Helmut Reichelt – Vorwort zur Neuauflage * Leseprobe aus: Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx

Vorwort zur Neuauflage

Helmut Reichelt

Bei der Vorbereitung dieser als Dissertation vorgelegten Untersuchung zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx, der erste Versuch einer Rekonstruktion der Marxschen dialektischen Methode im Kapital, habe ich einen zentralen Hinweis übersehen: schon kurz nach der Veröffent­lichung der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie im Jahre 1859 schrieb Marx an Engels, daß die Fortsetzung “viel populärer und die Methode vielmehr versteckt (sein werde) als in Teil I”. [ 1 ] Marx hat es also seinen Lesern nicht leicht gemacht: einerseits präsentiert er ein Werk mit hohem wissenschaftlichen Anspruch; andererseits “versteckt” er die Methode, durch die sich gerade Wissenschaftlichkeit definiert. Daß die Dialektik im Kapital “reduziert” wurde, hat Gerd Göhler konstatiert [ 2 ] , und in der Tat läßt sich nachweisen, daß Marx auch noch in der zweiten Auflage des Kapitals methodologischen Passagen ersatzlos gestrichen hat, die wesentlich sind für das Verständnis der Marxschen Verfahrensweise. [ 3 ] Gründe, Umfang und Bedeutung dieser “Reduktion” sind bis heute nicht geklärt. Aber will man ihr nachgehen und die Methode rekonstruieren, so muß man sich offensichtlich an jene Schriften halten, wo sie gewissermaßen “unversteckt” vorliegt, nämlich den unmittelbaren Vorarbeiten zum Kapital, also vor allem den sogenannten Rohentwurf des Kapitals und den Urtext der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie.

Daß sich Marx bei der Niederschrift dieses voluminösen Entwurfs an Hegels Logik orientierte, läßt sich seinen expliziten Hinweisen entnehmen; aber Hegelkenntnisse allein bieten keine Gewähr für ein adäquates Verständnis dieses Textes. Zu viele Hegelianer haben sich erfolglos an diesem Text versucht. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Methode in den beiden genannten Schriften “noch nicht versteckt” wurde, gibt es offensichtlich zusätzliche Hindernisse, die den Zugang erschweren. Neben der oben zitierten Marxschen methodologischen Bemerkung habe ich, wie übrigens alle Autoren, die sich mit den Planänderungen im Kapital beschäftigten, auch eine fundamentale Differenz zwischen dem Rohentwurf und den veröffentlichten Schriften übersehen, deren Bedeutung sich allerdings erst vor dem Hintergrund kategorialer Fragestellungen erschließt, die mit der Rekonstruktion der dialektischen Methode verknüpft sind. Im Rohentwurf unterscheidet Marx den “Tauschwertsetzenden Verkehr” von der “Tauschwertsetzen­den Arbeit”. Ersteres bezeichnet er auch als “einfache Zirkulation”, ein Ausdruck, der bereits in der Kritik kaum noch und im Kapital überhaupt nicht mehr auftaucht; der Begriff der Tauschwertsetzenden Arbeit kann als eine frühere Bestimmung des Doppelcharakter der Arbeit gelesen werden, der Ausdruck wird auch noch in der Kritik häufiger gebraucht. Die Tauschwertsetzende Arbeit wird auch charakterisiert als “praktisch wahr gewordene abstrakte Arbeit” [ 4 ] , der Gegenbegriff wird zwar nicht ausdrücklich als “theoretische Wahrheit” der abstrakten Arbeit bezeichnet, aber innerhalb der Darstellungskonzeption wird die abstrakte Arbeit als “Arbeit an sich” behandelt, als Kategorie, die “mehr noch in unsere subjektive Reflexion fällt.” [ 5 ]

