Andreas Harms – Die Hauptthesen von “Allgemeine Rechtslehre und Marxismus” * Leseprobe aus ders., Warenform und Rechtsform

Die Hauptthesen von “Allgemeine Rechtslehre und Marxismus”

Andreas Harms

Der folgende Abschnitt will die Hauptthesen und Hauptargumente von Allgemeine Rechtslehre und Marxismus zusammenfassen und folgt dabei im wesentlichen dem Aufbau des Werkes und der Beweisführung von Paschukanis. Seine Arbeit gliedert sich nach topischen Gesichtspunkten in eine Einleitung und sieben Kapitel. Als Anknüpfungspunkt einer rechtstheoretisch orientierten Analyse eignen sich das dritte und vierte Kapitel, welche sich mit den für Paschukanis grundlegenden Rechtsbegriffen [ i ] Rechtsverhältnis und Rechtssubjekt beschäftigen. Auf die Wiedergabe der eingestreuten rechtshistorischen Ausführungen und Beispiele [ ii ] und der Polemiken wird weitgehend verzichtet. Die folgende Zusammenfassung will nicht interpretieren, auch wenn sich der Einfluß von Vorverständnissen nicht eliminieren läßt. Denn ein Text lebt auch davon, daß und wie die Sekundärliteratur ihn aufnimmt und überliefert.

Paschukanis‘ Bestimmung von Gegenstand und Methode

a.) Die historische Herausbildung der Allgemeinen Rechtslehre als Disziplin interpretiert Paschukanis als Konstituierung abstrakter Rechtsbegriffe wie Rechtsnorm, Rechtsverhältnis und Rechtssubjekt. Aufgrund ihres verallgemeinernden Charakters seien diese Begriffe in jedem besonderen Rechtsgebiet anwendbar und wirksam. Deshalb behielten sie auch bei jedem besonderen Rechtsinhalt ihre “logische und systematische Bedeutung” bei (S. 27). Paschukanis versteht diese Begriffe als Ergebnis einer “logischen” [ iii ] bzw. theoretisch methodischen Bearbeitung bestehender Rechtsnormen. Als solches Resultat eines entwickelten juristischen Denkens seien sie nicht apriorisch und voraussetzungslos gegeben.

Die Aufgabe der Allgemeinen Rechtslehre sieht Paschukanis darin, die “Rechtsform als historische Form” zu untersuchen (S. 33). Für Paschukanis verfehlen sowohl der “Neokantianismus”, Hans Kelsen, “idealistische Rechtstheorien”, “psychologische” und “soziologische Rechtstheorien” als auch “viele Marxisten” diese Aufgabe. Paschukanis wirft Kelsen vor, es eben zu versäumen, die “Rechtsform als historische Form” zu thematisieren. Kelsen betrachte infolge einer stringenten Methodologie die reine Gesetzmäßigkeit des Sollens und beziehe damit weder den Zweck dieses Sollens noch irgendwelche “vernunftgemäße[n] Bestimmungen” mit ein (S. 32).

Diejenige “bürgerliche Rechtsphilosophie”, welche das Rechtsverhältnis als “Willensverhältnis der Menschen überhaupt” konstruiere, stelle sich auch nicht die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung des Rechts (S. 72; 74). “Soziologische[…] und psychologische[…] Rechtstheorien” sähen von juristischen Begriffen gänzlich ab, operierten vielmehr mit Begriffen außerjuristischer Art und gingen damit an der eigentlichen Thematik der Allgemeinen Rechtslehre vorbei (S. 33). Ähnliches gilt laut Paschukanis auch für die Marxisten, welche lediglich zu dem Resultat gelängen, daß die jeweiligen Rechtsnormen materiellen Interessen einer bestimmten Klasse entsprächen (S. 35 f.).

Paschukanis möchte nicht den historischen Reichtum der Rechtsnorm erforschen, sondern das spezifisch juristische Moment des Rechts. Dabei könne ein “so komplizierter Begriff” wie das Recht nicht nach den Regeln der Schullogik erfaßt werden (S. 36; 37). Die “grundlegenden juristischen Abstraktionen” ließen sich vielmehr nur in ihrer vollendeten und klarsten Form, nämlich in der Geschichtsepoche der bürgerlichen Gesellschaft finden (S. 40; 41). Dabei beruhten die voll entfalteten juristischen Begriffe, welche “den Sinn der Rechtsform ausdrücken”, auf realen gesellschaftlichen Beziehungen (S. 43).

