Emile Marenssin – Die Stadtguerilla

Emile Marenssin

Die Stadtguerilla

Wenn man die Thesen der Maximalisten liest, so erstaunt ihre außerordentliche Ähnlichkeit mit denen, die Carlos Marighela im Oktober 1969 aufstellte: Die Grundlagen “unserer Strategie sind klar definiert: Stadtguerilla, Landguerilla, Mobilität, Bewegungskrieg, bewaffnetes Bündnis von Arbeitern und Bauern. Die taktische Rolle des Kampfes in der Stadt muß den Kampf auf dem Land komplementieren. Diese Faktoren ergeben die strategische Basis für die Revolution.” Sie ist keine Angelegenheit einiger Weniger, sondern die Sache des Volkes und seiner Avantgarde, die während des Kampfes entstehen wird. Über das Verhältnis von Führung und Basis sagt er, daß es darin “keine Zwischenstufen gibt. Die Basisgruppen, vorausgesetzt, daß sie in der Perspektive unserer Strategie aktiv sind, können jede Initiative ergreifen, vorausgesetzt, es handelt sich um Aktionen,” einschließlich solche terroristischer Natur, die sich gegen Menschen und Sachen richten. [ 61 ]

Indem er erklärte, daß “der Revolutionär niemals auf den Terrorismus als Waffe verzichten kann” [ 62 ], knüpfte Marighela wieder an die “terroristische” Tradition an. [ 63 ] Die Tupamaros in Uruguay wiederum verwahren sich energisch dagegen, Terroristen zu sein: “Es ist unsinnig, uns des Terrorismus zu bezichtigen”, versichern sie, indem sie ihren Mitgliedern empfehlen, sorgfältig darüber zu wachen, nichts zu tun, was sie als Terroristen im klassischen Sinne erscheinen lassen könnte.

Es mag verwunden, daß es ausgerechnet Marighela ist, der sich offen zum Terrorismus bekennt, im Gegensatz zu den Tupamaros. Das liegt an der unterschiedlichen historischen Situation in den Ländern, in denen sie handeln. Marighela ist dafür bekannt, der stalinistische Besen der Brasilianischen Kommunistischen Partei gewesen zu sein. Er führte die Kampagne zum Ausschluß der Trotzkisten mit einer Schlagkraft, die ihm einige “Popularität” unter den kommunistischen Militanten einbrachte. Als er aber den Bezirk Sao Paulo in der Hand hatte, wurde er zur Gefahr für die Parteiführung, die sich seiner entledigte, indem sie ihn nach Peking schickte. Nach seiner Rückkehr machte er bis zu seinem Bruch mit der KP anläßlich der Gründung der OLAS [ 64 ] erneut Karriere. Wenn er in Aktion tritt, macht ihm der Terrorismus keine Angst. Die gesamte Erfahrung des Leninismus, wie die seiner verschiedenen Fraktionen, zeigt ihm deutlich, daß der Gebrauch des Terrors nicht nur notwendig, sondern unvermeidlich ist, wenn man Macht ausüben will. Von hier bis zu dem Gedanken, daß das gleiche auch für den Prozeß der Machteroberung gilt, ist es nur ein kleiner Schritt, der um so schneller getan ist, als in seinem Land die Gewalt eine lange und vielfältige Tradition hat. Weil der größte Reichtum sich neben dem größten Elend zur Schau stellt und weil sich der Widerspruch zwischen den entwickelten Großstädten und dem extrem zurückgebliebenen Land ständig verschärft, kommt es zu zahlreichen Ausbrüchen von Gewalt.