In der Literatur wird zwar notiert, daß Marx im Rohentwurf einen vom Kapital unterschiedenen Aufbau der Darstellung verfolgt: mehrfach betont Marx, daß der Wert die erste Kategorie in der Kritik ökonomischer Kategorien sei, oder, um “den Begriff des Kapitals zu entwickeln, … es nicht nötig (ist) von der Arbeit, sondern vom Wert auszugehen, und zwar von dem schon in der Bewegung der Zirkulation entwickelten Tauschwert”. [ 6 ] Die selbstkritische Bemerkung jedoch, die sich im Kontext der Geldentwicklung findet, daß es “später nötig sein(wird)…. die idealistische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe….”. [ 7 ] , wird als Bestätigung gewertet, daß der Rohentwurf weithin eine idealistische, lediglich immanent-begriffliche Entwicklung darstelle, gegenüber der Kritik und dem Kapital, wo Marx von der Ware ausgehe, und sich damit auf festem materialistischem Boden bewege. [ 8 ] Es läßt sich auch zeitlich eingrenzen, wann diese Änderung der Darstellungskonzeption erfolgte, aber nirgends finden sich bei Marx explizite Hinweise über Gründe dieser Veränderung [ 9 ] .

Was hat es nun mit diesem Konzept der einfachen Zirkulation, auf das ich seinerzeit schon aufmerksam gemacht habe, für eine Bewandtnis? [ 10 ] Dieser Begriff ist doppeldeutig: zum einen wird der tauschwertsetzende Verkehr in einer historischen Dimension verstanden, allerdings nicht im Sinne einer platten historischen Schilderung (wie dies , im Anschluß an unglückliche Formulierungen von Engels, in der marxistischen Orthodoxie als Verhältnis von Logischem und Historischen kanonisiert wurde); man könnte sie vielmehr als das Ineinandergreifen einer Entwicklungslogik und einer Entwicklungsdynamik begreifen, die aber von Marx nicht explizit ausgearbeitet wurde. Zum andern verbindet Marx mit dem Begriff der einfachen Zirkulation die Konzeption einer “Oberfläche” des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses, die ganz offensichtlich an der Hegelschen Logik orientiert ist. Manche Formulieren legen sogar den Gedanken nahe, daß es sich um wortwörtliche Übernahmen handelt, wie z.B. beim Übergang zum Kapital, der dem Übergang von der Seins- zur Wesenslogik nachgebildet ist. [ 11 ]

Übersieht man die Doppelbedeutung dieser Konzeption (was bislang immer geschehen ist), bleibt auch der Zugang zur Marxschen Methode versperrt, die er im Rohentwurf “anwendet”, eine Formulierung von Marx, die zumindest irritiert – denn der Ausdruck Anwenden suggeriert, daß es sich dabei um eine fertig vorliegende Methode handle. Aber läßt sich den eine Methode, von der es immer wieder heißt, daß sie abgelöst vom Inhalt nicht expliziert werden könne, auf einen anderen Gegenstand “anwenden”? Und dies auch noch, ohne den Preis des Idealismus zu bezahlen – denn dieser Inhalt ist bei Hegel die “Selbstbewegung der Sache”, und diese letztlich der sich selbst explizierende Begriff? Der Vorwurf, daß die Marxsche Darstellung des “allgemeinen Begriffs des Kapitals” lediglich eine theoretische Konstruktion darstelle, die eine innere Notwendigkeit suggeriere und das Kapital als eine logisch-immanente Begriffsexplikation zu entwickeln suche, liegt nahe, zumal Marx nirgends auch nur ansatzweise erläutert hat, was ihn sachlich berechtigt, die Realität des Kapitalismus in die Form eines “allgemeinen Begriffs des Kapitals” zu übersetzen. [ 12 ]