Methodisch stellt sich dies für Paschukanis als Problem von Wissenschaft überhaupt dar. Sowohl Natur- als auch Sozialwissenschaften müßten Abstraktionen bilden (S. 49). Allerdings konstruiere dabei jede Einzelwissenschaft nach der ihr eigenen Methode die konkrete Wirklichkeit “als Ergebnis der Kombination einfachster Abstraktionen”. Auch die Allgemeine Rechtslehre müsse daher so verfahren, daß sie gedanklich vom “Einfachsten zum Komplizierteren”, zur “konkreten Totalität” aufsteige (S. 50).

Außerdem gelte es zu beachten, daß naturwissenschaftliche Begriffe unabhängig von der historischen Zeit wirkten, sozialwissenschaftliche Begriffe “historisch” im doppelten Sinne seien, zunächst “als Element unseres Denkens”, also als Ideengeschichte, und weiterhin auch ’historisch‘ im Sinne der “reale[n] Geschichte” (S. 51). So entspräche “die Entwicklung der Begriffe der realen Dialektik des historischen Prozesses” (S. 52; vgl. auch 57). Dies gelte ebenso für das Recht als Form, welches sich in seiner realen Geschichte als “besonderes System von Verhältnissen” entfalte (S. 53). Insofern seien die juristischen Kategorien nur scheinbar universell und in Wahrheit lediglich ein “bestimmte[r] Aspekt” der “bürgerlichen warenproduzierenden Gesellschaft” (S. 56).

Unter Bezugnahme auf Marx erkennt Paschukanis die Möglichkeit, historisch vorhergehende Formen durch die sozialwissenschaftliche Analyse “höher entwickelte[r] Formen” zu verstehen (S. 56). Für die Allgemeine Rechtslehre habe dies die Konsequenz, daß am Beginn die “Analyse der Rechtsform in ihrer abstraktesten und reinsten Gestalt” stehe – die der Rechtsform der bürgerlichen warenproduzierenden Gesellschaft – und von da aus zum “historisch Konkreten” vorzudringen sei, z. B. zum System des Privatrechts von Rom (vgl. S. 57 f.).

“Folglich können wir klare und erschöpfende Definitionen nur erhalten, wenn wir unserer Analyse die voll entwickelte Rechtsform zugrunde legen, die die vorhergehenden Rechtsformen als ihre eigenen Embryonen wiedererkennt.” (S. 58)

b) Paschukanis geht davon aus, daß sich die Rechtskategorien nicht als reine Ideologie erschöpfend erklären lassen. Sie seien vielmehr als solche “objektive[…] Denkformen” zu untersuchen, die “objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechen” (S. 61). Auch soweit ein Begriff ideologischer Natur sei, schaffe er nicht die durch ihn ausgedrückte Materialität der Verhältnisse aus der Welt (S. 62). So seien die Kategorien der politischen Ökonomie “ideologische Gebilde” und nach Marx ins “Mystische” gewendete “Vorstellungsformen”, “in denen sich die warenproduzierende Gesellschaft das Arbeitsverhältnis zwischen den einzelnen Produzenten denkt.” (S. 60) Das scheinbare Paradoxon, daß das Recht als Ausdruck eines “objektiven gesellschaftlichen Verhältnisses” dasselbe Verhältnis regele (S. 65), meint Paschukanis auflösen zu können. Es müsse nachgewiesen werden, daß das Recht eine “in mystische Nebel gehüllte Form irgendeines spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisses darstellt” (Hervorheb. i. Orig., S. 66).

Im Verhältnis der Warenbesitzer zueinander, dessen Reflex die Rechtsform sei, findet nach Paschukanis das Recht seinen prägnantesten Ausdruck. So bewege sich im Privatrecht das “juristische Denken am freiesten und sichersten” (S. 68). Paschukanis umgrenzt seinen Gegenstand dadurch, daß er lediglich die rechtswissenschaftlichen Kategorien und Abstraktionen der bürgerlichen Gesellschaft untersuchen will und meint, auch nur diese untersuchen zu können, nicht jedoch Begriffe eines proletarischen Rechts. Insoweit nimmt er im Anschluß an Marx [ iv ] an, daß mit dem Absterben der Kategorien des bürgerlichen Rechts im ’entfalteten Sozialismus‘ das juristische Moment in den gesellschaftlichen Beziehungen an Bedeutung verlieren und schließlich gänzlich verschwinden wird.

