Helmut Reichelt – Einleitung * Leseprobe aus: Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx

Einleitung

Helmut Reichelt

Als Roman Rosdolsky im Jahre 1948 zum ersten Male Gelegenheit hatte, den Rohentwurf des Kapitals zu studieren, nahm er an, daß mit der Veröffentlichung dieses umfangreichen Textes eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit dem Marschen Werk eingeleitet würde. Zwar glaubte er nicht – wie man der Vorrede zu seinem Kommentar des Rohentwurfs [ 1 ] entnehmen kann -, daß dieser Text in einen breiten Leserkreis eindringen würde; das hielt er wegen der »eigentümlichen Form und der teilweise schwer verständlichen Ausdrucksweise« für ausgeschlossen. Gleichwohl war er überzeugt, daß es in Zukunft kaum mehr möglich sein werde, ein Buch über Marx zu schreiben, ohne vorher die Methode im Kapital und deren Beziehung zur Hegelschen Philosophie genau studiert zu haben: und das würde über kurz oder lang zu einer allgemeinen Klärung vieler ungelöster Fragen im Marschen Werk beitragen.

Diese Erwartung war durchaus berechtigt und, wie es schien, nicht schwer zu erfüllen. Das Niveau der Auseinandersetzung mit den methodischen Problemen im Marxschen Spätwerk konnte eigentlich gar nicht mehr unterboten werden; was bislang veröffentlicht worden war; schienen ihm lediglich Gemeinplätze zu sein; eine ernstzunehmende Arbeit über die Dialektik im Kapital existierte nicht einmal in Ansätzen. Im Gegenteil, wenn überhaupt von Dialektik die Rede war, so nur in einem abweisenden Sinne; mehr als eine stilistische Zutat wollte man darin nicht sehen, zumal ja Marx selbst auch nur von einem Kokettieren mit der Hegelschen Ausdrucksweise sprach. Soweit sich Marx einer Wertschätzung erfreute, war es jedenfalls nicht wegen der Dialektik. So schreibt beispielsweise Schumpeter: »Marx liebte es, von seinem Hegelianismus Zeugnis abzulegen und die Hegelsche Ausdrucksweise zu gebrauchen. Das ist aber auch alles. Nirgends hat er | die positive Wissenschaft an die Metaphysik verraten« [ 2 ] Und einer solchen Oberflächlichkeit, wie Rosdolsky meint, würde der Rohentwurf des Kapitals jedenfalls ein Ende setzen.

Zwar hat sich in der Zwischenzeit das Interesse immer mehr dem Marxschen Spätwerk zugewandt, doch der erhoffen Klärung der methodischen Probleme scheint man kaum einen Schritt näher gekommen zu sein. Auch der von Rosdolsky verfaßte Kommentar hat daran nicht viel geändert. Obwohl er vom Rohentwurf sagt, daß gerade er uns zeige, wie »durch und durch dialektisch der Aufbau des Marxschen Kapitals« ist, bleibt es letztlich Versicherung. Eine der Schwächen seines Buches besteht insbesondere darin, daß er auf den Gebrauch Hegelscher Kategorien lediglich aufmerksam macht und im gleichen Atemzug ganze Passagen, die sich durch höchst spekulativ anmutende Formulierungen auszeichnen und darum im äußersten Maße interpretationsbedürftig sind, nahezu ohne Kommentar wiedergibt. Die Frage stellt sich dann von selbst, ob sich Rosdolsky nicht ebenfalls noch jener von ihm geziehenen Oberflächlichkeit schuldig gemacht hat; ob er überhaupt – trotz gegenteiliger Behauptung jenen Standpunkt verlassen hat, der in der Dialektik im Kapital nur eine stilistische Zutat sieht, die der Sache äußerlich bleibt? Daß sich Rosdolsky der Vorläufigkeit seines Kommentars wohl bewußt war, darf hier jedoch nicht unerwähnt bleiben, war er doch, wie er selbst sagt, »weder ein Ökonom noch ein Philosoph ex professo«. Er verstand seine Schrift lediglich als Beitrag zur Wiederbelebung einer Diskussion, die für Jahrzehnte unterbrochen worden war, und hätte es, wie er weiter ausführt, nicht gewagt, einen Kommentar zu schreiben, wenn es Theoretiker gegeben hätte, die dieser Aufgabe besser gewachsen gewesen wären:

So sehr dieses Eingeständnis bei Rosdolsky als Beweis seiner persönlichen Bescheidenheit zu schätzen ist, vermag der Hinweis auf mehr oder weniger fachliche Qualifikation nicht recht zu überzeugen. Welche Bedeutung kann ökonomisches und philosophisches Fachwissen für die Interpretation einer Theorie haben, die sich explizit als Kritik dieser Disziplinen begriffen hat? Wäre hier nicht vielmehr zu fragen, ob der arbeitsteilig verfahrende Wissenschaftsbetrieb nicht nur nicht quer zum Marxschen Ansatz steht, sondern das Verhältnis von Marxscher Theorie und dieser Wissenschaft insgesamt in der Weise zu denken ist, daß Marx mit dem Inhalt auch die Form der Wissenschaft kritisiert? Die Schwierigkeiten, die der Beschäftigung mit der mate-|rialistischen Dialektik im Wege stehen, wären dann gerade dort zu suchen, wo sie Rosdolsky wahrscheinlich nicht vermutet hätte: bei den einzelnen Disziplinen selbst.

Eine solche Auffassung legt gerade der Rohentwurf des Kapitals nahe. Kann man aus dem Kapital selbst zur Not noch einzelne Theoreme herausbrechen und innerhalb des fachwissenschaftlichen Horizonts diskutieren, ohne gleich einer flagranten Verletzung der Gesamtkonzeption überführt zu werden, so ist das bei den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, dem Rohentwurf des Kapitals, nicht mehr möglich. Deutlicher als im Kapital tritt hier zutage, daß die »schwer verständliche Hegelsche Ausdrucksweise« integraler Bestandteil der Marxschen Kritik ist. Die Verflechtung von Sachverhalten, die traditionellerweise der ökonomischen Wissenschaft zugerechnet werden, und eine an der Hegelschen Logik orientierte Form der Darstellung dieser Sachverhalte ist hier so eng, daß das eine abgelöst vom andern gar nicht mehr zu erörtern ist. Die Gesamtdarstellung des ökonomischen Systems weist ein Höchstmaß an subtilen methodischen und systematischen Überlegungen auf, doch ist es unmöglich, auch nur einige Gedanken abzutrennen und gesondert vorzutragen, ohne sie in ihrer Substanz zu verletzen oder ihnen die Form von Dogmen zu geben. Wenn es aber gleichsam zum Lehrbestand der dialektischen Theorie gehört, daß Inhalt und Form nicht einander äußerlich sind, so muß umgekehrt gelten, daß die Äußerlichkeit der Form gegenüber dem Inhalt den Inhalt ebenfalls nicht unberührt läßt, daß . also auch hier ein wesentliches Verhältnis vorliegt, wenngleich unter negativem Vorzeichen. Dies würde bedeuten, daß es sich bei der von Marx kritisierten politischen Ökonomie je schon um eine Wissenschaft handelt, die – noch ehe explizit methodische Reflexionen durchgeführt werden – in einer ihr selbst unbewußten kategorialen Vorveranstaltung ihren Gegenstand in einer Weise präformiert, daß sich gleichsam bruchlos eine Form methodischer Erwägungen hinzugesellen kann, welche dieser Vorveranstaltung in einem bestimmten Sinne entspricht; mit anderen Worten: die Sache selbst ist je schon so konzipiert, daß methodische Erwägungen immer nur unter der Form einer Methodologie durchgeführt werden können, als solche also, die abgelöst von der Diskussion des begrifflich zu verarbeitenden Materials vorgenommen werden können. Würde dies zutreffen, so wäre allerdings zu fragen, ob die Positivität der positiven Wissenschaft, von der Schumpeter spricht, sich nicht einer gewaltsamen Abtrennung von Momenten verdankt, die durch die Form der Abtrennung nur noch unter der Gestalt schlecht-metaphysischer Veranstaltungen ihr Dasein haben | können oder aber die Form einer Methodenlehre annehmen, die der wirklichen positiven Wissenschaft, der Naturwissenschaft, abgeborgt ist. So käme gerade dem Rohentwurf des Kapitals eine einzigartige Schlüsselstellung in der Gesellschaftswissenschaft zu: ihm selbst wäre zu entnehmen, warum nicht nur die ökonomische Theorie fehl gehen muß, sondern warum auch ein großer Teil der Kritik, die an das Marxsche Werk herangetragen wird, vorweg schon als unzulänglich zurückzuweisen ist, als Kritik nämlich, die sich je schon einem Standpunkt verdankt, den die Marxsche Theorie immer schon übersprungen hat.