Marx hat in einem Brief an Lassalle seine theoretische Arbeit charakterisiert als “Kritik der ökonomischen Kategorien, oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt..” [ 13 ] . Wie Hans-Georg Backhaus [ 14 ] detailliert an den Marxschen Texten nachgewiesen hat, bezieht sich der Kritikbegriff und der Ausdruck “System der bürgerlichen Ökonomie” nicht nur, wie dies im orthodoxen Marxismus ausschließlich verstanden wurde, auf die Kritik anderer Theorien, sondern auch auf die Wirklichkeit dieses ökonomischen Systems. Aber was ist die Wirkl ichkeit dieses ökonomischen Systems? Es sind die Formen, unter denen die Menschen produzieren und austauschen, die sich zu einem realen, von Widersprüchen und Krisen gebeutelten System zusammenfügen, ein verselbständigtes Getriebe, das er schon in den Pariser Manuskripten als verkehrte Welt charakterisiert, deren praktische Abschaffung das Ziel der kommunistischen Bewegung sein sollte: “Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Besis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als das Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.” [ 15 ] Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie besteht also nicht aus einer neuen Variante der sogenannten Arbeitswerttheorie (dies auch), sondern – und das unterscheidet die Marxsche Ökonomiekritik von aller ökonomischen Theorie – ist die theoretische Entwicklung dieser realen Verkehrung und Verselbständigung. Der Kritikbegriff in diesem Sinne ist identisch mit dem Begriff der Darstellung als schrittweis genetische Entwicklung dieser Verselbständigung aus einem “realen Prinzip”; Adorno nennt es das Tauschprinzip, aus dem die Gesellschaft zu entwickeln sei, die er mit fast den gleichen Worten charakterisiert wie der junge Marx: “Die objektive Rationalität der Gesellschaft des Tausches entfernt sich durch ihre Dynamik immer weiter von dem Modell der logischen Vernunft. Darum ist Gesellschaft, das Verselbständigte, wiederum auch nicht länger verstehbar; einzig das Gesetz der Verselbständigung.”(meine Hervorhebung, H.R.) [ 16 ] . Eine treffende Charakterisierung der Marxschen Dialektik, nämlich Rekonstruktion dieses Gesetzes eines gesellschaftlichen Irrationalisierungsprozesses.

Versuchen wir uns dem Problem auf der Ebene der ökonomischen Wissenschaft zu nähern. Hans-Georg Backhaus hat in vielen Publikationen [ 17 ] immer wieder darauf hingewiesen, daß die ökonomische Wissenschaft durch einen Widerspruch charakterisiert ist, der aber nur den wenigsten Ökonomen bewußt ist: sie setzt in allen makroökonomischen Überleguungen einen abstrakten, objektiven, absoluten Wert veraus, den sie aber selbst nicht begründen kann. In der älteren Literatur wird es charakteri­siert als eine Wertmenge, ein Wertvolumen, das Sozialprodukt als eine Wertmasse. Dieser addierbare, objektive, abstrakte Wert, der auch noch wächst, ein intertemporaler objektiver Wert also, ist die Bedingung der Möglichkeit ökonomischer Wissenschaft, ihr “eigentlicher” Gegenstand, doch nur wenige Ökonomen haben dies gesehen. Schumpeter stellt fest: “Streng genommen” sind die Begriffe der Makroökonomie, also ihre Gesamtgrößen “sinnlos” [ 18 ] . Er mokiert sich darum auch über die Ökonomen – er nennt u.a. auch Keynes -, daß sie “ohne Symptome eines kritischen Bewußtseins mit diesen Größen operieren” [ 19 ] . Dieser Wert ist von dem Öko­nomen Sismondi (also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) charakterisiert worden als “kommerzielle Idee”, ganz bewußt in Anspielung auf die platonische Ide­enlehre. Er vergleicht diesen Wert mit einer “metaphysischen, unsubstantiellen Qualität im Besitz desselben cultivateurs” . Und dieser Wert liegt jenseits der beiden Werttheorien , also der subjektiven Werttheorie, der Nutzentheorie des Wertes, und der so genannten objektiven Theorie, der Ar­­beitswerttheorie, die von Adam Smith und insbesondere von David Ricardo ausgearbeitet worden ist. Diese beiden Werttheorien werden heute, so­weit ich sehe, überhaupt nicht mehr diskutiert, und dieser dritte Wertbegriff ebenfalls nicht. Es ist gewissermaßen eine ökonomische Wis­senschaft “ohne Wert”. (Ähnlich sprach Adorno von der Soziologie als einer Wissen­schaft ohne Gesellschaft.) Schumpeter notiert in seiner Dogmengeschichte, daß Marx im Kapital eine Theorie entwickelt, die genau diese Problematik ins Zentrum rückt, ohne daß aber Marx explizit davon spricht: nämlich die Begründung des objektiven und absoluten Wertes, dh addierbarer Werte, die zu einem Sozialprodukt zusammengezählt werden können. Schumpeter gibt aber an dieser Stelle seiner Dogmengeschichte keine Aus­kunft darüber, wie er mit dieser Entdeckung umgehen will.