“Das Absterben von Kategorien d es bürgerlichen Rechts wird unter diesen Bedingungen das Absterben des Rechts überhaupt bedeuten, d. h. das Verschwinden des juristischen Moments aus den Beziehungen der Menschen zueinander.”(S. 44)

Die “Übergangszeit” sei allerdings noch von einem “engen bürgerlichen Rechtshorizont” (so auch Marx) [ v ] geprägt, der sich erst mit dem “Übergang zum entwickelten Kommunismus” auflöse, wenn nämlich die “Form des Äquivalentverhältnisses endgültig überwunden sein wird” (Hervorheb. i. Orig., S. 44- 46). Paschukanis folgert daraus die Notwendigkeit einer “Kritik der bürgerlichen Jurisprudenz” in Anlehnung an Marx‘ Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie, nicht aber eine einfache Negation der juristischen Kategorien, sondern ihre Analyse im Hinblick auf die “historische Bedingtheit der Rechtsform” (S. 48). Unter ’Recht‘ versteht Paschukanis dabei nicht jede normative ’Regelung‘ gesellschaftlicher Verhältnisse. Er differenziert vielmehr zwischen technischen und rechtlichen Regeln (S. 67; 70). Nur die letzteren erhebt er zum Untersuchungs- und Kritikgegenstand.

Die Warentausch-Konzeption: Rechtsverhältnis und Rechtssubjekt

a) Die bürgerliche Gesellschaft umschreibt Paschukanis in Anknüpfung an Marx‘ “ungeheure Warensammlung”, als die der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften erscheine [ vi ] , als eine “unendliche Kette von Rechtsverhältnissen” (S. 75). Das einzelne juristische Verhältnis ist für Paschukanis die “Keimzelle des Rechtsgewebes”. In diesem vollziehe das Recht seine “reale Bewegung”, das Recht als “Inbegriff der Normen” sei indes nur eine “leblose Abstraktion” (S. 76). Für Paschukanis erhalten Rechtsnormen nur dann den Status einer “objektiven Existenz” (S. 78), wenn zumindest ein entsprechendes faktisches Verhalten im Zeitpunkt der Normsetzung erwartet werde oder sogar eintrete (S. 77). Für ihn muß sich die Norm als “objektives gesellschaftliches Phänomen” wiederfinden lassen (S. 78).

“Haben sich gewisse Verhältnisse tatsächlich gebildet, so heißt das, daß ein entsprechendes Recht entstanden ist; ist aber nur ein Gesetz entstanden oder Dekret erlassen worden, aber kein entsprechendes Verhältnis in der Praxis entstanden, so ist wohl ein Versuch zur Schaffung eines Rechts gemacht worden, aber ohne Erfolg.” (S. 79)

Weder ein formelles Gesetz noch die Rechtsordnung als “besondere, bewußt organisierte Ordnung” könne das Rechtsverhältnis erzeugen, auch wenn es nötigenfalls durch die staatlich organisierte Zwangsvollstreckung “garantiert” werde (Hervorheb. i. Orig., S. 80). Die Identifikation des Rechts mit der “Idee der unbedingten Unterwerfung unter eine äußere normsetzende Autorität” könne nicht Grundlage der Rechtsform sein (S. 96). Denn auch innerhalb anderer Strukturen – Paschukanis nennt das Militär und religiöse Orden – bestehe eine solche Autorität. Dort könne indes nicht von ’Recht‘ gesprochen werden.

Unter Bezugnahme auf Marx bestimmt Paschukanis das Eigentumsverhältnis als “unterste Schicht des juristischen Überbaues” innerhalb der gesamten Rechtsverhältnisse (S. 82). Jenes stelle nach Marx [ vii ] den “juristische[n] Ausdruck” für das Produktionsverhältnis dar. Der “Weg vom Produktionsverhältnis zum Rechtsverhältnis oder Eigentumsverhältnis” (S. 85) führe daher nicht über den Staat, sondern die Staatlichkeit sei umgekehrt das sekundäre abgeleitete Moment (S. 83 ff.).

b) Vor dem Hintergrund dieser Prämissen erhebt Paschukanis den Begriff des Rechtssubjekts zum Ausgangs- und Angelpunkt seines Theorems. Das Subjekt sei als Teil des Rechtsverhältnisses das “Atom der juristischen Theorie”, ein “einfachstes nicht weiter zerlegbares Element” (S. 106). Außerdem sei in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft die Kategorie des Subjekts “allgemeinster Ausdruck” jener Freiheit, die das Eigentum zur Grundlage der Rechtsform werden lasse, nämlich Eigentum als “freie Verfügung auf dem Markte” (S. 107). Das mit den Institutionen Besitz und Eigentum verbundene “Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis” versteht Paschukanis nicht als hinreichende Bedingung für die Entstehung und den Fortbestand der Rechtsform.