Daß es sich hierbei nicht lediglich um eine neue Form spekulativer Vermutungen handelt, l äßt sich durch einen vorwegnehmenden Hinweis erläutern. Betrachtet man das Marxsche Spätwerk genauer, so zeigt sich, daß sich die Kritik der politischen Ökonomie von aller auch der gegenwärtigen – ökonomischen Theoriebildung durch eine spezifische Problemstellung unterscheidet: was – so könnte man den Marxschen Ansatz in Form einer Frage zusammenfassen – verbirgt sich in den Kategorien selbst; was ist der eigentümliche Gehalt der ökonomischen Formbestimmtheiten, also der Warenform, der Geldform, der Kapitalform, der Form des Profits, des Zinses usw.? Während die bürgerliche politische Ökonomie generell dadurch charakterisiert ist, daß sie die Kategorien äußerlich aufgreift, besteht Marx auf einer strengen Ableitung des Genesis dieser Formen – eine Programmatik, die unmittelbar an Hegels Kritik der Kantischen Transzendentalphilosophie erinnert. Die Ableitung der Kategorien ist aber nur auf einem Wege möglich, auf dem des »immanenten Übersichhinausgehens«, wie Hegel sagt – und das ist die dialektische Methode im Kapital. So ist – um ein Beispiel herauszugreifen – die Marxsche Preislehre nicht als Preistheorie im traditionellen Sinne aufzufassen, sondern Marx ist nur mit der Ableitung der Preisform selbst befaßt, einer Form, die ihren logischen Abschluß im Geldnamen hat. Diese Form stellt sich in der Marxschen Kategorienanalyse ihrerseits wieder als Bedingung der Möglichkeit dessen dar, was gemeinhin mit Preistheorie gemeint ist. Wird aber die Marxsche Theorie nicht unter diesem Gesichtspunkt erfaßt, wird also – um bei unserem Beispiel zu bleiben – nicht gesehen, daß die Marxsche Werttheorie zur Ableitung dieser Form führt, so impliziert dies nicht nur, daß das Spezifikum der Marxschen Theorie übersehen wird, sondern zugleich auch, daß. der Marxinterpret selbst noch jenen Standpunkt einnimmt, den Marx bereits hinter sich gelassen hat: der Theoretiker steht nach wie vor der Geldform ratlos gegenüber, eine Haltung, die ihrerseits wieder dadurch charakterisiert ist, daß über Sinn und Zweck einer Werttheo-|rie in der ökonomischen Wissenschaft nur unklare Vorstellungen herrschen. Daß Modelltheorie und Methodologie die vorweg vollzogene Ausklammerung dieser Sachverhalte voraussetzen und ebenfalls bei den Kategorien als einem Letzten, nicht mehr Ableitbaren stehenbleiben, soll hier nur erwähnt werden.