Überraschenderweise hat auch ein Philosoph, nämlich Klaus Hartmann, in seinem voluminösen Buch über Marx diese Entdeckung gemacht. Auch er konstatiert: “Wäre der Tauschwert der einzig ökonomische Wertbegriff, so gälte für ihn, daß er nur rela­tionaler Begriff, vermittelnde Kategorie, wäre für Austauschakte. Man könnte dann solche Tauschwerte nicht addieren, auch keinen Gesamtwert berechnen. Dies soll aber möglich sein, insofern Marx die Akkumulation von Wert und Geld und Kapital dartun möchte und an späterer Stelle auch zur makroökonomischen Gesamtrechnung über­geht”. [ 20 ] Hartmann sieht also das Problem sehr genau. Die Lösung kann nur ein absoluter Wert sein, das wäre aber, und das ist sein Vorwurf an die Marx’sche Addresse, eine “Er­schleichung”. Werner Hoffman, vor einigen Jahren verstorbener Ökonom, spricht dann auch konsequent vom absoluten Wert, wenn er Wachstumstheorien diskutiert.

Dieser abstrakte, objektive, absolute Wert, den die makroökonomische Theorie zu einer Gesamtwertmenge des Sozialproduktes aufaddiert, ist zentraler Gegenstand der Marxschen Kritik, die diesen Wert aus seinen Ursprüngen entwickelt bis hin zu dieser Form, in welcher der “ganze Reichtum der Gesellschaft” als eine Warenmenge, also Wertmenge erscheint. Wiederholt finden sich im Rohentwurf Wendungen wie: der “unentwickelte” Wert; die “weitere Entwicklung des Tauschwerts” [ 21 ] , der “Tauschwert in seiner Bewegung” [ 22 ] , der “verselbständigte Tauschwert” [ 23 ] , der “voll­endete Tauschwert” [ 24 ] . Ausdrücklich ist von einer Bewegung des Wertes die Rede, aber kann eine solche Redeweise überhaupt auf etwas Sinnvolles hinweisen oder ist es schiere Spekulation? Was kann überhaupt Bewegung in diesem Kontext heißen? Gedacht ist ein sich identisch durchhaltendes Allgemeines, das verschiedene Formen annimmt, sich in diesem Formwandel erhält und und darüber hinaus vergrößern kann. Doch was ist dieses Allgemeine? Der Wert natürlich! Aber was ist der Wert? Vergegenständlichte Arbeitszeit heißt es dann im Rohentwurf. Das damit erhebliche Probleme verbunden sind, wird weiter unter angesprochen. Im Rohentwurf wird dies einfach behauptet und der Versuch gemacht, den in der Zirkulation verselb­ständigten Wert – nämlich die Geldform – als Ausgangspunkt der ganzen Verselb­ständigungs­bewegung zu begreifen, den “Begriff des Kapitals” aus dem Wert in der Zirkulation abzuleiten. In mehreren Schritten ( die in diesem Buch nachgezeichnet sind) wird dieser Verselbständigungs­prozeß sowohl im Rohentwurf wie in Urtext verfolgt bis zum ersten abstrakten Begriff des Kapitals: “Die Verselbständigung erscheint nicht nur in der Form, daß es als selbstän­diger abstrakter Tauschwert – Geld – der Zirkulation gegenübersteht, sondern daß diese zugleich der Prozeß seiner Verselbständigung ist; es ( das Kapital, H.R.) als Verselbständigtes aus ihr wird.” [ 25 ] .