“Die idealistischen Rechtstheorien” hätten fälschlicherweise den Begriff des Subjekts aus einer “allgemeinen Idee” entwickelt (S. 108). Paschukanis will hingegen die historischen und materiellen Voraussetzungen des Rechtssubjekts finden und bedient sich dazu der Marxschen Analyse der Warenform aus dem Kapital [ viii ] (S. 109 f.). Im Produktionsprozeß der “Gesellschaft von Warenbesitzern” nähmen die gesellschaftlichen Verhältnisse eine dingliche Form an (S. 109). Die Ware werde in ihrer “konkrete[n] Mannigfaltigkeit der nützlichen Eigenschaften” zur “dinglichen Hülle der abstrakten Eigenschaft des Wertes”. Damit sei die “hinter dem Rücken der Menschen” sich herstellende Austauschbarkeit der Waren gegeben.

Die Realisierung des Wertes im Austauschprozeß setze jedoch einen bewußten Willensakt voraus. Der “verdinglichte” gesellschaftliche Zusammenhang der Menschen im Produktionsprozeß erfordere daher “zu seiner Realisierung ein besonderes Verhältnis” der Menschen als Subjekte, deren “Willen in jenen Dingen haust” (S. 110; nach Marx [ ix ] ). Mit der in den Waren geronnenen “abstrakt menschlichen Arbeit” erscheine das konkrete Verhältnis zwischen Mensch und Ding lediglich als abstrakter Wille des Eigentümers. Damit werde der Mensch zum “juristischen Subjekt” als “Abstraktion des Menschen überhaupt” (S. 111). Wenn dabei auch ökonomisch das Ding den Menschen beherrsche, so herrsche juristisch der Mensch über die Sache, da er in seiner “Eigenschaft als Besitzer und Eigentümer” zur Verkörperung des “abstrakten unpersönlichen Rechtssubjekts, des Reinprodukts gesellschaftlicher Verhältnisse” werde (S. 111).

“Nachdem er [es] in eine sklavische Abhängigkeit von der hinter seinem Rücken in der Gestalt des Wertgesetzes entstehenden ökonomischen Verhältnisses geraten ist, erhält das wirtschaftende Subjekt, sozusagen als Entschädigung, nunmehr als juristisches Subjekt eine seltene Gabe: den juristisch unterstellten Willen, der ihn unter den anderen Warenbesitzern, – solchen wie er selbst es ist – absolut frei und gleich macht.” (S. 112)

Die Kategorie des Rechtssubjekts werde aus dem Tauschakt abstrahiert, da erst in diesem der Mensch die “formelle Freiheit der Selbstbestimmung” realisiere und sich dabei das Subjekt in der Fülle seiner Bestimmungen offenbare (S. 115 f.). Paschukanis formuliert umgekehrt: “Im Akt der Veräußerung wird die Verwirklichung des Eigentumsrechts als Abstraktion zur Realität.” (S. 124) Paschukanis ergänzt den von Marx entwickelten Begriff des Warenfetischismus [ x ] durch den des “Rechtsfetischismus”. Das gesellschaftliche Phänomen der Herrschaftssphäre in Form des subjektiven Rechts werde dem Individuum ebenso zugeschrieben wie der Wert dem Ding als Arbeitsprodukt. Das Recht sei dabei wie die “mystische[…] Eigenschaft des Wertes” ein ebenso “rätselhaftes Phänomen” (S. 117).

“Der gesellschaftliche, in der Produktion wurzelnde Zusammenhang stellt sich gleichzeitig in zwei absurden Formen dar: als Warenwert und als die Fähigkeit des Menschen, Subjekt des Rechts zu sein.” (S. 111)

Für Paschukanis fußt die Idee des Subjekts historisch im Tauschgeschäft. Aus diesem entspringe die “abstrakte Rechtsform” als “allgemeine Fähigkeit, ein Recht zu besitzen” und damit auch die Möglichkeit des jederzeitigen Wechsels aus der Stellung eines Verpflichteten in die eines Fordernden (S. 117). Deshalb tret e auch die Wareneigenschaft der Arbeitsprodukte zugleich mit der Eigenschaft des Menschen auf, Rechtssubjekt zu sein. Dabei eigneten sich “die Vertreter naturrechtlicher Doktrin” den Gedanken des Willensverhältnisses im Warentausch in der Weise an, “indem sie versuchten, das Eigentum mit irgendeinem ursprünglichen Vertrag zu begründen” (S. 124).

