Diskussion – Überleben: Versteckte und deportierte Kinder in Frankreich

Überleben: Versteckte und deportierte Kinder in Frankreich

Mitschnitt einer französischen Zeitzeugendiskussion

Angefangen hat alles mit einer Monographie der französischen Autorin Danielle Kupecek, in der sie das Schicksal der 1929 aus Polen nach Frankreich eingewanderten jüdischen Familie Novodorsqui erzählt und vor allem die Jahre der Verfolgung 1940-45 rekonstruiert.

Am Beispiel dieser Familie, die sich 1933 in dem kleinen Ort Montargis niederließ, will sie nach eigenen Worten darstellen, wie normale, “kleine” Juden in Frankreich mit der Verfolgung konfrontiert wurden und sich der Deportation entzogen, weil sie Rettungschancen geschickt und mutig nutzten. Während die Mutter, Génia, im Juli 1942 überraschend inhaftiert, binnen weniger Tage deportiert und sofort nach der Ankunft in Auschwitz umgebracht wurde, konnte der Vater, Mendel, mit viel Glück überleben, weil er auf der Flucht in die “zone libre” im Süden des Landes gefaßt wurde und dort seit April 1942 in verschiedenen Arbeitslagern interniert war – von Januar 1943 an jedoch unter vergleichsweise günstigen Bedingungen, dank derer er auch den Razzien im Lager entging.

Im Zentrum der Studie stehen die vier Kinder der Familie und vor allem die drei älteren Töchter, die schließlich versteckt, als “enfants cachées” überlebten. Die jüngste, Monique, konnte durch Zufall unbehelligt bei einer jüdisch-katholischen Familie in Montargis bleiben; sie war, als ihre Mutter verhaftet wurde, kaum sieben Monate alt. Die drei anderen, Raymonde, Suzanne und Flore, verdankten ihre Rettung wohl auch diesem oder jenem Zufall, aber zugleich dem eigenen Überlebenswillen und Mut. Als sie von der Mutter getrennt wurden und ihre Odyssee begann, waren sie 13, 10 und 7 Jahre alt.

Zunächst auf mehrere Familien verteilt, dann Anfang Oktober verhaftet und in ein Internierungslager eingewiesen, wo sie zwei Monate lang mit extremen Lebensbedingungen fertig werden mußten, wurden sie im Dezember 1942 zusammen mit anderen Kindern unter 14 Jahren aus dem Lager geholt und in einem Kinderheim der Union Générale des Israélites de France (UGIF) untergebracht, das sie Ende Januar 1943 mit einem zweiten Heim vertauschen mußten. Hier waren sie zwar vor Hunger und Krankheit, nicht jedoch vor Razzien und Deportationen geschützt. Ende Mai wurden sie auf zwei andere Heime verteilt, aber Raymonde konnte wenigstens erreichen, daß die jüngeren Schwestern irgendwann aus der Pariser Region in die Stadt zurückverlegt wurden, so daß sie in Kontakt blieben.

Im August beschloß sie, mit den Schwestern zum Vater zu fliehen. Dank der Hilfe von Pariser Verwandten, die sie bei sich versteckten und die Fahrt über die Demarkationslinie organisierten, gelang es ihnen – nach mehreren Fehlschlägen – Ende August 1943. In der “zone libre” konnte der Vater sie in einem katholischen Mädchenpensionat unterbringen, wo man sie nicht verriet. Nach der Befreiung kehrte Mendel im September 1944 mit seinen drei Töchtern nach Montargis zurück und holte die jüngste bei der Familie ab, die sie aufgenommen hatte.

Als die erste Fassung dieser Monographie beendet ist, lernt Danielle Kupecek den Langenhagener Französischlehrer Dirk Bode kennen, der die Familiengeschichte mit seinen Schülern durcharbeiten und übersetzen möchte. Nun entsteht ein reger Austausch – mit dem Ergebnis, daß Lehrer und Schüler nach Frankreich fahren, wo sie nicht nur einige der Orte besichtigen, an denen die Geschichte spielt, und drei der Protagonistinnen kennenlernen (Suzanne in Montargis, Raymonde und Monique in Paris), sondern auch das Museum des Pariser Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC) und zwei Synagogen besuchen und sich abschließend sowohl mit dem traditionell christlichen als auch mit dem aktuellen Antisemitismus auseinandersetzen.