Nun kann hier nicht die ganze Argumentation wiederholt werden; worauf es ankommt ist allein der Nachweis, daß die Marxsche Intention im Rohentwurf und auch im Urtext darauf gerichtet war, das Kapital in seiner gesamten Widersprüchlichkeit und Gesetzmäßigkeit aus dem Nachvollzug dieser Wertverselbständigung zu entwickeln. “Die Exakte Entwicklung des Kapitalbegriffs nötig, da er der Grundbegriff der modernen Ökonomie, wie das Kapital s elbst, dessen abstraktes Gegenbild sein Begriff, die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Aus der scharfen Auffassung der Grundvoraussetzungen des Verhältnisses müssen sich alle Widersprüche der bürgerlichen Produktion ergeben, wie die Grenze, an der es über sich hinaustreibt.” [ 26 ] .Daß sich methodische Probleme ergeben bei der Durchführung dieser dialektischen Konzeption, wurde oft festgestellt unter Hinweis auf eine selbstkritische Bemerkung zu den Grenzen der “dialektische Form der Darstellung”. [ 27 ] Marx bezieht sich in dieser Feststellung auf die Existenz der Arbeiterklasse, deren Entstehung nicht selbst noch aus dem “Begriff entwickelt” werden kann.

Nun wurde oben schon auf die Doppelbedeutung des Begriffs der einfachen Zirkulation hingewiesen. Im Laufe der Niederschrift präzisiert sich diese Doppelläufigkeit und damit tritt auch ein Problem immer schärfer heraus: was er im Rohentwurf als Sphäre des Scheins identifiziert, die einfache Zirkulation, die er auch schon im Rohentwurf als Oberfläche des kapitalistischen Reproduktionsprozesses bezeichnet, ist die Ware als Produkt des Kapitals. Der Zirkulationsprozeß erscheint als einfacher Austausch, und die Ökonomie sitzt diesem Schein auf; sie ist als Theorie die Formulierung dieses Scheins. An sich haben wir es aber immer schon mit dem Zirkulationsprozeß des Kapitals zu tun, das aus dem Produktionsprozeß heraustritt und die Ware auf den Markt wirft. Mit dieser Ware beginnt Marx die Darstellung in der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie wie auch dann im Kapital. Damit wird eine der beiden Bedeutungen dieses Begriffs verabsolutiert, der Ausdruck “einfache Zirkulation” wird nicht mehr gebraucht, zugleich erscheint es widersinnig, jetzt noch von einer Bewegung der Wert-Verselbständigung zu sprechen, wenn Marx bereits mit der Ware als dem Produkt des kapitalistischen Produktionsprozesses, dem gesellschaftlichen Resultat dieses Verkehrungs- und Verselbständigungsprozesses, beginnt. Wenn die Entwicklung des Kapitalsbegriffs aus dem in der Zirkulation verselbständigten Wert eliminiert wird, kann auch die weitere Entwicklung des Kapitals kaum noch nach dieser Methode erfolgen: sie muß also sie muß “versteckt” werden. Systematisch werden alle Hinweise auf diese Verfahrensweise entweder eliminiert oder in den Hintergrund geschoben. [ 28 ]

