Magnus Klaue – Wir Androiden * Leseprobe aus: Magnus Klaue, Verschenkte Gelegenheiten

Wir Androiden

Magnus Klaue

Als sie sich kennenlernten, waren sie freudig erstaunt, wie gut sie sich verstanden, obwohl sie so verschieden waren. Manchmal sprachen sie davon, wie seltsam es sie berühre, von jenen, die einem am nächsten stehen, zu erfahren, dass auch die inzwischen »auf Facebook gegangen« sind. Irgendwie habe man, bei aller Sympathie, plötzlich das Gefühl, es mit Androiden zu tun zu haben, deren wahre Existenz einem bislang verborgen geblieben sei. Dieses Gefühl verband sie. Sie spielten mit der Theorie, dass es eine geheime Arbeitsagentur gebe, die ihre prekären Klienten täglich und nächtlich in Parks und Einkaufszentren, Straßencafés und Diskotheken schicke, damit die Städte weiterhin als bevölkert, das öffentliche Leben als bunt und vielfältig erscheine, obwohl alle sich längst ins Schneckenhaus des eigenen Selbst zurückgezogen hätten. Zu diesen schwer Vermittelbaren gehörten wohl auch die lässig Lächelnden, die einen davon zu überzeugen suchten, lediglich die eigene Unflexibilität sei schuld daran, dass man noch immer nicht auf Facebook gegangen sei, obwohl man dabei, wenn man es richtig mache, nur gewinnen könne. Das seien die Marketingexperten in eigener Sache, die sich mit der Erfahrung, dass nichts so viel Lust verschafft wie die Selbstaufgabe ans Allgemeine, eine neue Existenz gegründet hätten.

Doch Facebook ist keine Arbeitsagentur, sondern ein Staubsauger, der Stecknadeln und Scherben so bereitwillig schluckt wie Fusseln und Filz. Facebook ist die wahre Demokratie, die sogar für jene, die sie verabscheuen, immer ein Plätzchen frei hält. Es ist kein Ort für Polemik oder Negativität, Beleidigungen oder Zwistigkeiten. Die einzige Sprache, die es kennt, ist der Jargon des jovialen Hinter-dem-Rücken-Redens, der verständnissinnigen Anspielungen und des schamlosen Für-sich-selber-Werbens. Dort ist es einfacher, jemanden zu denunzieren, als mit ihm zu streiten, und es gibt keine Lobesworte, die sich nicht über das stellen, was sie loben. Statt Urteile hinterläßt man Wegmarken nach Art von Heidegger und Struppi, und die sogenannten Freundeskreise zerstören die Solidarität, mit deren Versprechen sie werben. Wer einmal auf Facebook gegangen ist, kann nicht mehr zurück. Legt er die Mitgliedschaft nieder, wird sein Konto nicht gelöscht, sondern stillgelegt, und er verwandelt sich auch virtuell in jenen Untoten, der er im wirklichen Leben wahrscheinlich schon immer war. Was einmal öffentliches Gespräch gewesen sein mag, wird bei Facebook zur endlosen Kette der Meinungen und private jokes. Wer Postings schreibt, die länger als 15 Zeilen und von halbwegs komplexer Syntax sind, gilt mit Recht als Sonderling, der den adäquaten Gebrauch des Mediums erst noch lernen muss. Facebook übt Verrat an jedem Eingedenken. Hier kann man »Fan« von Adorno und Marx, Freud und Benjamin werden und sich mit den Gestorbenen, deren Erbe ausgeschlagen wurde, auf Du und Du wähnen wie mit Lena oder Justin Bieber. Und während man sich im Leben, das nur mehr Anhängsel seiner eigenen Kommunikation ist, mit denen entzweit, die einem am meisten bedeuten, überdauern Facebook-Freundschaften wie gute Astro­nau­ten­nahrung Raum und Zeit.