Der Mensch als “juristischer Eigentümer”, dem historisch die Entwicklung des Marktes zur “unbegrenzten Warenzirkulation” vorausgehe, sowie das Privateigentum nehme erst mit der “warenkapitalistischen Wirtschaft” einen universellen Charakter an (126; 128). Dabei stehe die juristische Form des Eigentums – jeder Mensch ist gleichermaßen “eigentumswürdig” – nicht im Widerspruch zur Bedingung des Kapitals, eine große Zahl eigentumsloser Menschen vorzufinden (S. 129).

“Das kapitalistische Eigentum ist im Grunde die Freiheit der Verwandlung des Kapitals aus einer Form in die andere, der Übertragung des Kapitals aus einer Sphäre in die andere zwecks Erhalt eines möglichst großen arbeitslosen Einkommens.”(S. 129)

Für Paschukanis ist demnach das “bürgerlich kapitalistische Eigentum” kein “labiler, schwankender, rein faktischer Besitz” mehr, sondern ein “absolutes, unverrückbares Recht, das der Sache überall nachfolgt, wohin sie nur vom Zufall verschlagen wird […]” (S. 114). Er will die Kategorien der Handlungsfähigkeit und des Stellvertreters sowie den Begriff des Vertrages dabei aus dem Tauschgeschäft ableiten (S. 117 ff.): In der Veräußerung verwirkliche sich schließlich das Eigentumsrecht, da nur in ihr keine Beziehung mehr zur konkreten Art der Benutzung bestehe (S. 121; 122).

c) Paschukanis schließt aus diesen Darlegungen auf alle Gebiete des Rechts und der Allgemeinen Rechtslehre sowie der bürgerlichen Rechtswissenschaft insgesamt, vor allem mit Blick auf die juristischen Grundbegriffe. Der Versuch, das Recht ausschließlich als objektive Norm aufzufassen, beseitige nicht den Dualismus von subjektivem und objektivem Recht (S. 91 f.). Auch wenn die Rechtstheorie von einer “autoritative[n] Sollvorschrift” und einer von dieser erzeugten subjektiven Verpflichtung ausgehe, müßten diejenigen Elemente wieder eingeführt werden, welche den Begriff des subjektiven Rechts prägten. Nur ein Primat des subjektiven Rechts kann nach Paschukanis diesen Dualismus auflösen:

“Das Subjekt als Träger und Adressat aller möglichen Forderungen, die Kette durch gegenseitige Forderungen miteinander verbundener Subjekte ist das grundlegende juristische Gewebe, das dem ökonomischen Gewebe, d.h. den Produktionsverhältnissen der auf Arbeitsteilung und Austausch beruhenden Gesellschaften entspricht.” (S. 94)

Das “materielle[…] Interesse” des Subjekts existiere insoweit unabhängig von der bewußten Regelung des gesellschaftlichen Lebens (S. 93). Die Verpflichtung sei deshalb als Korrelat des subjektiven Rechtsanspruches zu begreifen (S. 94). Schließlich erhalte auch die Rechtsnorm als Teil der Rechtsordnung ihre “Differentia specifica” im Verhältnis zu nichtjuristischen Normensystemen dadurch, daß sie “eine mit Rechten ausgestattete und dabei aktiv Ansprüche erhebende Person” voraussetze (S. 96). So sei z. B. “der Versuch, das Eigentumsrecht auf an Dritte gerichtete Verbote zu reduzieren, nur ein logischer Kniff, eine verstümmelte, auf die Kehrseite gewendete Konstruktion” (Hervorheb. i. Orig., S. 92 f.).

Die von der Allgemeinen Rechtslehre vorgenommene Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Recht führt Paschukanis auf die grundlegende gesellschaftliche Aufspaltung des Menschen in Bürger und Staatsbürger zurück, durch welche nach Paschukanis auch die theoretische Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht bedingt ist (S. 98). Die Privatinteressen in der bürgerlichen Gesellschaft ließen sich jedoch “dem Wesen der politischen Organisation” nach – Paschukanis spricht über den Staat – kaum dem Staat ein- und unterordnen (S. 99). Auch deshalb träten die subjektiven öffentlichen Rechte als “ewig Zweifelhaftes” auf. Der Begriff des öffentlichen Rechts insgesamt könne nur in seiner “Bewegung” der Abstoßung vom und der Rückkehr zum Privatrecht entwickelt werden (S. 103).

