Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten

Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten: Einleitung

Initiative Sozialistisches Forum

Antisemitismus ist die objektive Ideologie der Barbarei, zu der das Kapitalverhältnis gemäß seiner inneren Bestimmung wie seiner krisenhaften Notwendigkeit treibt, ist die Ideologie seiner negativen Selbstaufhebung auf eigener Grundlage. Der Antisemitismus ist daher so allgemein wie die totale Vergesellschaftung global: in Japan druckt und liest man Hitlers Mein Kampf und Die Protokolle der Weisen von Zion in Millionenauflage, indigene Gruppen in Lateinamerikas schreiben ihre Unterdrückung dem ‘Juden’ Kolumbus zu und die Wall Street steht bis heute als Synonym für ‘jüdisches Finanzgebaren’.

Nichts am Antisemitismus ist ‘typisch deutsch’ – mit der Ausnahme, die allerdings den Unterschied ums Ganze macht, daß er in Deutschland sein Ziel, die Vernichtung der europäischen Juden, erreicht hat. Weil der Volksgemeinschaft der Onkel Adolfs und Tante Emmas die weltweite Vernichtung mißlang, ist Antisemitismus in Deutschland Tötungsbereitschaft im Wartestand, die sich als Antisemitismus trotz Auschwitz, und erst recht wegen Auschwitz, darstellt. Das Wesen der ‘nationalen Identität’ ist der Tod, der an anderen vollstreckt werden muß, damit das Selbst im Raubmord Substanz gewinnt. Es handelt sich dabei um einen Tötungswillen, der im genauen Zuge der abermaligen Nationwerdung Deutschlands und ihres notorischen Pochens auf Weltmacht und Weltgeltung die Maske des Philosemitismus abstreift und Israel androht, es künftig “am normalen Maßstab des Völkerrechts messen zu wollen” (Klaus Kinkel).

Nirgends rächte sich der Unwille und die Unfähigkeit der Linken, aus dem Mordzusammenhang ihrer Nation auszubrechen, mehr als in der strikten, mit marxoiden Theoremen legitimierten Reduktion des Nazismus auf eine besonders autoritäre, terroristische Diktatur des Kapitals über die Arbeiterklasse. Auschwitz als das Telos des Nazismus, die Volksgemeinschaft als so klassenübergreifende wie, im Massenmord, tatsächlich klassenaufhebende Organisationsform der barbarischen Gesellschaft, der Antisemitismus schließlich als die integrale Ideologie und Quintessenz der Transformation der bürgerlichen Gesellschaft ins barbarische Kollektiv: das alles war der ‘Neuen Linken’ von 1968 kein Thema; und die Kritische Theorie, avancierteste Form des Materialismus nach Hitler, blieb die marginale Ausnahme, die die Regel bestätigen mußte.

Der Haß auf Israel, rationalisiert zum Ideologem des Antizionismus, hatte eine dreifache Funktion für das noch nicht zum ‘Wir sind das Volk’ geeinte Deutschland. Erstens war er die objektive Agentur des Antisemitismus im Lager der Linken, einer Linken, die eben dadurch, insgeheim vielleicht gar mit Absicht, ihre Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv demonstrierte. Antizionismus war die Form, in der sich die Linke, aller Opposition zum Trotz, mit dem Gründungsverbrechen der Nation einverstanden erklärte und ihren Anteil reklamierte. Zweitens war der Antizionismus die Repräsentanz des durch die Sowjetunion in welcher Form auch immer dargestellten Hegemonialanspruchs des Marxismus-Leninismus über die Linke. Marginal, wie diese Linke gesellschaftlich war, suchte und fand sie Rückendeckung in der Geschichte der kommunistischen Arbeiterbewegung, deren Leichnam in den staatskapitalistischen Gesellschaften des Ostens zur Monstranz wurde. Im Antizionismus gestand die Linke ihre fundamentale Unfähigkeit zur Kritik der traditionellen Arbeiterbewegung wie zur Kritik der Vergesellschaftungsweise sowjetischen Typs ein. Und drittens erlaubte der Antizionismus, unterm Vorwand internationalistischen Engagements, die Wiederaneignung der Idiotie von Volk, Vaterland und Muttersprache. Volk, der Inbegriff der Konterrevolution, Volk, die antiemanzipatorische Kategorie schlechthin und also der Gegenbegriff zu Gesellschaft, gar zur befreiten, stieg auf zur zentralen Kategorie des Internationalismus, das heißt der weltweit zusammenaddierten Befreiungsnationalismen. “Dem Volke dienen” war der Freibrief, die deutsche Geschichte zum Selbstbedienungsladen zu machen, um sich dem Volk der Denker und Henker anzudienen.