Das gilt nicht für Uruguay, dessen sozialer Friede dem Land seit langem den Beinamen einer “Schweiz Lateinamerikas” eingebracht hat, womit schon alles gesagt ist. In diesem Land ist das Gewicht des Kleinbürgertums ausschlaggebend. In diesem seit Beginn des Jahrhunderts durch seine Mittelklasse beherrschten Land gibt es eine wirtschaftliche, soziale und politische Gesetzgebung, von der manche entwickelten Länder noch weit entfernt sind. Begünstigt durch die fast völlige Abwesenheit der zwei traditionellen Hauptstützen der Reaktion, der Armee und der Kirche, können Battle und Ordoñez und ihre Nachfolger die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung errichten. Schon 1911 wurden die Banken verstaatlicht, 1912 die Energieversorgung, 1914/15 das öffentliche Verkehrswesen. Zur gleichen Zeit werden das Institut für industrielle Chemie und die nationale Fischerei geschaffen, während eine flexible Schutzzollpolitik den Import von Werkzeugmaschinen begünstigt und den Import der Produkte, die mit den nationalen Erzeugnissen konkurrieren, mit hohen Steuern belegt. Kirche und Staat werden 1917 getrennt. Zehn Jahre davor hat sich der Staat zum Schlichter der sozialen Konflikten erklärt, indem er die Institution des Arbeitsamtes schuf. 1914 wird die Sozialversicherung der Arbeiter auf Kosten der Arbeitgeber zur Pflicht. 1915 wird der Acht-Stunden-Tag gesetzlich eingeführt. Bildung, auch die universitäre, ist seit 1916 vollständig kostenlos. Bereits nach fünf Jahren Berufstätigkeit wird Müttern eine Rente zugebilligt. Seit 1910 wird den Frauen die Scheidung auf einfaches Verlangen und ohne jede weitere Rechtfertigung zugestanden. All das, verbunden mit einem populistischen Regierungsstil – zum Beispiel hält Battle y Ordoñez langweilige Reden an streikende Arbeiter, um ihre Forderungen zu unterstützen – verhilft dem Land zu großer wirtschaftlicher Prosperität und beispielhafter politischer Stabilität. KP und Sozialisten haben bei Wahlen selten mehr als 6% der Stimmen erhalten. Als 1954 die ökonomische Krise ausbricht, bleiben sie ohnmächtig und kommen nie und nimmer auf die Idee, zu den Waffen zu greifen. Aus diesem Versagen heraus und in diesem Zusammenhang entsteht die Tupamarobewegung. Deshalb ist sie das beste Beispiel dafür, was bewaffneter Kampf unter den Bedingungen entwickelter Länder sein könnte.

Die Tupamaros können der Dritte-Welt-Ideologie nicht entkommen, da sie genötigt sind, sich als integraler Bestandteil der antiimperialistischen Bewegung zu begreifen. Sie überschreiten diese jedoch, indem sie sich unmittelbar als Subjekte ihrer selbst entdecken. Während die Dritte-Welt-Ideologie das Ziel hat, das Proletariat zum Objekt der Geschichte zu machen, sieht man in Uruguay einen Versuch des Proletariats, als das Subjekt der Geschichte aufzutreten. Der antiimperialistische Kampf ist nicht mehr der Endzweck des Kampfes, sondern eine objektive Konsequenz daraus. Dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß die bewaffnete revolutionäre Organisation in der Stadt operiert, wo sie – und das ist es, was ihr wirkliche Verankerung verschafft – die Ideologie der lohnabhängigen Mittelklasse ausdrückt. Sie umfaßt auch die Arbeiter, insofern sie Konsumenten sind und sich selbst als Kleinbürger begreifen, die aber ganz egal, was immer sie auch denken mögen, die Träger des sozialistischen Umsturzes bleiben. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine Tendenz. Denn wahrscheinlich wird die Gesellschaft, in der sie sich abzeichnet, nicht reich und wohlhabend genug sein, um das Proletariat zur tatsächlichen Herrschaft zu führen. Das bedeutet, daß die Tupamaros bestenfalls provisorisch eine sozialistische Ordnung werden errichten können, d.h. ein System, in dem der Wert der Motor der Entwicklung der Produktivkräfte bleibt, während die Verteilung des verfügbaren Reichtums durch Bezugsscheine und nicht mehr durch Geld vermittelt wird. Diese optimistische Sicht sei hier im übrigen nur als abstrakte Möglichkeit vermerkt. Denn in Wirklichkeit hat man die Errichtung einer derartigen Ordnung noch nie erlebt, und es ist wahrscheinlich, daß seine theoretische Existenz im Werk von Marx nicht mehr ist als das Zeichen seiner revolutionären Ungeduld.