In dieses Programm gehört ferner eine Veranstaltung im CDJC, bei der neben Raymonde und Monique auch zwei als Kinder deportierte Frauen – Evelyne Zylberman (geb. Dachs) und Ida Grinspan (geb. Fensterszab) – sprechen, die die Konzentrationslager überlebt haben. Nach einer Einführung des pädagogischen Leiters des Museums, Claude Singer, berichten die vier Frauen den (französischen und deutschen) Schülern von ihren Erfahrungen und antworten auf Fragen; gedolmetscht wird alles von Dirk Bode, der zum Abschluß die von seinen Schülern angefertigte Übersetzung der Monographie überreicht. Mit leichten Kürzungen – und natürlich ohne die Dolmetschpassagen – geben wir im folgenden den Mitschnitt wieder, den Monique von diesem Gespräch angefertigt und uns freundlicherweise (mit Zustimmung der übrigen Beteiligten) überlassen hat.

Gesprächsleiterin: Das sind die Schwestern Novodorsqui, von deren Existenz ihr bereits wißt, da ihr ihre Geschichte übersetzt habt. Hier ist Raymonde …

Raymonde: Ich bin die Älteste.

Gesprächsleiterin: … sie ist die Älteste, und sie ist es, die ihre kleinen Schwestern in die südliche Zone gebracht und die Flucht aus den Kinderheimen der UGIF organisiert hat. Zu meiner Rechten befindet sich Monique, die Jüngste, die nach der Verhaftung ihrer Mutter in Pflege gegeben wurde, hier ist also Monique, und dann haben wir hier Madame Evelyne Zylberman, die 1944 mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester nach Bergen-Belsen deportiert worden ist. Ebenfalls zu meiner Rechten befindet sich Madame Ida Grinspan, die im Alter von 14 Jahren nach Auschwitz deportiert worden ist. Wie ihr seht, haben wir viele Zeitzeugen, wir werden gezwungen sein, uns sehr genau an unseren Zeitplan zu halten, wir werden unsere Zeugen bitten, etwa zehn Minuten zu sprechen, danach könnt ihr ihnen fünf bis zehn Minuten lang alle Fragen stellen, die euch einfallen, und dann machen wir weiter. Raymonde hat jetzt das Wort:

Raymonde: Ich habe seit fünf Jahren Hörprobleme, deshalb müßt ihr laut reden, denn selbst mit einem Hörgerät geht es nicht sehr gut, diese Apparate sind noch verbesserungsbedürftig.

Gut, also was kann ich euch erzählen, soll ich euch meine Verhaftung erzählen? Zuerst ist Maman am 14. Juli 1942 in Montargis festgenommen worden. Eigentlich fanden die großen Razzien in Paris am 16. statt, aber unser Verwaltungskommissar, der ein ehemaliger Colonel der französischen Armee war, wollte übereifrig sein; er ist dem Aufruf zuvorgekommen und hat meine Mutter festgenommen, die normalerweise nicht hätte festgenommen werden dürfen, weil sie ein Kind im Alter von sechs Monaten hatte, und man verhaftete keine Mütter, die Kinder unter zwei Jahren hatten. Trotz allem hat man sie festgenommen.

Maman ist also am 14. Juli verhaftet, am 17. deportiert und am 21. in Auschwitz vergast worden.

Unterdessen sind wir alle vier in Familien aus Montargis untergebracht worden, und am 8. Oktober 1942, also drei Monate später, sind wir in der Schule verhaftet worden, außer meiner kleinen Schwester, die sechs Monate alt war und sich bei einer Frau befand, bei einer Pflegemutter, einer Freundin von Maman, die nicht jüdisch war, denn man durfte nicht in Familien sein, die ganz jüdisch waren, man mußte in halbjüdischen Familien sein. Wer hatte sie für uns ausgesucht? Ich denke, es war jemand von der UGIF, der sich in Montargis befand und für die Unterbringung zuständig war.

Wir wurden also alle drei – meine jüngste Schwester nicht – am 8. Oktober von der Feldgendarmerie verhaftet. Und als der Soldat von der Feldgendarmerie kam, um meine kleine Schwester festzunehmen, hat sie ihm Pipi auf den Arm gemacht, da hat er sie ganz plötzlich der Pflegemutter wiedergegeben, und so kam es, daß sie nicht mit uns ins Konzentrationslager gekommen ist. Es ist merkwürdig, aber so war es.

Wir sind einen ganzen Nachmittag lang auf der Feldgendarmerie geblieben, dann im Gefängnis von Montargis, und zwei Tage später sind wir ins Konzentrationslager von Beaune-la-Rolande gekommen … ich weiß nicht, o b ihr in Beaune-la-Rolande wart … wir sind dort bis Dezember geblieben, bis Ende Dezember.

Im Januar 1943, nein, halt, Ende Dezember 1942 sind wir dann in die Zentren der UGIF in Paris überwiesen worden, denn die Kinder unter 14 Jahren, die keine Eltern mehr hatten … das war also unser Fall.

Dann sind wir in den Kinderzentren geblieben, wir haben verschiedene durchgemacht … ich muß mich beeilen, nicht wahr?

Gesprächsleiterin: Nein, nein, mach ruhig weiter.