Staat, Moral und Strafe

a) Im Anschluß an die Warentausch-Konzeption als Kerntheorem behandelt Paschukanis ’klassische‘ rechtsphilosophische Fragen wie die nach Staat, Moral und Strafe. Er versucht sein Modell auch auf diese Bereiche auszudehnen. Der Rechtsverkehr unter den Bedingungen einer warenproduzierenden Gesellschaft setze – so Paschukanis über den Staat – einen Friedenszustand voraus (S. 138). Er beschreibt diesen Zustand als (vorläufigen) geschichtlichen Endpunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung. Erst beim Tausch als “regelmäßige[r] Erscheinung” werde dieser Zustand zur Notwendigkeit (S. 139) – also in der warenproduzierenden Gesellschaft. Dann realisiere sich zugleich die “Staatsmaschine” als “unpersönlicher Gesamtwille”, als “Macht des Rechts” (S. 144). Diese Verschmelzung des Staates mit der “abstrakten objektiven Norm” führt Paschukanis auf die Voraussetzung des Marktes zurück, freie und gleiche Rechtssubjekte vorzufinden. Das Auftreten dieser Subjekte schließe die Anwendung unmittelbaren Zwangs als gesellschaftlicher Funktion aus.

“Die Macht eines Menschen über den anderen wird als Macht des Rechts in die Wirklichkeit umgesetzt, d.h. als die Macht einer objektiven unparteiischen Norm.” (S. 149 f.)

In den mittelalterlichen Stadtgemeinden scheide sich zum ersten Mal die öffentliche Gewalt als “öffentlich-rechtliche[s] Prinzip der territorialen Oberhoheit” vom Privateigentum an Grund und Boden ab (S. 141). Als “Garant” der Verhältnisse des Tauschaktes, also des Marktverkehrs, erhalte dann die “tatsächliche Herrschaft” einen “juristischen Öffentlichkeitscharakter”. Der moderne Staat hingegen entstehe erst unter den Bedingungen eines ausgedehnten Marktverkehrs (S. 141).

Im Gegensatz zum Staat in seiner Garantiefunktion für den Warenverkehr hält Paschukanis den “Staat als Organisation der Klassenherrschaft und als Organisation für die Führung von äußeren Kriegen” einer juristischen Deutung für nicht zugänglich (S. 142). Denn in diesem Bereich des Staates bzw. bei dieser Funktion regiere die reine Zweckmäßigkeit der “sogenannten Staatsraison” (S. 142). Die naturrechtlichen Theoretiker hätten fälschlicherweise den Staat aus einem Vertrag der Warenbesitzer abgeleitet und ihn zudem als Element jeder Gesellschaft betrachtet, ähnlich wie sie auch den Verkehr von Warenbesitzern als menschlichen Verkehr von unabhängigen und gleichen Persönlichkeiten überhaupt angesehen hätten (S. 150).

Die “juristische Staatstheorie” hingegen behaupte den Staat als “von der Gesellschaft getrennte selbständige Gewalt” (S. 153, Hervorheb. i. Orig.). Dieser Staatstheorie fehle es aufgrund ihres Begriffs der öffentlichen Gewalt an jeglicher Beziehung zur realen Wirklichkeit (S. 153). Denn die Macht als “’Kraft des Rechts‘” werde in der bürgerlichen Gesellschaft nur insoweit realisiert, als sie einen Markt der freien und gleichen Warenbesitzer darstelle (S. 153). Der Staat sei daher kein reiner Gedankengegenstand, sondern eine Wirklichkeit mit “dinglichen und persönlichen Elementen” (S. 155). Deshalb erkennt Paschukanis auch in jeder weiteren Differenzierung der bürgerlichen Staatlichkeit “ein einziges Prinzip”: zwischen zwei Tauschenden könne nur eine dritte Partei die gegenseitig zu gewährende Anerkennung und die Regeln des Verkehrs personifizieren (S. 156 f.).

b) Die Vorstellung vom Menschen als “moralisches Subjekt” leitet Paschukanis aus der Idee der Gleichwertigkeit her:

“Damit sich menschliche Arbeitsprodukte zueinander verhalten können wie Werte, müssen sich Menschen zueinander verhal ten wie unabhängige und gleiche Persönlichkeiten.” (S. 159)

So erkennt er im moralischen Subjekt, im Rechtssubjekt und schließlich im Menschen “als egoistisches wirtschaftendes Subjekt” drei Voraussetzungen für den regelmäßigen Tausch (S. 160). Der Mensch stellt sich ihm als eine Art ’Dreifaltigkeit‘ dar. Diese Bestimmungen sollen zugleich den Rahmen der wesentlichen “Charaktermasken” bilden, unter denen der Mensch in der warenproduzierenden Gesellschaft auftritt (S. 161). Der Tausch als Angleichung aller Arten von Arbeit durch Reduktion auf abstrakt menschliche Arbeit verkörpere umgekehrt das Prinzip der Gleichwertigkeit der Persönlichkeiten.

Paschukanis entdeckt dabei in der Ethik Kants die “typische Ethik” der warenproduzierenden Gesellschaft. Der kategorische Imperativ sei überindividuell, solle sich unabhängig von empirischen Motiven und jedem Zwang verwirklichen und entfalte sich schließlich “durch das Bewußtsein seiner Universalität” (S. 163). Die Regel, die eigentlich den Verkehr zwischen Warenbesitzern bestimme, werde zum “inneren Gesetz” des Warenbesitzers als Träger der Freiheit. Zudem sei die ethische Forderung, jeden Mitmenschen als Selbstzweck zu betrachten, widersprüchlich. Denn sie mache nur unter der Bedingung Sinn, daß ein Mensch real zum Mittel statt zum Zweck gemacht werden könne. Deshalb sei die “Unsittlichkeit der gesellschaftlichen Praxis” mit dem sittlichen Pathos verbunden (S. 167). Paschukanis kennzeichnet diese Kritik als eine Kritik der “Form”, nicht des Inhalts der Idee der moralischen Persönlichkeit (S. 168). So kehrt für Paschukanis in einer “Klassenmoral des Proletariats” das abstrakte Verhältnis der moralischen Pflicht zurück (S. 169).

Den Unterschied zwischen der Rechtsform und der ethischen Form erkennt er in der Erzwingbarkeit normgerechten, im Gegensatz zur Freiheit des moralischen Verhaltens (S. 172-174). Wesentlicher Aspekt der Rechtsform sei Idee und Organisation des Zwangs. Die “Rechtsforderung” trete nicht als “’innere Stimme‘” auf, sondern gehe von einem äußeren Subjekt aus (S. 175). Für Paschukanis veranschaulicht der Begriff der Rechtsverpflichtung das Problem der “bürgerlichen Rechtsphilosophie”, Moral und Recht zu differenzieren (S. 175). Denn mit Julius Binder [ xi ] müsse in letzter Konsequenz nicht von ’Pflicht‘, sondern nur von ’Haftung‘ gesprochen werden, wenn das Primat nicht auf von Einzelsubjekten getragenen Ansprüchen liegen soll. Dann verpflichte das Recht eben rechtlich zu nichts. Ein solcher Standpunkt führe jedoch dazu, das Recht von der “Unterwerfung unter die Gewalt” nicht mehr unterscheiden zu können (S. 175), woraus Paschukanis folgert, daß die Rechtsverpflichtung keine selbständige Bedeutung erlangen kann, weil sie immer zwischen der “äußeren Zwangsmäßigkeit” und der freien moralischen Pflicht schwanke. Insoweit gebe sich die Warenzirkulation sowohl mit einem “Maximum” – innerlich von der gegenseitigen Anerkennung überzeugt zu sein – als auch mit einem “Minimum” – sich so zu verhalten, “als ob” man sich gegenseitig anerkenne – zufrieden (S. 177). Dieser “Widerspruch im System” habe schließlich seine Ursache in realen Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft und sei nur mit dieser aufzulösen.