Facebook hat den Begriff der Freundschaft seiner Wahrheit überführt. Verdächtig war er schon immer. Man beruft sich auf ihn meist erst dann, wenn man mit dem Rücken gegen die Wand steht und nichts mehr zu retten ist. Weit häufiger als der freien Assoziation der Verschiedenen dient er der Erpressung und der üblen Nachrede. Was wahre Freunde einander wert sind, glaubt nur zu wissen, wer jedem Freund zugleich dessen falsche Freunde meint vorrechnen zu dürfen. Freundschaft ist ein Ausschlußkriterium. Sie darf nicht mit Geschäft vermischt werden, wenn sie sich nicht korrumpieren will, aber sie darf auch nicht zur Liebe werden, will sie sich nicht zerstören. Gute Freunde müssen einander zugestehen, was sie selber verachten, und sind, damit die Freundschaft bestehen bleibt, auf andere Freunde angewiesen, mit denen sie über die abwesenden Freunde lästern dürfen. Die Freundschaft soll ersetzen, was Liebe und Bekanntschaft nicht leisten können, und ist damit ebenso überlastet wie unterfordert. So verkommt sie über kurz oder lang zur Routine, sofern sie nicht am Bedürfnis nach allzu großer Nähe zugrunde geht. Darauf reagiert Facebook, indem es die Freundschaft zugleich abschafft und universalisiert. Hier wird noch der eigene Gegenspieler zum Freund und jeder Freund zum potentiellen Gegenspieler. Freunde in der Wirklichkeit, mit denen man sich auf Facebook befreundet, sind von diesem Augenblick an auch in der Wirklichkeit andere als zuvor. Freunde, die nicht auf Facebook sind, werden mitgeschleift wie zurückgebliebene Alte, weil es sie nur in der Wirklichkeit gibt und man ihnen alles, was die anderen schon wissen, erst mühsam persönlich erklären muss. Und wie bei jedem Gesellschaftsspiel arbeiten alle, die miteinander spielen, immer auch gegeneinander. Erst dank Facebook können selbst überzeugte Kosmopoliten die dorfgemeinschaftliche Fähigkeit perfektionieren, bei jeder Äußerung seismographisch zu registrieren, wer sie hören kann und wer nicht. Achte immer genau darauf, hinter wessen Rücken du mit wem sprichst, und dein Freundeskreis wird wachsen wie ein guter Hefeteig, von dem am Ende alle zehren können.

Auch die beiden Freunde wüßten nicht, in welche Untiefen sie ohne das soziale Netzwerk, das die verschwundene Gesellschaft ersetzt hat, gestürzt wären. Sie hatten sich lange nicht gesehen, es hatte Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben, doch als sie sich auf Facebook wieder begegneten, waren sie überrascht, wie ähnlich sie einander waren. Sie waren beide Fans von Adorno und Johnny Cash, Alfred Hitchcock und Schönberg. Sie hatten 17 gemeinsame Freunde, von denen sie sechs persönlich kannten. Der eine beantwortete die Freundschaftsanfrage des anderen prompt. Ihnen gefielen die gleichen Locations, in ihren Postings spielten sie sich die Bälle zu. Viermal begegneten sie sich bei derselben Party und redeten unbeschwert miteinander, frei von Spannungen und Gefühlen. Seither haben sie öfter als früher Kontakt, ihr Dialog ist intensiv, ihr Verhältnis zur Vergangenheit ironisch. Was war das für eine alberne Vertrautheit, die uns damals verband, fragt sich jeder für sich, aber niemals laut. Sie arbeiten miteinander schon an ihrem zweiten Projekt, streß- und widerspruchsfrei. Was sie damals trennte, wollen sie nicht mehr wissen, seit das Medium die voneinander Getrennten verband. In schwachen Momenten spielen sie mit dem Gedanken, auf der Adorno-Seite den »Gefällt mir nicht mehr«-Button zu drücken, da der Professor die Möglichkeiten der modernen Kommunikation wohl allzu pessimistisch eingeschätzt hat. Aber in letzter Sekunde schrecken sie zurück, weil sie sich mit ihm doch so heimelig fühlen wie mit dem Teddy auf dem Dachboden, den man in Augenblicken der Sentimentalität an die Brust drücken kann. Könnten sie sich an ihre Theorie von der Arbeitsagentur erinnern, würden sie ihres einstigen Irrtums gewahr: Es gibt keine Agentur und keine Verschwörung, alle tun alles aus freiem Willen und fühlen sich wohl dabei. Aber sie haben ihre Theorie vergessen, wie man Kinderträume vergißt. Und wenn jemand sie ihnen ins Gedächtnis ruft, weisen sie den Eindringling zurück. Wahre Freunde sind sich selbst genug und müssen an nichts erinnert werden.

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