Raymonde: Wir sind zuerst nach Lamarck gebracht worden, ins Zentrum von Lamarck, in der Nähe von Sacré-Coeur. Dann nach Guy-Patin, rue Guy-Patin, wo sich ein anderes Zentrum befand, und dort hat es Razzien gegeben, denn die Polizei kam mit Listen, und auf diesen Listen standen oft Kinder ausländischer Herkunft, nicht immer. Es gab eine Liste, und wenn man das Glück hatte, nicht auf der Liste zu stehen, konnte man bleiben. Ein Bus wartete auf die Abfahrt. Am 8. Februar 1943 fand eine Razzia in Guy-Patin statt, und wir waren erstaunt, daß wir nicht auf der Liste waren, weil meine Eltern die französische Staatsangehörigkeit vor dem Krieg, genau zu Beginn des Krieges, beantragt hatten. Papa hatte die polnische Staatsangehörigkeit verloren; sie haben gesagt, “ohne Begründung”, sie mußten die Rücknahme der polnischen Staatsangehörigkeit nicht rechtfertigen. Uns war es egal, weil wir französisch sein wollten. Wir waren weder polnisch noch französisch; wir wurden als Staatenlose angesehen. Da man nicht genau wußte, welche Staatsangehörigkeit wir hatten, sind wir in den Zentren geblieben.

Wir waren in Lamarck, im Zentrum von Lamarck, im Zentrum von Guy-Patin, dann sind wir nach Lamarck zurückgekommen, und danach waren meine kleinen Schwestern in einem Zentrum in Louveciennes, das ist in der Pariser Region [Yveslines], und ich war in Vauquelin, rue Vauqelin, und als meine kleinen Schwestern zurückgekommen sind, haben wir beschlossen zu fliehen.

Zu dieser Zeit war mein Vater in die freie Zone gefahren. Er war im April 1942 in die freie Zone gefahren, weil er nicht dachte … er wäre niemals gefahren, wenn er gewußt hätte, daß Maman festgenommen werden würde, aber sie ist nicht an seiner Stelle festgenommen worden; sie hätten ihn in jedem Fall gekriegt. Er war also 1942 mit einem Schleuser in die freie Zone gefahren, und er ist an der Grenzlinie geschnappt worden. Er war in den Lagern, von denen Danielle erzählt …

Gesprächsleiterin: … der Groupements de Travailleurs Etrangers.

Raymonde: Ja, wissen sie darüber Bescheid?

Gesprächsleiterin: Ja, sie wissen Bescheid; du kannst mit der Flucht weitermachen.

Raymonde: Papa war also in den Zentren, in den Konzentrationslagern der freien Zone. Er kümmerte sich um uns, aber wir haben nie gewußt … er schickte uns Päckchen, aber wir haben nie gewußt, wie unglücklich er war. Er hat niemals darüber gesprochen.

Das einzige, was ich heute weiß, ist das, was Danielle über die Konzentrationslager der freien Zone herausgefunden hat. Wir wußten absolut nichts. Wir hatten Postkarten, die er uns schickte. Wir schickten ihm ebenfalls Karten. Das waren Karten, die man “cartes interzones” nannte, und das ist alles. Er schickte uns Sachen; ich weiß nicht, wie er es anstellte, sie zu bekommen, Sachen, die übrigens verboten waren. Als wir im Konzentrationslager waren, hat er uns ein Huhn, ein Brathuhn, geschickt. Ich weiß nicht, wo er es herhatte; jedenfalls sparten wir dermaßen, um nicht das ganze Huhn auf einmal zu essen, daß eine Katze, die vorbeikam, den Rest gefressen hat.

Er hatte uns mehrere kleine Sachen geschickt, aber später konnte er es nicht mehr, und dann waren wir nicht mehr da; jedenfalls haben wir ab Februar angefangen, über Fluchtmöglichkeiten zu sprechen, denn es gab immer öfter Listen mit Kindern, die abgeholt wurden, aber auf diesen Listen waren Kinder, deren Eltern noch im Konzentrationslager waren, zum Beispiel in Drancy.

Es waren nicht immer die Eltern; manche Kinder hatten ihren Bruder oder ihre Schwester im Konzentrationslager, und man sagte, der Grund wäre die Familienzusammenführung …

So, jetzt erzähle ich euch unsere Flucht. Ich war in Vauquelin; meine kleinen Schwestern waren in Lamarck. Sie waren aus Louveciennes nach Lamarck zurückgekommen, und es war nicht leicht, Kontakt aufzunehmen. Ich hatte Ausgangserlaubnis, weil ich bei den Großen war. Die Ausgangserlaubnis, das war ein Ausgangsschein, der unterschrieben wurde. Man war verantwortlich für uns, aber auch verantwortlich für die ganze Familie, denn wenn etwas passierte, wenn man nicht wiederkam oder wenn jemand beim Appell fehlte, mußten die anderen dafür bezahlen, das war also wirklich ein Problem.