Seit 1989 hat sich der Antizionismus im wesentlichen erledigt, vor allem durch den Bankrott der UdSSR als seiner Hauptdistributionsagentur und die langsame Staatwerdung der PLO, deren menschliche Unkosten in den Jahresberichten von Amnesty International nachgelesen werden können. Der tiefere Grund für das gegenwärtige Desinteresse der Linken am Antizionismus (außer zu Zwecken linksvölkischer Traditionspflege) ist aber die deutsche Einheit. Im Zuge der Nationwerdung, das heißt im Prozeß der ‘inneren Einheit’, zeigt sich, daß Einheit und ‘nationale Identität’ nicht zu haben sind ohne Feindbestimmung. Ohne Antisemitismus keine deutsche Nation, ohne Antizionismus daher keine deutsche Außenpolitik. Der linke Antizionismus hat abgewirtschaftet, weil er die zutiefst taktische Haltung, die der westdeutsche Staat im Zeichen des Philosemitismus zu Israel einnahm, interessiert als strategische Wesensbestimmmung eben dieses Staates mißdeutete und nicht als Ausdruck der Opposition gegen die proarabische Außenpolitik der DDR begriff, nicht als Moment der internationalen Reputation einer BRD, die sich mit den Vereinigten Staaten nicht anlegen durfte. Israel – das war der westdeutschen Politik bis 1989 die willkommene Externalisierung der ‘jüdischen Frage’.

Die antizionistische Linke hat sich erledigt, ihr Auftrag -mit Hilfe des Antizionismus die deutsch-völkische Kontinuität zu wahren und die Nation zu entschulden – ist erfüllt. Ihre partielle Ideologie ist zum zentralen Bestandteil der so genannten freiheitlich-demokratischen Grundordnung geworden. Da die ehemals antizionistische Linke nun ihr nationales Projekt Deutschland hat, kann sie ihre Identifikation mit den unterdrückten Völkern aufgeben und sich anschicken, die ‘Diktatoren’ und ‘unbelehrbaren Nationalisten’ dieser Welt unmittelbar, mit der geballten Macht des ‘Modells Deutschland’ im Rücken, zur Räson zu bringen.

Das Verhältnis von Antisemitismus und Antizionismus, das die nachfolgenden Thesen polemisch, also sachlich zu entfalten suchen, ist ein Produktionsverhältnis, das heißt ein Verhältnis der materiellen Reproduktion der demokratisierten Volksgemeinschaft durch den formellen Widerspruch der Opponenten hindurch. Ideologie beweist sich darin als das Mißverhältnis von subjektiver Meinung und objektivem Inhalt, als ein Verhältnis der Entfremdung, das macht, daß einer sagt, was er weiß, aber nicht weiß, was er sagt – und dies letztendlich auch nicht wissen will. Die materialistische Aufklärung, das zeigt der Kontext, in dem die Thesen entstanden, hat in Deutschland nichts Objektives, auf das sie sich als auf die Evidenz der Vernunft zu berufen vermöchte, nichts, das sie der zwanghaften Neigung der Deutschen, insbesondere der linken Deutschen, zum Differenzieren und Vernünfteln entgegensetzen könnte: Nicht Argumente zählen, gefragt ist die Gesinnung, nicht Kritik ist Trumpf, sondern der repressive Konsens.