Auch wenn die Tupamaros zweifellos dazu verurteilt sind, der Dritte-Welt-Ideologie zu verfallen, ist ihre Erfahrung gleichwohl außerordentlich lehrreich. Ihre Strategie und gewisse Momente ihrer Taktik sind es wert, bedacht und zum Teil verallgemeinert zu werden. Diese werden jedoch nur dort greifen, wo die Lage ähnlich oder fortgeschrittener ist als in Uruguay. Die Tupamaros haben gewisse Thesen von Marx buchstäblich genommen. Da die marxschen Thesen die Realität widerspiegeln, streben sie danach, mit der Sozialdemokratie – und der L eninismus ist nur eine ihrer Strömungen – tatsächlich zu brechen. Die Tupamaros wollen weder der revolutionären Klasse noch insbesondere der Arbeiterklasse ihr Bewußtsein überstülpen, auch wenn sie noch der konkrete Ausdruck der Äußerlichkeit des allgemeinen Bewußtseins und deswegen noch von der Klasse getrennt sind. Diese Grenze bedeutet an sich ein Fortschritt. Ebenso ist sie das Vorzeichen der Unmöglichkeit der spontanen Verallgemeinerung des Terrorismus, d.h. der kommunistischen Revolution.

Die Tupamaros knüpfen am wirklichen, konkreten und materiellen Bewußtsein der Klassen an, deren Wortführer sie sind, indem sie doch die Totalität begreifen, während die Klassen diese nur zum Teil wahrnehmen. Ihre Aktionen sind immer derart, daß sich ihre umfassende Perspektive mit der begrenzten der Massen schneidet. Sie ordnen sich nicht dem Bewußtsein der Massen unter. In der Praxis beweisen sie, daß das Klassenbewußtsein keine abstrakte Sache, kein von den allgemeinen Zielen des Sozialismus getrenntes Bewußtsein ist, sondern ein durch die handgreifliche Wirklichkeit, ein durch die alltägliche Konkretheit der materiellen Organisation des Lebens und der Gesellschaft bestimmtes. Daraus leiten sich unmittelbar eine strategische Perspektive und taktische Ziele ab.

Da die Tupamaros versuchen, mit der abwegigen Auffassung des Klassenbewußtseins zu brechen, die es auf Wissen und Wissenschaft reduziert, versuchen sie es erst gar nicht, die Massen – sei es durch Aufklärung oder sei es durch Manipulation mittels eines Programms oder theoretischen Erklärungen – aufzurütteln oder zu erobern, d.h. sie diktatorisch zu kontrollieren. Die Tupamaros drücken ihre Theorie durch die Aktion aus, und, besser noch, durch die bewaffnete Aktion. “In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen”, hatte Marx in den “Thesen über Feuerbach” geschrieben. [ 65 ] Von Aktion zu Aktion bewahrheiten die Tupamaros den marxschen Satz in der Wirklichkeit, daß “jeder Fortschritt der wirklichen Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme”. [ 66 ]

Dank dieser Methode haben die Tupamaros den kleinen Sympathisantenkreis erhalten und erweitern können, auf den sie anfangs zählen konnten. Sie gehen mit außerordentlichem politischem Geschick vor, und sie haben niemals irgendwen geschulmeistert geschweige denn vorgegeben, die einzigen Sachwalter der revolutionären Theorie zu sein. Da sie nicht behaupten, das Monopol auf das Klassenbewußtseins innezuhaben, haben sie es nicht nötig, gegen die traditionellen politischen Organisationen zu polemisieren. Da sie nicht mit ihnen aneinander geraten, üben sie einen wachsenden Einfluß auf deren radikalste Mitglieder aus und vermeiden es so zugleich, isoliert zu werden, was ebenso verhängnisvoll wäre wie es die fruchtlosen scholastischen Polemiken, die Spaltpilze der Bewegung, sind. Sie treten an die Spitze der Klassenbewegung, in der sie sich jeden Tag tiefer durch immer zahlreichere spektakuläre, exemplarische und siegreiche Aktionen verankern. Sie verdanken ihre Popularität und damit ihre wachsende Stärke der Tatsache, daß sie siegreich einen Weg öffnen, der a priori unvorstellbar war und daß sie eine hoffnungslose Situation aufsprengen. [ 67 ] Sie bringen die Widersprüche zum Tanzen, d.h. sie brechen die psychologischen Barrieren, die der sozialdemokratische Quietismus [ 68 ] und der bürgerliche Terror errichten und jeden Tag soweit verstärken, so daß sie den Schein von Rechtmäßigkeit und Unverletzlichkeit annehmen. Jedes Mal, wenn eine soziale Gruppe in den Kampf eintritt, unterstützen sie sie auf ihre Weise: bei jeder Gelegenheit sprengen sie mit Gewalt die Barriere, die diese Gruppe unter das Niveau des Möglichen fesselte, um ihr konkret zu zeigen, daß der Bereich des Möglichen größer war als sie dachten und sich nicht mit dem, wie sie ihn sich vorstellten, deckte. Sie setzen sich damit nicht an ihre Stelle und verfallen nicht dem Fehler des Leninismus. Sie handeln als Aufklärer und nicht als Avantgarde. Durch ihre Aktionen schaffen sie Bewußtsein. Sie zeigen, daß das Niveau der Gewalt, auf dem man handeln kann und also handeln muß, höher ist als es scheint.