Als ich in Vauquelin war – ich war ganz allein, meine kleinen Schwestern waren in Lamarck –, habe ich ein Tagebuch geschrieben. Ich schrieb die ganze Zeit über, aber nur dieses hier ist zufällig wiedergefunden worden. Als Papa das Haus in Montargis verkauft hat, hat meine Schwester Suzanne, die ihr in Montargis gesehen habt, gesagt: “Sieh mal, ich habe ein Heft wiedergefunden, das dir gehörte.” Ich hatte dieses Heft total vergessen; es ist ein Schulheft der Stadt Paris, in dem ich mein Tagebuch schrieb. Das hier ist eine Fotokopie, beziehungsweise es ist mit Laser behandelt worden. Wir haben es neugemacht, weil es in sehr schlechtem Zustand war, und ich habe es am 7. Juli 1943 angefangen. Ich kann euch das Heft nachher herumgeben, wenn ihr wollt. Seht ihr, hier sind Tintenflecke, ich habe abends in den Waschräumen geschrieben. Ich war 14 Jahre alt, als ich das gemacht habe.

Wir haben Fluchtversuche gemacht, weil … das war so, es gab Kinder, die auf Listen standen, das waren Kinder wie wir, die von den Deutschen eingewiesen worden waren. Sie hatten also die Liste von diesen Kindern, sie waren im Kontakt mit der UGIF, und die UGIF arbeitete ihrerseits auch mit den Deutschen zusammen. Aber es gab Kinder, die vom Rothschild-Waisenhaus kamen, die nicht durch die Lager gegangen waren und die nicht auf den Listen standen. Diese konnten fliehen, wir aber hatten kein Recht dazu.

Es gab trotzdem immer wieder welche, die flohen, unabhängig davon, ob sie auf den Listen standen oder nicht. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen und daran, daß nach seiner Flucht Glasstücke oben auf die Abgrenzung gesteckt wurden. Die ganze Mauer wurde mit Glasstücken besteckt, damit niemand fliehen konnte. Ich glaube nicht, daß er auf diesem Weg entkommen ist, aber auf jeden Fall wurde die Mauer so abgesichert, und er war sehr stolz, denn er hatte einen britischen Namen. Er sagte, er wäre britischer Staatsbürger, und wir waren damals sehr verwundert darüber. Er hieß Sidney Loewenthal; ich weiß nicht, ob das britisch ist, aber er sagte, er wäre es. Jedenfalls ist er entwischt.

Die Fluchtversuche waren ziemlich schwierig. Ich hatte, wie gesagt, einen Ausgangsschein, und ich ging oft meine kleinen Schwestern besuchen, die in Lamarck waren, und jedes Mal nahm ich Sachen in meiner Schulmappe mit; das waren diese Schulmappen mit zwei Taschen, wie es sie zu der Zeit gab, die man auf dem Rücken trug. Meine Schwestern taten Kleider hinein, und ich brachte sie zu einem Freund meines Vaters oder zu einem Cousin, und ich kann euch genau sagen, wann wir unsere Fluchtversuche gemacht haben: Am Freitag, dem 5. August haben wir es versucht, am 9. August 43, am 13. August, am 14. August, am 15. August, am 21., am 24., und am 28. waren wir draußen.

Schülerin: Warum haben die anderen Versuche denn nicht geklappt? [deutsch im Original]

Raymonde: Ja, das klappte nicht, es gab immer irgend etwas, das nicht ging, denn da ich nicht mit meinen Schwestern zusammen war … wenn wir uns an einem Ort verabredeten, konnte es passieren, daß sie nicht dort waren, weil sie ja keine Ausgangserlaubnis hatten. Ich war es, die mit ihnen hinausgehen mußte, außer am Sonntag, wo sie in die Synagoge gebracht wurden – ich weiß nicht me hr, welche das war, dort gingen die Leute zum Sonntagsessen hin –, und sie mußten wieder zurückgebracht werden. Einmal waren sie also am Ende der Reihe, und ich mußte sie ausfindig machen, weil sie sich verstecken sollten; nun ja, es hat nicht funktioniert, es hat einfach nicht funktioniert. Und sogar an der U-Bahnstation Blanche habe ich einmal vier Stunden lang gewartet, und dann konnten sie nicht kommen.

Seht ihr, zum Beispiel am Sonntag, dem 15. August, habe ich notiert: “Alles ist aus, meine kleinen Schwestern konnten nicht kommen, die Überwachung ist zu streng.”