Mit dieser Darstellungskonzeption verbindet sich eine weitere methodische und theoretische Problematik. Im Gegensatz zum Rohentwurf, der – entsprechend der Unterscheidung zwischen tauschwertsetzendem Verkehr und tauschwertsetzender Arbeit – zwischen der “theoretischen Wahr­heit” der abstrakten Arbeit, die “mehr noch in unsere subjektive Reflexion fällt”, und der praktisch wahrgewordenen abstrakten Arbeit unterscheidet, und damit überhaupt erst die Kategorie der abstrakt-allgemeinen Arbeit sowie die Arbeitswerttheorie systematisch begründet, wird der Begriff der abstrakten Arbeit im Kapital definitorisch eingeführt. Abgesehen davon, daß dies schon kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes kritisiert wurde, bleibt auch der Begriff selbst dunkel und ist in der gesamten Geschichte der Auseinandersetzung mit der Marxschen Werttheorie nicht aufgehellt worden und auch die Verbindung zum Wert selbst bleibt unaufgeklärt. Diese Frage stellt sich aber im Grunde erst, wenn die spezifische Natur der Tauschabstraktion zur Debatte gestellt wird. Sohn-Rethel hat, im Anschluß an Simmels Wortprägung [ 29 ] , von einer Realabstraktion gesprochen, Adorno hat diesen Gedanken von Sohn-Rethel übernommen und die Tauschabstraktion als eine “in der Sache selbst waltende objektive Begrifflichkeit”, als eine “objektive Abstraktion” charakterisiert. Aber die Interpretationen blieben unbefriedigend oder es blieb, wie bei Adorno, bei programmatischen Andeutungen.

In der Tat kann man sich auf Marx beziehen, der keinen Zweifel daran läßt, daß der Wert ein Abstraktionsprodukt darstellt, das die am Austausch Beteiligten selbst hervorbringen. Allerdings nicht im Rohentwurf, sondern erst im Kapital finden sich explizite Hinweise , was man sich unter Kategorien zu denken hat und daß sie in Verbindung mit dem Wert als einer von den Austauschenden selbst vollzogenen Abstraktion zu entwickeln sind. Kategorien werden dort in aller wünschenswerten Deutlichkeit als “objektive Gedankenformen” [ 30 ] bezeichnet, als “subjektiv-objektiv” charakterisiert, und der Wert als Abstraktionsprodukt, das “im Kopf existiert”: “Äquivalent bedeutet hier nur Größengleiches, nachdem beide Dinge vorher in unserem Kopf still­schwei­gend auf die Abstraktion Werth reduziert worden sind” [ 31 ]

Angesichts dieser Bestimmung des Wertes als einer gedanklichen Abstraktion stellt sich die Frage, wie der Zusammenhang von Arbeit und Wert zu denken ist. Allerdings eben nur, wenn man das Marxsche Programm ernst nimmt, wie er dies im ersten Band knapp zusammenfaßt: “Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch die Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt.” [ 32 ] Aber wie transformiert sich die abstrakt-menschliche Arbeit, die als “Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.” [ 33 ] bestimmt wird, in diese Abstraktion des Wertes? Wie kann diese Verausgabung die “Form des Wertes annehmen”. Wie hängt die eine Abstraktion mit der anderen zusammen?

Die Beantwortung dieser Frage läßt sich meines Erachtens nur über die eingehende Explikation einer Konzeption gewinnen, die sich bei Marx nur in Andeutungen findet, und die in der gesamten Diskussion über die Marxsche Theorie weder entdeckt noch eingehender erörtert worden ist. Marx operiert im Kapital mit einem Konzept von Geltung, das zwar terminologisch nicht zu übersehen ist – weit über dreißig Male spricht er von Geltung in unterschiedlichen Wortverbindungen allein im Anhang “Die Wertform” in der Erstauflage – , aber er erläutert diesen an Hegels wesenslogische Konzeption der setzenden und äußeren Reflexion anknüpfenden Gedanken nur indirekt durch versteckte Hinweise und Beispiele. Erst in diesem Kontext scheint eine befriedigende Thematisierung der “Wertabstraktion” – als Einheit von Geltung und Sein – möglich zu sein. Dies würde auch eine andere Deutung des Begriffs der abstrakt-allgemeinen Arbeit ermöglichen sowie die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage, warum Marx den Kapitalismus in der Gestalt eines “allgemeinen Begriffs des Kapitals” darstellen kann. [ 34 ]

Anmerkungen

[ 1 ] Marx an Engels am 9. 12. 1861, in: MEW, Bd 30, S.207; auf diese Briefstelle hat mich Hans-Georg Backhaus aufmerksam gemacht.