Die Antizionismus-Thesen wurden im Frühjahr 1991 verfaßt, im Gefolge des Golfkrieges und im Zusammenhang mit der Besetzung des Studios von Radio Dreyeckland in Freiburg. Der Anlaß war simpel: Ein Redakteur, ehemals 2. Juni, dann RAF, hatte im Namen der Internationalismusredaktion des Radios den überzeugten Antisemiten und ‘Israelexperten’ Helmut Spehl, dessen Schriften im übrigen auch in Dritt-Welt-Läden verkauft werden, zu einer Diskussion eingeladen, in der es mehr oder weniger um die Frage ging, wie Israel am allerbesten ausradiert werden könnte. Studenten hörten die Sendung mit und fertigten ein Protokoll dieser rotbraunen Allianz. Nach verschiedenen Diskussionsversuchen mit den alternativen Radiomachern, die wenig mehr offenbarten als ein interessiertes Unverständnis und haltlo s fetischistischen Pluralismus, insbesondere der Geschäftsführung, kam es zur Besetzung des Studios.

Der weitere Ablauf ist schnell erzählt: Sitzungen jagten sich, Mitgliederversammlungen ergingen sich in Spekulationen über die Motive der Kritiker und Besetzer, kaum jemand sprach von Antisemitismus, alle von den guten Motiven der Antizionisten. Kurz und schlecht: ein Abgrund an Aufklärungsverrat tat sich auf, und es zeigte sich, daß, wer selbst keineswegs den Antiimperialisten anhing, immer noch die Form zu bemäkeln wußte, in der die Kritik vorgetragen wurde: als Ideologiekritik nämlich, die nicht über die Frage mit sich verhandeln läßt, ob Juden auch Menschen sind. Die Aktion jedenfalls, die darauf hoffte, linke Antisemiten aus einem irgendwie linken Medium auszuschließen, führte nach und nach zu der unausweichlichen Erkenntnis, daß es keine Linke mehr gibt, daß die, die immer noch Linke zu sein für sich reklamieren, nur den solidarischen Resonanzboden abgeben für ein Klima, in dem sich jeder Aberwitz, insbesondere linker Nationalismus, Volkstümlerei und Antisemitismus, entfalten können.

Ein beredtes Beispiel, wie sich auch in jüngster Zeit Antisemitismus in linke Argumentationsformen ergießt und damit noch das Stammtischniveau unterbietet, gibt ein Kommentar der Freunde der guten Zeit vom 6.10.99 im Hamburger Alternativsender Freies Senderkombinat anläßlich des Todes von Ignaz Bubis, in dem es hieß:

Und zum Schluß aus aktuellem Anlaß zum Tod von Ignaz Bubis. Wieder wird aus Ermangelung von Klassenbewußtsein um der Lehre des heutigen linken Daseins aus einem liberalen Kapitalisten, Ausbeuter, Spekulanten ein Antirassist. Warum? Weil er ein Jude war? Als ob das ein Persilschein sei! (Reader 1999)

Aus heutiger Sicht erscheint die Besetzung von Radio Dreyeckland als ein Moment in der Entstehung einer antinationalen – und das kann nur heißen: einer entschieden antideutschen – radikalen Linken, die das Erbe von 1968 annimmt, indem sie darüber hinausgeht. Diese antideutsche Linke wird sich nicht nur das anarchistische Erbe radikaler Staatskritik materialistisch aneignen müssen, sie wird auch über einen Marxismus, der den Staat aneignen und als Hebel benutzen wollte, hinausgehen müssen zur Abschaffung, sprich: Zerstörung des Staates – wenn sie erkannt hat, daß die Form Nation ein Produkt des Staates ist, der Nationalismus also mehr darstellt als Ideologie oder Manipulation, nämlich das objektive Selbstbewußtsein des Souveräns: Denn jeder, der einen deutschen Paß hat, ist nolens volens Nationalist, partizipiert an den grenzsetzenden und ausgrenzenden Leistungen der Staatsgewalt, hat Teil an der ‘nationalen Identität’, die den Antisemitismus ausbrütet wie die Raupe den Faden spinnt.