Es klappte nicht. Einmal funktionierte es nicht und ein andermal auch nicht, und in der Zwischenzeit wurde in Vauquelin jemand festgenommen. Sie hieß Rachel. Wir haben nie erfahren, was aus ihr geworden ist. Sie wurde festgenommen, und ihr könnt euch vorstellen, daß uns das zum Weggehen antrieb. Wir hatten ja das Glück, daß ein Teil unserer Familie in der Nähe war. Ich hatte meinen Onkel, der Kriegsgefangener gewesen und aus Krankheitsgründen zurückgekommen war. Unglücklicherweise ist seine Frau deportiert worden und später auch seine beiden Kinder. Er hat nach dem 28. August einen Schleuser für uns gefunden, der uns in die freie Zone geführt hat.

Und am 24. August habe ich zum Beispiel notiert, daß zwei meiner Freundinnen mir geholfen haben, eine Zahnentzündung vorzutäuschen. Ich hatte soo eine Backe; sie haben mich sehr heftig gekniffen, damit ich am nächsten Tag nicht mit den anderen mitgehen mußte, sondern stattdessen zum Zahnarzt gehen konnte. Und es ist dem Zahnarzt zu verdanken, daß meine Schwestern entwischen konnten. An dem Tag hatten sie nämlich auch eine Zahngeschichte. Ich hatte eine falsche Zahnentzündung, sie aber hatten eine echte Zahnentzündung.

Das letzte Mal nämlich, als uns die Flucht gelang, sollten meine Schwestern auch zum Zahnarzt gehen, und sie waren nicht darauf vorbereitet. Nun hatte aber der Chef des Zentrums von Lamarck gerade erfahren, daß sein Sohn getötet worden war, und so hat er meine Schwester Suzanne, die zehn Jahre alt war, eine Erlaubnis unterschreiben lassen. Normalerweise hätte sie nicht … aber weil er Kummer hatte, hat er sie diese Erlaubnis unterschreiben lassen, und sie konnte hinausgehen, und anstatt zum Zahnarzt zu gehen, ist sie zu meinem Onkel gegangen, der nicht weit wohnte, im XVIII., und ich bin zufällig … da ich oft bei meinem Onkel vorbeiging, habe ich sie beide dort gefunden, und so sind wir geblieben.

Gesprächsleiterin: Habt ihr Fragen an Raymonde?

Schülerin: Meine Fragen haben sich schon im Verlauf des Gesprächs geklärt. [deutsch im Original]

Gesprächsleiterin: Dann gebe ich jetzt Monique das Wort, Monique oder Lily, die ihre Schwestern und ihre Eltern Lily nennen und die heute Madame Deniau-Novodorsqui ist.

Monique: Für mich ist es heute das erste Mal, daß ich davon spreche. Da ich natürlich nicht alles erlebt habe, was meine Schwestern erlebt haben, und da ich damals ein Baby von sechs Monaten war, geht man davon aus, daß ich keine Erinnerungen habe, und ich habe bis jetzt nie das Wort ergriffen.

Als ich eben nachdachte, fiel mir etwas ein, das ich gern erwähnen wollte, etwas, das euch vielleicht eine Menge sagen wird, ich wollte nämlich vom Schweigen, das meine Schuljahre begleitet hat, sprechen.

Die ganze Schulzeit über habe ich “völlig normal” gelebt, das heißt da war einerseits die Schule und andererseits mein Zuhause; die Schule, wo ich niemandem je etwas gesagt habe, weder meiner besten Freundin, noch irgendwem anders, weil ich sicherlich dachte, daß sie das nichts anging und daß sowieso niemand etwas davon verstehen würde. Zu Hause war das ganz anders, dort war es eine tägliche Lebenserfahrung; ich habe natürlich nicht die gleichen Erinnerungen wie meine Schwestern. Es ist ein bißchen schwierig, das vor meiner ältesten Schwester zu sagen.

Raymonde: Warum?

Monique: Warum wohl, siehst du das nicht?

Raymonde: Aber nein, du kannst nicht die gleichen Erinnerungen haben, das ist doch nicht möglich!

Monique: Ich konnte nie die geringste Frage stellen, nicht, weil man mir nicht geantwortet hätte, sondern weil es mir nicht möglich war, meine Mutter betreffende Fragen zu stellen, an keine der drei.

Raymonde: Das kommt mir jetzt aber komisch vor …

Monique: Moment, läßt du mich ausreden?

Herr Bode: Warum?

Monique: Warum? Es gibt einen Grund, der überraschend erscheinen mag, jedoch nicht für mich; ich habe vor meinen Schwestern nie sagen können, das heißt ich habe nie das Wort … [Pause]

Raymonde: Monique hat nie das Wort “Maman” ausgesprochen, sie hat nie “Maman” gesagt.

