Bruhn et. al – Geduld und Ironie * Vorwort

Johannes Agnoli zum 70. Geburtstag

Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann, Clemens Nachtmann

Die Frankfurter Allgemeinen Zeitung druckte vor kurzem den Satz: “Moderne Gesellschaften besitzen keinen Ort, von dem aus ihre Gesamtintegration möglich wäre: weder der Staat noch die Nation und schon gar nicht mehr die Religion vermögen dies zu leisten.” Wohin man auch blickt: für diejenigen, die sich, wie Karl Marx das einmal nannte, mit der “Reproduktion der Wirklichkeit im Denken” zu befassen haben, d. h. für die Sozial- und Geisteswissenschaftler, scheint dieser Befund außer Frage zu stehen – debattieren sie doch nur noch darüber, was die Zerstörung der gesellschaftlichen Einheit verursacht haben mag, ob es am Versagen der Politik liegt, am Verlust allgemein verbindlicher Normen oder an beidem zugleich. Und der moderne Wissenschaftsbetrieb gibt sich alle Mühe, praktisch relevante Vorschläge auszuarbeiten, die der Gesellschaft einen neuen Integrationsschub verschaffen könnten.

Allerdings sollte schon ein naiver Blick auf die Probleme der Gegenwart ausreichen, um zumindest starke Zweifel an der Praxisbezogenheit derartiger Anstrengungen aufkommen zu lassen. Denn stellt man nur die Frage, ob es denn irgendeinen Ort auf dieser Erde gibt, an dem mit Geld nicht alles gekauft werden kann, dann sollte auch die Frankfurter Allgemeine zugeben müssen, daß das Geld als der Ort angesehen werden muß, der allen Menschen den gemeinsamen Bezugspunkt verschafft. Dem immerhin mögliche Einwand, daß das Geld die Menschheit nicht wirklich integriert, sondern in Konkurrenten aufspaltet, die einander bekämpfen und bekriegen, ist allerdings die Plausibilität nicht rundum abzusprechen. Lassen wir also die Naivität beiseite und gehen wir auf den genauen Wortlaut des Zitates ein.

Daß die Religion zumindest im Westen nicht mehr der Ort der gesellschaftlichen Integration ist, leuchtet ein. Ob die apodiktische Verallgemeinerung haltbar ist, kann zwar bezweifelt werden – aber wir wollen uns nicht an Kleinigkeiten festbeißen und nur erfreut feststellen, daß dies für die Kritik bedeutet, ein Problem weniger zu haben: Religionskritik ist damit obsolet. Was jedoch Staat und Nation betrifft, bestehen ganz erhebliche Zweifel. Besonders die Behauptung, der Staat sei heute kein Ort der Gesamtintegration mehr, will nur schwer in den Kopf.

Was ist der Staat, wenn er nicht mehr die Zusammenfassung all dessen ist, was die Individuen zu Staatsbürgern macht? Was soll er, wenn er nicht mehr der demokratisch organisierte Ausdruck des Gesamtwillens aller einzelnen ist? Hat die Wirklichkeit die Staatskritik von links überholt? Sind Staatskritiker vom Schlage Johannes Agnolis restlos antiquiert? Und ist die Kritik an der Form Staat gegenwärtig bloß deshalb so randständig, weil ihr der Gegenstand abhanden gekommen ist? Brauchen wir gar einen neuen Staat, weil der alte zwar abgeschafft wurde, wir jedoch mittlerweile erkennen müssen, daß wir, ganz ohne Staat, vom Regen in die Traufe kommen?

Man mag dagegen halten, diese Fragen hätten mit dem oben zitierten Befund nichts zu tun, geht es doch um die aktuellen Konfliktlinien moderner Gesellschaften, um Konflikte, die immer wieder und immer öfter – wenn auch noch lokal einigermaßen begrenzt – zu Kriegen eskalierten. Auch diesem Einwand ist nicht zu widersprechen.

Allerdings liegt das unentrinnbare Dilemma derartiger Bestandsaufnahmen darin, daß sie die Realität ohne jede Reflexion auf ihre gesellschaftliche Konstitution einzig und allein als das beschreiben, als was sie erscheint. Dabei kann nur übersehen werden, daß allen Ebenen der Integration – Familie, Arbeit, Staat, Religion, Geld usw. – die Konflikte, die in ihnen ausgetragen werden, schon immanent sind. Logisch betrachtet, kann es auch gar nicht anders sein: Denn enthielten die zu Institutionen aggregierten Sphären einer Gesellschaft nicht schon all das, als was sie dann tatsächlich erscheinen, dann würde es sich dabei um theoretische Konstruktionen handeln, und nicht um wirklich existierende Gebilde.