[ 2 ] Gerhard Göhler, Die Reduktion der Dialektik durch Marx, Stuttgart 1980

[ 3 ] So z.B. den folgenden Absatz, der zum zweiten Kapitel sowohl in der Kritik wie auch im Kapital überleitet, und in der zweiten Auflage ersatzlos gestrichen wurde: “Die Waare ist unmittelbare Einheit von Gebrauchswerth und Tauschwerth, also zweier Entgegengesetzten. Sie ist daher ein unmittelbarer Widerspruch. Dieser Widerspruch muß sich entwickeln, sobald sie nicht wie bisher analytisch bald unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchswerths, bald unter dem des Tauschwerths betrachtet, sondern als ein Ganzes wirklich auf andere Waaren bezohen wird. Die wirkliche Beziehung der Waaren aufeinander ist ihr Austauschprozeß.”.In: MEGA II 5, S.51. Ebenso den Überleitungssatz im Akkumulationskapitel: “Der Fortgang der Darstellung führt später durch seine eigne Dialektik zu jenen konkreteren Formen” nach dem Satz:”Seine reine Analyse erheischt daher vorläufiges Wegsehen von allen Phänomenen, welche das innere Spiel seines Mechanismus verstecken”. MEGA II 5, S.457

[ 4 ] vgl: Einleitung, in: MEW Bd 42, S. 39; ebenso im Rohentwurf, in MEW Bd. 42, S. 219

[ 5 ] MEW 42, S. 219

[ 6 ] MEW 42, S. 183

[ 7 ] MEW 42, S. 85f

[ 8 ] vgl. Fred. E. Schrader, Restauration und Revolution, Die Vorarbeiten zum “Kapital” von Karl Marx in seinen Studienheften 1850-1859, Hildesheim 1980, S. 205

[ 9 ] Schrader, S. 204 f

[ 10 ] Diese Konzeption darf nicht verwechsel werden mit der von Friedrich Engels entwickelten Vorstellung der “einfachen Warenproduktion”, die er gegen die kapitalistische Warenproduktion abgrenzt. Vgl. Engels in “Ergänzung und Nachtrag zum 3. Buch des Kapital”, MEW 25, S. 905ff. Da die Konzeption der einfachen Zirkulation nicht identisch ist mit der Engelsschen Vorstellung, dürfte sie in der Sowjetunion nicht diskutiert werden. Zum Begriff der einfachen Zirkulation jetzt auch: Nadja Rakowitz, Einfache Warenproduktion, Ideal und Ideologie, Freiburg 2000,