c) Das Strafrecht gilt Paschukanis als Pars pro toto für das gesamte Recht, denn “es ist ein Teil, der das Ganze ersetzt” (S. 180). In ihm sei die Norm mit der Strafandrohung unmittelbar verbunden. Auch im Strafrecht verwirklicht sich für Paschukanis die Idee des auf der Warenform fußenden Äquivalents. Das Verbrechen sei eine besondere Art der Zirkulation, wobei das Tausch- und damit das Vertragsverhältnis nachträglich und unfreiwillig in einer bestimmten Proportion zwischen Verbrechen und Vergeltung festgesetzt werde (S. 181; 196). Der Geschädigte finde im Prozeß eine Verkörperung in der Person des öffentlichen Anklägers, welcher einen “’hohen Preis‘” fordere (S. 192). Dabei enthalte die Abstufung der Verantwortlichkeit mit dem Begriff der Schuld lediglich eine differenziertere Grundlage für das Strafmaß (S. 195 f.). Die Angemessenheit einer Strafe sei jedoch eine Frage des Äquivalents, nicht eine von Strafzwecken wie die Gesellschaft zu schützen oder auf den Delinquenten einzuwirken.

“Die der Schuld angemessene Strafe stellt die prinzipiell gleiche Form dar, wie die dem Schaden angemessene Vergütung. Charakteristisch ist vor allem der arithmetische Ausdruck für die Härte des Urteils: soundso viel Tage, Monate usw. Entziehung der Freiheit […].” (S. 196)

Paschukanis illustriert diese Auffassung anhand der Geschichte des Strafens von der Rache bis zur “besondere[n] Abart der Zirkulation” (S. 181). Das Strafsystem der bürgerlichen Gesellschaft sei allerdings nicht nur Teil der Verhältnisse abstrakter Warenbesitzer, sondern auch “Waffe zum Schutz der Klassenherrschaft” (S. 190). Seinem Inhalt nach sei es “organisierte[r] Klassenterror”, denn das “Klasseninteresse” drücke dem strafpolitischen System “den Stempel historischer Konkretheit” auf (S. 188; 189).

Paschukanis steht dabei fortschrittlichen ’bürgerlichen‘ Strafrechtstheoretikern nur insoweit positiv gegenüber, als diese die Strafe vom Standpunkt des Zwecks aus beurteilen. In der realen Strafpraxis kann er jedoch keine Änderungen entdecken, was er darauf zurückführt, daß die Form der äquivalenten Vergeltung mit der Vorstellung des “abstrakten Menschen” und der “abstrakten, durch Zeit meßbaren menschlichen Arbeit” zusammenhänge und deshalb auf der warenproduzierenden Gesellschaft selbst basiere (S. 197; 199). Eine Aufhebung des Strafsystems und seiner Begriffe sei deshalb nur mit dem “Absterben des rechtlichen Überbaues überhaupt” möglich. Erst dann könne das Prinzip des gesellschaftlichen Schutzes” einkehren, unter dem der “Zwang als Schutzmaßnahme” ein “reiner Zweckmäßigkeitsakt” sei (S. 205).

Anmerkungen

[ i ] Zu den rechtlichen Grundbegriffen sei exemplarisch auf Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 242-245, verwiesen, wobei Stammlers neukantianische Lesart diese Begriffe als apriorische versteht, im Gegensatz zur positivistisch beeinflußten Allgemeinen Rechtslehre, die solche abstrakten Begriffe als Ergebnis einer Verallgemeinerung des positiv gegebenen Rechtsstoffs sieht.

[ ii ] Deren Status wird noch zu erörtern sein (vgl. in diesem Kapitel VI. 4.).

[ iii ] Paschukanis spricht ganz unbefangen von ’Logik‘. Soweit er unter Logik in einem weiteren Sinne die Methodologie einer Wissenschaft versteht, ist seine Verwendung des Begriffs nachvollziehbar. Im Gegensatz dazu kann Paschukanis mit ’Logik‘ nicht formale Logik meinen, die unabhängig vom Anwendungsbereich Geltung beansprucht. Im vorliegenden Zusammenhang meint er mit “logischer Bearbeitung der Normen” (S. 27) vielmehr das Zerlegen und Zusammenfassen von Normen im Sinne eines analysierenden und abstrahierenden Denkvorganges.

[ iv ] Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 15 ff.

[ v ] A.a.O., S. 21.

[ vi ] So bereits in Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 15 und im Kapital, 1. Bd., MEW 23, S. 49.

[ vii ] MEW 13, S. 9.

[ viii ] Siehe oben unter III. 3.

[ ix ] MEW 23, S. 99.

[ x ] MEW 23, S. 85 ff.

[ xi ] Julius Binder, Rechtsnorm und Rechtspflicht, Rede bei Übernahme des Prorektorats in Erlangen 1911, 2. Auflage, Leipzig 1912, S. 47, “Das Re cht verpflichtet rechtlich zu nichts.”

Trennmarker