ersetzen”, eine “Degradierung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höheren, jenseits des Politischen gelegenen Zwecks” – und zwar “der Produktivität und des Fortschritts der Gesellschaft”. So sieht die Philosophin das Handeln unter die Räder kommen. Aber auch Homo faber wird geschlagen: Hannah Arendt prophezeit den “Sieg des animal laborans” – und nimmt den Begriff wörtlich, wenn sie von “Gefahrensignalen” dafür spricht, “daß der Mensch sich anschicken könnte, sich in die Tiergattung zu verwandeln, von der er seit Darwin abzustammen meint.” (Vita activa S.315) Alles Seiende droht sich in die Funktion eines subjektlosen Prozesses zu verwandeln. “Damit verschwindet die letzte Spur von Handeln aus dem Tun der Menschen, nämlich die Triebfeder, die immerhin noch in den egoistischen Interessen am Werke ist. Was nun übrig bleibt, ist in der Tat eine ‘Naturkraft’” (Vita activa , S.313) Hannah Arendt hütet sich bei dieser Naturkraft vom “Sein” zu sprechen: Was sie düster prophezeit, ist aber nichts anderes als die Verwirklichung von Heideggers Spätphilosophie.
[ 10 ] Zur Auseinandersetzung Arendts mit Heidegger vgl. Gerhard Scheit: Immer das Selbe. In: konkret 10/1999, S.60-64
[ 11 ] Brief an Hannah Arendt vom 12.4.1968. Arendt / Heidegger, Briefe, S.167
[ 12 ] Brief an Hannah Arendt vom 12.4.1950. Arendt / Heidegger, Briefe, S.94
[ 13 ] Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander. [1946] Holzwege, S.364
[ 14 ] Brief an Hannah Arendt vom 15.9.1950. Arendt / Heidegger, Briefe, S.117
[ 15 ] Brief an Hannah Arendt vom 21.4.1954. Arendt / Heidegger, Briefe, S.144
[ 16 ] Diese jüngste Bewegung der Heidegger-Rezeption, die dem Meisterdenker der Krise in einer neuen Sprache aber mit weniger Vorbehalten denn je entgegenkommt, mußte zunächst die Sartresche Humanisierung Heideggers beiseiteräumen und konnte in diesem Zusammenhang das Mißverständnis aufdecken, das den französischen Existentialismus mit der deutschen Existenzphilosophie verband: Sartre hatte – hier der Entwicklung von Hannah Arendts Philosophie sehr ähnlich – Heideggers Begriff vom Dasein mit “réalité humaine”, menschlicher Wirklichkeit, übersetzt (L’existentialisme est un humanisme. [1946] Paris 1970, S.17) und von der Seinsfrage abgetrennt. Diese menschliche Wirklichkeit war damit von jeder wahnhaften völkischen Konkretion, aber auch von jedem Bezug auf den realen Staat freigesetzt und erinnerte in ihrer Abstraktheit an die Kantsche Formalisierung im Moralischen. In seinem Brief an Jean Beaufret, der 1947 unter dem Titel Über den Humanismus erschien, wandte sich Heidegger gegen eine solche Interpretation seines Begriffs. Und von dieser Klarstellung ausgehend, erledigten einige linke wie rechte französische Intellektuelle (zu ihnen zählte übrigens auch Althusser) die Entsorgung des Sartreschen Humanismus, sobald die Zeit dafür reif war . Derrida bezeichnete die Übersetzung des Heideggerschen “Daseins” in “menschliche Wirklichkeit” als “monströs” und rückte ganz im Sinne Heideggers zurecht, daß “das Denken des Eigentlichen des Menschen untrennbar von der Frage oder der Wahrheit des Seins ist.” (Fines hominis. In: J. D.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S.123 u. 131)
[ 17 ] Brief an Hannah Arendt vom 15.12.1952. Arendt / Heidegger, Briefe, S.137f.
[ 18 ] Brief an Hannah Arendt vom 17.9.1974. Arendt / Heidegger, Briefe, S.251
[ 19 ] Martin Heidegger: Über den Humanismus. [1947] 9. Aufl. Frankfurt am Main 1991, S.29
[ 20 ] Ebd. S.10
[ 21 ] Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S.338
[ 22 ] Lukács zeigt sich am Ende seines Buchs über die Zerstörung der Vernunft doch noch einmal sehr hellhörig: er zitiert Heideggers zahllose Fragen aus dem Nachwort zur vierten Auflage von Was ist Metaphysik? “Sind wir Heutigen bereits abendländisch in einem Sinne, der durch unseren Übergang in die Weltnacht erst aufgeht? (…) Sind wir die Spätlinge, die wir sind? Aber sind wir zugleich auch die Vorzeitigen der Frühe eines ganz anderen Weltalters, das unsere heutigen historischen Vorstellungen von der Geschichte hinter sich gelassen hat?” – und er setzt in Klammern hinzu: “Freilich, wenn eventuell ein deutscher Imperialismus sich selbständig macht und wieder die Weltmacht anstrebt, können diese Worte Heideggers auch für ihn als ‘Prophetie’ geltend gemacht werden.” (Lukács, Zerstörung der Vernunft, S.660f.)
[ 23 ] Heinrich Heine: Vorwort zu Lutetia. [1855] Werke und Briefe. Berlin-Weimar 1980, Bd. 6., S.248
[ 24 ] Walter Benjamin: Briefe 2. Hg.v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main 1978, S.616

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