Monique: Ich konnte also keine Fragen stellen, alles, was …

Raymonde: Und dann muß man auch noch bedenken, daß …

Monique: Warte, laß mich … alles, was ich weiß, habe ich entweder zufällig gehört oder durch Lesen erfahren, zum Beispiel habe ich den Text von Danielle, zu dem ihr gearbeitet habt, noch einmal gelesen. In ihrem Text habe ich erfahren … offenbar hat meine Schwester ihr gesagt, daß meine Mutter blond war. Man kann sagen, daß ich die Dinge immer in sehr bruchstückartiger Weise erfahren habe, und eigentlich weiß ich überhaupt nichts. Mein Vater war schon genügend gepeinigt, und ich habe ihn schon immer sehr, sehr traurig gekannt. Es gab eine Sache, die ihn erfreute, wenn ich nämlich Melodien auf dem Klavier spielte, vor allem oder sogar ausschließlich jüdische Melodien, die ich schnell mehrstimmig zu setzen wußte, ich spielte … ja, ich spielte gut.

Raymonde: Sie spielt gut.

Monique: Ja. Vor allem bat er mich immer wieder, “A jiddische Mame” zu spielen, das heißt “Eine jüdische Mutter”. Ich spielte es gern; es war die einzige Sache, bei der ich sah, daß sie ihn weniger traurig machen konnte.

Ich habe immer versucht, Sachen zu lesen; das erste Buch, das ich gelesen habe und aus dem ich wirklich viel erfahren habe, bevor ich schließlich keine Fragen mehr stellte, hieß “Un camp très ordinaire”. Dieses Buch habe ich gefunden, als ich sehr klein war. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist.

Und dann möchte ich auch von meinen Beziehungen zu Deutschland sprechen. Ich habe fünf Jahre lang deutsch in der Schule gelernt. Ich war sehr gut, ich war Klassenbeste, ich habe sogar bis zur Universität weitergemacht. Ich habe nie nach Deutschland gehen können, was nicht heißen soll, daß man eine lebendige Sprache lernen kann, ohne in das Land zu gehen, ich bin kein Beispiel … [lacht], kein Beispiel für ein Sprachgenie, aber ich konnte nie nach Deutschland gehen. Ich war einmal unter sehr schwierigen Umständen dort. Ich habe dort einen Tag verbracht, weil ich von einem deutschen Psychiater untersucht werden mußte, um festzustellen, ob ich von dem, was geschehen war, ein Trauma davongetragen hatte.

Schülerin: Wo denn in Deutschland? [deutsch im Original]

Raymonde: Düsseldorf.

Monique: Ja, ich hatte es sogar vergessen. Nur zwei Dinge wollte ich gern noch sagen. Als ich in der dreizehnten Klasse war, habe ich mir Geschichtsbücher wieder angesehen, und als es dieses Programm gab … ich habe das Abitur 1960 gemacht, und zu dieser Zeit gab es nur zwei Zeilen, nicht gerade über den Zweiten Weltkrieg, aber über die Lager. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt zwei Zeilen gab … ob es nicht …

Raymonde: Über die Juden gab es nämlich nichts.

Monique: Über die Juden gab es nichts, und dort, wo ich nach einer Art Erklärung suchte, war überhaupt nichts in den Geschichtsbüchern, was sich heute natürlich sehr geändert hat. Da stand Vernichtungslager … ja, zwei Zeilen … aber wir wußten überhaupt nicht, worum es sich handelte.

Und dann wollte ich sagen, daß ich drei Kinder habe, und die Art, in der ich ihnen diese Geschichte habe vermitteln können, besteht darin, daß ich sie seit ihrer Geburt jedes Jahr zu dieser Gedenkfeier mitgenommen habe, unabhängig von ihrem Alter; im Mai, als die Gedenkfeier stattfand, war die Dritte zum Beispiel erst einen Monat alt. Seit ihrer Geburt habe ich sie immer, ohne ein Jahr auszulassen, zu dieser Gedenkfeier in Pithiviers und in Beaune-la-Rolande mitgenommen, das heißt seit 1976, was meinen ersten Sohn betrifft, und da es mir sehr, sehr schwer gefallen wäre, ihnen die Dinge zu erzählen, weil ich entweder in Tränen ausgebrochen wäre oder meinen Kindern nicht viel zu erzählen gehabt hätte, war es in der Tat eine Erleichterung für mich, daß sie hören … daß sie an dieser Zeremonie teilnehmen, an dem Ort, wo der Name ihrer Großmutter steht, und dadurch wurde es möglich, das, was passiert war, in eine allgemeinere und überhaupt in die Geschichte einzuordnen. Es war nicht nur unsere Geschichte, aber gerade das erlaubte ihnen, an dieser Bewegung teilzunehmen. Und andererseits sind die Fragen meiner Kinder im Laufe der Jahre genauer geworden, und mein Mann, der diese Geschichte nicht gehabt hat, der kein Jude ist und der geneigter ist, davon zu sprechen, hat ihnen in geschichtlicher Hinsicht auf alle ihre Fragen antworten können; daher kommt es, daß meine Kinder immer gewußt haben, was passiert ist, und daß sie immer Anteil an unserer Geschichte gehabt haben.