[ 11 ] “Das Geld in seiner letzten, vollendeten Bestimmung erscheint nun nach allen Seiten als ein Widerspruch, der sich selbst auflöst, zu seiner Auflösung treibt…” in: MEW 42, S.160 . Und bei Hegel heißt es im Übergang in das Wesen: “Das Sich- Aufheben der Bestimmung der Indifferenz aber hat sich bereits ergeben; sie hat sich in der Entwicklung ihres Gesetztseins nach allen Seiten als der Wiederspruch gezeigt. Sie ist an sich die Totalität, inder alle Bestimmungen des Seins aufgehoben und enthalten sind..” in: G.W.Hegel, Wissenschaft der Logik I, Frankfurt 1986, S. 456. Wenn Marx später sein Verhältnis zu Hegel als ein Kokettieren mit der Hegelschen Sprache bezeichnet, so ist dies nicht nur eine Untertreibung, sondern eine regelrechte Irreführung. Denn die Übereinstimmung des konzeptionellen Aufbaus ist tiefgreifend. So wie alle Bestimmungen der Seinslogik in der Wesenslogik aufgehoben werden, will auch Marx zeigen, daß sich die Sphäre der einfachen Zirkulation im weiteren Verlauf als eine Abstraktion erweist: “Die Zirkulation in sich selbst betrachtet ist die Vermittlung vorausgesetzter Extreme. Aber sie setzt diese Extreme nicht. Als Ganzes der Vermittlung, als totaler Prozeß selbst muß sie daher vermittelt sein. Ihr unmittelbares Sein ist daher reiner Schein. Sie ist das Phänomen eines hinter ihrem Rücken vorgehenden Prozesses. Sie ist jetzt negiert in jedem ihrer Momente, als Ware, als Geld und Beziehung beider, als einfacher Austausch beider, Zirkulation.” K.Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Uxtext; in: MEGA II,2 S. 64, Hervorhebungen von Marx.

[ 12 ] Die gesamten Untersuchen zu den Marxschen Planänderungen umgehen dieses Problem; Gegenstand ist immer nur der Frage, was diesem “allgemeinen Begriff”, dem “Kapital im allgemeinen” zuzurechnen sei und was nicht mehr dazu gehöre.

[ 13 ] Brief an F.Lassalle vom 22.2.1858, MEW 29, S.550

[ 14 ] Hans-Georg Backhaus, Über den Doppelsinn der Begriffe “politische Ökonomie” und “Kritik” bei Marx und in der Frankfurter Schule, in: Wolfgang Harich zum Gedächtnis, Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, München 2000, Bd 2, S. 10-213

[ 15 ] MEW 3, S.70

[ 16 ] Th.W.Adorno. Soziologie und empirische Forschung, in: GS Bd 8, S. 296

[ 17 ] Zum großen Teil zusammengefaßt in: Dialektik der Wertform, Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 1997

[ 18 ] Josef Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bände, hrsg. von E.B.Schumpeter, Göttingen 1965, Bd. 1. S. 754

[ 19 ] Schumpeter, Bd. 2, S.1213

[ 20 ] Klaus Hartmann, Die Marxsche Theorie, Eine philosophische Untersuchung zu den Hauptschriften, Berlin 1970, S. 269

[ 21 ] MEW 42, S.164

[ 22 ] MEW 42, S.163

[ 23 ] MEW 42, S.146, MEGA II 2, S.77 und 78 (Urtext)

[ 24 ] MEW 42, S.160

[ 25 ] MEGA II 2, S. 82

[ 26 ] MEW 42, S. 250

[ 27 ] MEGA II 2, S. 91

[ 28 ] Gleichwohl lassen sich entsprechende Formulierungen finden, so z.B. in der Entwicklung des Geldnamens im dritten Kapitel: “Andrerseits ist es notwendig, daß der Wert im Unterschied von den bunten Körpern der Warenwelt sich zu dieser begriffslos sachlichen, aber auch einfach gesellschaftlichen Form fortentwickle”. MEW 23, S.116

[ 29 ] vgl. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Frankfurt am Main, 1989, S. 57. “Daß so nicht nur die Betrachtung der Wirtschaft sondern die Wirtschaft selbst sozusagen in einer realen Abstraktion aus der umfassenden Wirklichkeit der Wertungsvorgänge besteht…”(meine Hervorhebuntg, H.R.)

[ 30 ] Das Kapital, Bd 1, MEW Bd 23, S.90

[ 31 ] Die Wertform, Anhang zu Kapitel 1 der Erstauflage des Kapitals, Bd 1, in: MEGA II, 5; S. 632

[ 32 ] MEW Bd. 23, S.94f

[ 33 ] a.a.O., S.58

[ 34 ] vgl meine Untersuchung “Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im Kapital

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