Vor allem eines hat sich die Wissenschaft längst abgewöhnt: die Reflexion darauf, was es eigentlich ist, das in einer in Staaten, Nationen, Kulturkreise usw. aufgespaltenen Welt überall das gleiche Gesetz der politischen Ökonomie gelten läßt. Kaum noch gefragt wird, ob es nicht die Geltung dieses Gesetzes ist, das die Bedingung der Möglichkeit dafür schafft, daß aus einem Verein harmoniesüchtiger Bürger immer wieder Haufen einander bekriegender Lemminge werden. Mißachtet wird das grundlegende Gebot der Logik, daß Aussagen über konkrete gesellschaftliche Zustände und Konflikte nur dann zu wirklichen Erkenntnissen führen können, wenn zuvor die allgemeine Form reflektiert und kritisiert worden ist, in der sie sich ausdrücken.

Die Wissenschaft hat sich einem Kategoriensystem verpflichtet – man kann es auch Paradigma nennen -, das Einheit nur als institutionalisierte, d. h. über ein allgemein akzeptiertes Normensystem vermittelte gesellschaftliche Ordnung denken kann. Dem entgegen steht die Erkenntnis von Marx, daß die moderne Gesellschaft zwar ein durch das Handeln der Individuen sich vollziehendes, aber sich dennoch aus sich selbst reproduzierendes System darstellt, ein System, das sich nicht darum schert, was die Menschen denken, das von ihren persönlich Hoffnungen und subjektiven Wünschen nicht gesteuert werden kann.

Und hoffentlich bleibt das auch so, ist man angesichts des akademischen Problembewußtseins geneigt, hinzuzufügen. Denn die in den Universitäten ausgetüftelten Integrationsstrategien münden, weil sie von der Logik, die den Institutionen selbst immanent ist, abstrahieren, zwangsläufig in eine falsche Alternative dieses selbstreproduktiven Prozesses der zum System gewordenen Gesellschaft, die Marx noch nicht kennen konnte: in die ideologisch vermittelte und staatlich institutionalisierte Integration der Individuen zu einem homogenen Ganzen. Die in der FAZ zum Ausdruck kommende, früher nur von Ultras zu hörende Klage über den Verfall des Abendlandes folgt einer Tendenz, die, wird sie nur konsequent genug praktiziert, der politischen Ökonomie des Kapitals eine auf keine Besonderheiten mehr Rücksicht nehmende Homogenität überstülpt. Politische, erst recht ideologische Integrationsbemühungen, die keinen Begriff von den Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise haben, enden, wie Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus zur Genüge bewiesen haben, in der Katastrophe, im Dementi jeder Chance der freien Entfaltung der Menschen als Individuen. Eine Wissenschaft, die sich um die Einheitlichkeit des Allgemeinen sorgt statt um die Kritik der real existierenden Einheiten, hat mit kritischer Vernunft nichts gemein.

Ein bekannter Professor des Otto Suhr-Instituts der FU Berlin hat dankenswerterweise die Herausgeber darauf aufmerksam gemacht, daß eine Festschrift für einen so scharfen Kritiker akademischer Gepflogenheiten, wie Johannes Agnoli einer ist, einen Widerspruch in sich selbst darstelle. Wenn sie dennoch an ihrem Vorhaben festgehalten haben, dann nur deswegen, weil sie wissen, daß ihm jeder praktizierte Widerspruch allemal lieber ist als das Bekenntnis zu allgemeinen Vorstellungen, von denen man nur hoffen mag, daß sie die gesellschaftliche Realität viel zu sehr verfehlen, um jemals verwirklicht werden zu können.

In diesem Zusammenhang sei – neben allen, die sich materiell und ideell an der Herausgabe dieser Festschrift beteiligt haben – der PDS gedankt, die mit ihrer Spende das Erscheinen dieser Festschrift ermöglicht hat: Wir sehen darin ein Beispiel praktizierten Widerspruches in sich selbst, das Schule machen sollte.

Die Herausgeber

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