Gesprächsleiterin: Ich würde gern eine Frage an Monique stellen, die mir eingefallen ist, als du sagtest, daß dein Vater dich “A jiddische Mame” spielen ließ. Wollte er dadurch vielleicht deine Mutter für dich präsent machen?

Monique: Ja … ich habe auch die Erinnerung, daß mein Vater sagte: “Wenn deine Mutter dagewesen wäre, hättest du das nicht gemacht”, wenn ich etwas tat, das nicht gut war. Dies wurde auf jiddisch gesagt, und so verstand ich es, und das ist alles, was …

Raymonde: Sie war immer präsent, wir sprachen die ganze Zeit von ihr.

Monique: Es gab trotzdem etwas Wichtiges; es gab eine Tafel, eine Marmortafel, die ich, seit ich lesen konnte, immer wieder gelesen habe, worauf stand …

Raymonde: Willst du, daß ich sie vorlese?

Monique: Ja.

Raymonde: Hier hat Madame Novodorsqui, Golda (Génia auf jiddisch), gelebt, 1904 -1942, am 14. Juli 1942 von den nationalsozialistischen Barbaren verhaftet und sieben Tage später in Birkenau verbrannt. Diese Gedenktafel hatten wir im Haus.

Monique: Sie war sogar neben dem Ort, an dem ich Klavier spielte. Diese Tafel war eine Präsenz, mit dem Foto meiner Mutter, und wir haben sie immer wieder gelesen; es war eine Präsenz im Haus, zwar eine Präsenz des Todes, aber trotzdem eine Präsenz.

Schülerin: In dem Buch stand ja, daß sie lange noch auf die Rückkehr der Mutter gewartet haben. Wann haben sie das denn erfahren, daß die Mutter umgebracht worden ist? [deutsch im Original]

Raymonde: Also, das war so, Papa fuhr oft nach Paris, weil es die Zeit war, in der … soll ich antworten?

Monique: Ja, natürlich.

Raymonde: Es war die Zeit, in der die Transporte wiederkamen. Die Gefangenen kamen wieder, und wir in Montargis, das ist doch ein kleiner Ort … die Ankunft war in Paris, und die Deportierten … die Gefangenen kamen im Hotel “Lutétia” in Paris an. Er ging also dorthin, er informierte sich, er fragte, und dann, eines Tages, ist er wiedergekommen … wir hörten auch Radio, um zu erfahren … manchmal wurden Listen genannt und Transportnummern, aber es war immer nichts dabei, und dann, eines Tages, ist er mit einem kleinen Buch, das “Souvenirs de la maison des morts” hieß, wiedergekommen, und mein Neffe Philippe … anscheinend hat er das Buch, aber er weiß nicht mehr, was er damit gemacht hat …

Gesprächsleiterin: In welchem Jahr war das?

Raymonde: Das war 1945, ja, genau 1945, wir suchten und suchten, und Papa hat uns 1945 dieses Buch mitgebracht, weil wir wirklich überhaupt nicht wußten, was passiert war. Maman dachte, daß, wenn sie nach Deutschland gebracht würde, dann um zu arbeiten; sie konnte sehr gut nähen. Maman war eigentlich eine Intellektuelle, aber als sie nach Frankreich gekommen war, mußte sie einen handwerklichen Beruf haben, so daß sie Herrenschneiderin gelernt hatte. Sie hat davon praktischen Gebrauch gemacht, besonders um uns anzukleiden. Jedenfalls dachte sie allen Ernstes, es ginge darum, und als sie im Juli deportiert wurde, nahm sie gute Schuhe und Kleidung mit und sagte: “Zu Weihnachten bin ich wieder da.” Und in diesem Buch “Souvenirs de la maison des morts” stand, wo die Transporte angekommen sind. Was hat man mit ihnen gemacht? Man hat sie ausgezogen, man hat sie … jedenfalls haben wir zu diesem Zeitpunkt erfahren, was passiert war. Wir wußten wirklich überhaupt nichts. Wir hofften. Sogar Papa, der in der freien Zone beziehungsweise in den Lagern gewesen war, hatte einen Kirschrumtopf zubereitet, wenn sie wiederkommen würde, um ihre Rückkehr zu feiern.

Gesprächsleiterin: Weitere Fragen, entweder an Madame Frazier [Raymonde] oder an Madame Deniau, ja, Sarah?

Schülerin: Ich hätte eine Frage, ich würde gern wissen … als Sie in Ihrer Familie waren, hat man Ihnen da nie von Ihren Schwestern erzählt?