Das Autorenkollektiv (ISF), das die in diesem Band zusammengestellten Texte zur Begleitung des Konflikts um Radio Dreyeckland verfaßte, hatte sich bereits drei Jahre zuvor anläßlich eines ähnlichen Vorfalls in der Freiburger ‘Linken’ erstmals intensiver mit dem Thema ‘linker Antisemitismus’ beschäftigt. Aber trotz intensiver Auseinandersetzung mit Faschismus und Nazismus schon in den Jahren zuvor war ihr doch – darin ‘typisch links’ – die konstitutive Bedeutung des Antisemitismus für den Nazismus ‘entgangen’, hatte sie insbesondere ‘übersehen’, daß Auschwitz nicht nur das die BRD konstituierende Gründungsverbrechen war, sondern das Telos, der Sinn und der Zweck des deutschen Faschismus. Seither war die ISF bemüht, sowohl durch Publikationen (ça ira-Verlag) sowie durch Polemiken und Interventionen, zuletzt in der Debatte um die Bedeutung von Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker oder zur Funktionalisierung von Auschwitz im Zusammenhang mit dem ‘Kosovo-Krieg’, diesen ‘Mangel’ zu beheben, der allerdings alles andere ist als ein Mangel, sondern vielmehr den selbstbewußten Anteil der Linken am Vernichtungszusammenhang der deutschen Nation dokumentiert.

In dem Maße wie gegenwärtig offener Antisemitismus in Deutschland wieder möglich und zur Aufwertung des beschädigten ‘Selbstwertgefühls’ nötig ist, schwindet das Interesse am Antizionismus. Was Anfang der 90er Jahre noch einen Skandal hervorgerufen hätte, wird heute im Zuge der neu- und altdeutschen Selbstfindungsversuche breit in den Medien diskutiert. Als die verfolgte Unschuld Martin Walser im Oktober 98 endlich aussprach, was alle bisher nur denken duften, nämlich “daß sich in (ihm) etwas gegen die Dauerrerpräsentation unserer Schande wehrt” und er “fast froh” sei, zu entdecken, “daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken”, wurde Ignatz Bubis nach seiner einsamen Kritik postwendend von dem auch “gekränkten” Klaus von Dohnayi zurechtgewiesen, daß es sich hier um “die verständliche, ja notwendige Klage eines gewissenhaften nichtjüdischen Deutschen über das schwierige Schicksal, heute ein Deutscher zu sein”, handele: “als Vorsitzender des Zentralrates der Deutschen Juden könnten Sie mit ihren nicht-jüdischen Landsleuten etwas behutsamer umgehen; wir sind nämlich alle verletzbar.” Bei soviel brüderlicher Nächstenliebe mochte auch Hans Magnus Enzensberger nicht zurückstehen und ergriff Partei für den bis zum Überdruß “gutmütigen” deutschen Mob gegen die “Phalanx von Mahnern, deren vorwurfsvolles Unisono uns in den Ohren schallt: … treibt es bitte nicht zu weit. Denn was dann passieren könnte, wollen wir uns lieber nicht ausmahlen. Allem Augenschein zum Trotz ist die Gutmütigkeit eine knappe Ressource, die nicht Ausbeutung verdient, sondern Schonung” (ausführlich dazu: Zuckermann 1999).

Keine offene Drohung, kein antisemitisches Gerücht scheint heute mehr unmöglich. Als Manfed Kanther die ‘schmutzigen Gelder’ aus der CDU-Spendenwaschanlage als ‘jüdische Vermächtnisse’ titulierte, muß er sich perfekt vorgekommen sein. Es irritiert auch niemanden mehr, wenn sich die deutschen Medien um den Neonazi Haider, von den EU Regierungen mühsam boykottiert, als Talkshowrenner geradezu reißen, wobei Ralph Giordano kapituliert und einräumt, er habe “selten einen sympathischeren Menschen” kennengelernt. Im Rückblick auf die Zeit der Entstehung der hier vorgelegten Texte zeigt sich, daß die Deutschen bei der Neukonstitution ihrer ‘inneren Einheit’ keine Überraschungen parat hatten; statt dessen haben sie alle Befürchtungen übertroffen. Was eigentlich nur als Neuauflage eines historischen Dokuments gedacht war, bezieht daher auf ganz unangenehme Art und Weise Aktualität.

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