Da die Tupamaros zugleich Aufklärer und der autonome bewaffnete Arm der Bewegung sind, wurden innerhalb kurzer Zeit als Machtinstanz der Gerechtigkeit anerkannt, die die herrschende Staatsmacht überall bekämpft, wo sie auftritt. Sie streben danach, die wirkliche Macht zu werden, die sich allerdings darin von der Staatsmacht oder von der Herrschaft, die die Leninisten zu errichten träumen [ 69 ], fundamental unterscheidet, daß sie keine Befehle erteilen, daß sie keine Parolen ausgeben, die man – um den Preis, nicht als Konterrevolutionär verschrien zu werden – befolgen muß. Mehr noch: Wenn die Massen auf Illusionen verfallen und der Konterrevolution in die Falle laufen, beschränken sich die Tupamaros darauf, sie zu warnen; und dabei sind sie es, die Tupamaros, die sich augenblicklich der Bewegung der Massen anpassen und sich ihrem unmittelbaren Ausdruck beugen. Am Ende wird sich die Niederlage in einen Sieg verwandelt haben, und die Bewegung wird um eine Erfahrung reicher sein.

Die Tupamaros propagieren ihre politische Linie nicht durch Parolen, sondern durch Taten. Nun ist die Gewalt als das Wesen ihrer Aktionen derart voraussetzungsvoll, daß der kleinste Irrtum sofort die Popularität der Bewegung zerstören kann. Die Tupamaros haben dieses Kardinalproblem gelöst, indem sie etwas aufgedeckt und in aller Strenge angewandt haben, was man nachgerade ein Gesetz nennen muß: Es ist der Staat, der den Revolutionären die “Gewaltquote” vorschreibt; sie haben sie laufend zu bestimmen und dementsprechend präzis zu handeln. Unterhalb dieser “Gewaltquote” wäre die Aktion lächerlich oder reformistisch, darüber abenteuerlich. Zu tief angesetzt, würde sie die Massen enttäuschen, die Antwort erwarten und schon darüber mutmaßen, wie sie ausfallen wird; zu hoch angesetzt, würde sie Entsetzen oder gar Schrecken hervorrufen.

Wenn es um die bewaffnete Aktion geht, muß das taktische Ziel stets sorgfältig in Abhängigkeit vom strategischen Ziel und der gegebenen politischen Lage ausgewählt werden, muß die Ausführung mit äußerster Umsicht vorbereitet und mit größter Entschlossenheit auf eben dem Gewaltniveau gehandelt werden, das mit dem Sieg und der gegebenen “Gewaltquote” vereinbar ist. Schließlich – und das ist alles andere als nebensächlich – ist darauf zu achten, daß die Aktion die Macht der Lächerlichkeit preisgibt und daß sie zugleich deutlich den subversiven und den gerechten Zweck ausdrückt, der sie legitimiert: die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse.