Diese Thematik läßt sich noch unter einem andern Aspekt erörtern. Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß die Problemstellung dieser Arbeit zum Teil mit jener konvergiert, die Gegenstand der anhaltenden Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Kritischen Theorie und der positivistischen Sozialwissenschaft ist: nämlich die selbst noch gesellschaftlich bedingte gegenstandskonstitutive Präformierung der Erkenntnis des auf Gesellschaftliches reflektierenden Subjekts ein Sachverhalt, der sich in der Forderung ausdrückt, die Hegelsche Kantkritik auf der Ebene der Sozialwissenschaft zu wiederholen. Eine genauere Beschäftigung mit der dialektischen Darstellungsform der Kategorien gibt jedoch begründeten Anlaß zu der Frage, ob diese Programmatik von Marx nicht schon materialiter eingelöst wurde: nämlich als Kritik der Wissenschaft eines Subjekts, dem sich seine eigene, von ihm selbst produzierte Welt nur unter einer Form präsentiert unter der des Objekts. Das ist aber eine Form des Positivismus, den der junge Marx ebenso sehr in der Form des Hegelschen Idealismus aufspürt, wie ihn der reife Marx an der Verfahrensweise der bürgerlichen politischen Ökonomie aufdeckt, welche die Kategorien in äußerlicher Weise aus der Empirie aufnimmt. Die dialektische Darstellung der Kategorien ist darum unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten: einerseits Kritik und Ableitung der Form des geschichtslosen Bewußtseins des bürgerlichen Subjekts, andererseits Nachzeichnung der Genesis dieses Subjekts selbst, als Darstellung eines naturähnlich verlaufenen Konstitutionsprozesses unter der Form eines Überhangs an gesellschaftlicher Objektivität, welche dieses Subjekt gleichsam nur noch nachschleift, aber eben zugleich in der Form des Überhangs, der Verselbständigung gegenüber dem Subjekt, von diesem Subjekt selbst noch produziert wird. Angesichts dieses Begriffs von gesellschaftlicher Objektivität, wie ihn die kategoriale Darstellung impliziert, und der Tatsache, daß die kritische Theorie bis heute nichts Wesentliches zur Aufhellung der Dialektik im Kapital beigetragen hat, scheint die Frage berechtigt, ob die von der Kritischen Theorie vorgetragenen Gedanken über das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht ebenfalls noch der Marxschen Kritik anheimfallen. Mit anderen Worten: Ist es vielleicht nicht selbst noch das Charakteristikum der Kritischen Theorie, daß sie dialektische Theorie nur als Programm zu formulieren | vermag und in der materialen Erforschung der kapitalistischen Gesellschaft (und auch in der Rezeption des Marxschen Spätwerks) zugleich einen Standpunkt einnimmt, den Marx als den des sich selbst undurchsichtigen Positivismus kritisiert hat? Das Kapital als Darstellung des »allgemeinen Begriffs des Kapitals« ist dem Marxschen Selbstverständnis zufolge nicht nur die erste wirkliche positive Wissenschaft des Kapitalismus im Sinne einer zum ersten Male unverstellten Erkenntnis desselben, sondern besitzt so lange Gültigkeit, wie der in dieser spezifischen Form dargestellte Gegenstand selbst existiert. Die Theorie – so wäre darum zu folgern – ist dann Theorie eines naturähnlich fortwuchernden Prozesses, in welchem die Menschen wie eh und je von der immanenten Logizität ihrer – von ihnen selbst noch in der Form der Verselbständigung produzierten – gesellschaftlichen Verhältnisse mitgeschleift werden, aber seit Marx immer auch die Möglichkeit haben, sich, wenn schon nicht von dieser Form der Subsumtion unmittelbar zu emanzipieren, so doch in wissenschaftlicher Weise Klarheit über dieselbe zu verschaffen.

Die Marxsche Theorie unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen, wird die Aufgabe zukünftiger Forschung sein, die sich insbesondere an der von Marx getroffenen Unterscheidung zwischen der Darstellung des »allgemeinen Begriffs des Kapitals« und der – von Marx explizit ausgeklammerten – Darstellung der wirklichen Konkurrenz, des existierenden Kapitalismus also, zu orientieren hat. Erst wenn über den Sinn dieser Unterscheidung, der nur auf dem Wege einer detaillierten Nachzeichnung der dialektischen Darstellung der Kategorien und Erörterung der Implikationen dieser Darstellungsform zu erschließen ist, Klarheit besteht, wird es möglich sein, sich abschlußhaft über die Marxsche Methode und ihre Eignung für die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus zu äußern. In der vorliegenden Arbeit handelt es sich lediglich um den Versuch, einen Teil der kategorialen Darstellung nachzuvollziehen; sie versteht sich als vorläufiger Beitrag zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk, welche durch die Arbeiten von Alfred Schmidt und Hans-Georg Backhaus, insbesondere dessen Untersuchung über die Dialektik der Wertform [ 3 ] , eingeleitet worden ist.

Diese Arbeit, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in dankenswerter Weise gefördert wurde, hat der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt als Dissertation vorgelegen.

Anmerkungen

[ 1 ] Vgl. Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen .Kapital., Frankfurter/M. 1968, Bd. 1, S. 7 ff.

[ 2 ] Zitiert nach Rosdolsky, a. a. O., S. 8

[ 3 ] Hans-Georg Backhaus, Zur Dialektik der Wertform, in: Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Frankfurt/M. 1969, S. 128 ff.

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