Anmerkungen

[ 61 ] Carlos Marighela, Interview zum ‘Revolutionären Krieg’, a.a.O., S. 95 und 102.
[ 62 ] Carlos Marighela, Handbuch des Stadtguerillero, in: Conrad Detrez, Zerschlagt die Wohlstandsinseln, a.a.O., S. 39 ff., hier S. 72.
[ 63 ] In Wahrheit ist die Tradition des Terrorismus niemals untergegangen. Es wäre endlos, wollte man alle Organisationen aufzählen, die sich diesem Tun verschrieben haben. Während der zwanziger Jahre, bis hinein in den Spanischen Bürgerkrieg, war die Durrutis die hervorragendste. Sie operierte in Italien und Frankreich, in Spanien, Kuba, Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern. (AdÜ: Man lese dazu das Buch von Abel Paz, Durruti. Leben und Tode eines spanischen Anarchisten, Hamburg 1993). Aber der städtische Terrorismus war unbestreitbar am bemerkenswertesten. Von der Irgun und dem israelischen Stern über die IRA und die französische Sektion der algerischen FLN bis hin schließlich zur baskischen ETA sind sie samt und sonders dem Sieg zu Hilfe geeilt oder sie sind dabei, es zu tun. Die einzige bemerkenswerte Ausnahme bildet die OAS in Algerien, aber es ist bekannt, daß sie mehr durch ihr eigenes politisches Programm als durch die Entscheidung der Waffen besiegt wurde. Die andere große Ausnahme stellt die Revolutionäre Innermazedonische Organisation (ORIM) dar, aber diese war eine nahezu reine Bauernorganisation. (AdÜ: Irgun, 1935 gegründete jüdische bewaffnete Untergrundorganisation; FLN, Front de la Libération Nationale in Algerien.)
[ 64 ] AdÜ: OLAS: Organisación Latinoamericana de Solidaridad mit Sitz in La Habana, Kuba.
[ 65 ] Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1844), in: MEW 3, S. 5.
[ 66 ] AdÜ: Karl Marx, Brief an Wilhelm Bracke, 5. Mai 1875, in: MEW 19, S. 13. Die Bemerkung fällt in Zusamenhang mit Marx’ Kritik des Gothaer Programms.
[ 67 ] Die Frage, ob die Tupamaros aus eigener Kraft siegen können, faßt sich ganz und gar in der Prognose zusammen, ob und wann dies Mittel ihr Wachstum begrenzt. Die Tupamaros sind sich des Widerspruchs zwischen der Gesellschaft und dem Überbau, der Produktionsweise, vollkommen bewußt. Aber dies Bewußtsein kann nur insoweit im Kopf der revolutionären Klasse sein, wie der Widerspruch gelebt und ausgetragen wird. Entweder wird sich dieser Widerspruch verallgemeinern und verschärfen und folglich wird sich die gesellschaftliche Basis der Tupamaros im Rhythmus der Verallgemeinerung des Widerspruchs verbreitern – oder er wird sich auf einer bestimmten Stufe festfahren und blockieren. Dann würden die Tupamaros in der Homogenität ihres sozialen Milieu isoliert. Im Bewußtsein dieser Gefahr weichen sie ihr aus, indem sie mit keiner einzigen widerständigen oppositionellen Kraft politisch brechen. Sie werden darin durch die Existenz der zahlenstarken Mittelklasse in Uruguay gestützt. Aus eigener Kraft könnten sie zur sozialistischen Revolution nur dann durchbrechen, wenn der besondere Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktionsweise all die anderen Widersprüche dauerhaft und strukturell dominieren würde, wegen derer sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen dem Staat widersetzen. Und das ist nicht wahrscheinlich.
[ 68 ] AdÜ: Quietismus: Verzicht auf aktives Handeln, mythisch-kontemplative Richtung des Christentums.
[ 69 ] Die Tupamaros verfallen auch nicht in den bakunistischen Irrtum einer “Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel, ohne offizielles Recht, die desto mächtiger ist, weil sie keinen Anschein von Macht hat”. Sie sind nicht die unsichtbaren Drahtzieher, die die Empörung des Volkes lenken, keine “unsichtbaren Lotsen” (Michail Bakunin, Brief an Albert Lange über die Allianz vom 1. April 1870, in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Max Nettlau, Bd. 3, Berlin 1924, Reprint Berlin 1975, S. 99).

aus: Emile Marenssin, Stadtguerilla und soziale Revolution – Über den bewaffneten Kampf und die Rote Armee Fraktion, ça ira-Verlag (Freiburg) 1998

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