Gesprächsleiterin: Monique, als du in Pflege warst, hat man dir da von deiner Mutter und deinen Schwestern erzählt?

Monique: Nein, ich habe keine Erinnerung daran, ich habe eine Erinnerung von 1947. Eine Frau ist zu uns gekommen, hat mich in ihre Arme genommen und hat gesagt: “Oh, wie süß sie ist!” Diese Frau ist ab 1947 zu uns gekommen; sie hat sich um uns und um den Haushalt gekümmert, das heißt ich habe keine Erinnerung, daß ich …

Gesprächsleiterin: Entschuldigung, Monique war 1947 sechs Jahre alt, nicht wahr?

Monique: Ja, ich glaube nicht, daß sie … ich weiß nicht, ob man mir davon erzählt hat … ich erinnere mich nicht.

Schülerin: Und als Sie Ihre Schwestern getroffen haben, als sie gekommen sind, haben Sie sie da erkannt?

Monique: Sicherlich, ich habe keine Erinnerungen, ich weiß es nicht mehr, es ist eine so komplizierte Geschichte, daß ich mich nie an irgend etwas erinnere. Ich wende mich immer an meine Schwester, damit sie mir die Dinge wieder in Erinnerung bringt; sie ist es, die wissen könnte, wie ich war, als sie gekommen sind; ob sie mich abgeholt, ob sie mich nach Hause gebracht haben.

Raymonde: Ja, wir haben sie abgeholt.

Monique: Ich weiß, daß ich nicht sofort in Pflege gegeben wurde. Ich war im Krankenhaus, als meine Mutter festgenommen wurde, ich war …

Raymonde: Ich kann es erzählen.

Monique: Ja, erzähl ruhig, du weißt besser …

Raymonde: Als Maman festgenommen wurde, hat sie mir gesagt: “Du mußt dich um deine kleinen Schwestern kümmern.” Ich habe getan, was ich konnte. Wir drei Großen wurden also in verschiedenen Familien in Montargis untergebracht, und Lily, beziehungsweise Monique, wurde ins Krankenhaus gebracht, in die Krippe; es war eine Krippe zu der Zeit. Im Krankenhaus haben sie sie nicht behalten, sondern zu einer Pflegemutter gegeben. Und bei der konnte sie nicht bleiben, weil eine Pflegemutter kein jüdisches Kind nehmen durfte. Deshalb hat eine Freundin von Maman, die katholisch war, aber mit einem Juden verheiratet, der übrigens geflohen ist, sie genommen, und so ist sie bei dieser Frau geblieben.

Monique: Wo es auch Verhaftungen gegeben hat.

Raymonde: Genau, dort hat man die drei Kinder verhaftet. Sie hatte noch andere Kinder aufgenommen, die drei kleinen Mädchen, die zusammen mit uns verhaftet worden und mit dem letzten Transport deportiert worden sind, zu dem wir auch gehört hätten, wenn wir nicht vorher geflohen wären.

Gesprächsleiterin: Wenn ihr keine anderen Fragen mehr habt, gebe ich Madame Evelyne Zylberman das Wort, die im Alter von fünf Jahren im Juli 1944 nach Bergen-Belsen deportiert worden ist.

Herr Bode: Vielleicht kurz noch einiges zur Vorstellung von Madame Zylberman. Sie ist mit ihren Eltern 1944 nach Bergen-Belsen deportiert worden … [deutsch im Original]

Mme Zylberman: … Ravensbrück und dann Bergen-Belsen …

Herr Bode: … Ravensbrück und dann Bergen-Belsen, wir sind ja alle dort gewesen, es steht dort ein Erinnerungsstein für ihren Vater in der Nähe des zentralen Monuments. [deutsch im Original]

Mme Zylberman: Also, zuerst möchte ich euch einfach sagen, daß es mich besonders bewegt, das Wort vor einer Klasse junger Deutscher zu ergreifen, weil ich denke, daß eine enge Verbindung zwischen euch, den Enkelkindern der Henker, und mir, die ich die Tochter der Opfer und zum Teil auch selbst ein Opfer bin, besteht. Während einer langen Zeit wäre ich absolut unfähig gewesen, mich an euch zu wenden, aus dem einfachen Grund, daß Deutschland für mich erledigt war, und niemals hätte ich nach Deutschland gehen oder wirklich mit Deutschen sprechen können. Das war etwas, das für mich völlig ausgeschlossen war.

Schülerin: Wir sind doch nicht die Kinder der Generation, die das gemacht haben. [deutsch im Original]

Herr Bode: Nein, die zweite Generation. [deutsch im Original]

Mme Zylberman: Die zweite, ich habe gesagt, die Enkelkinder. Und ich glaube, daß mir diese Möglichkeit ab dem Zeitpunkt, an dem ich einen Zyklus abgeschlossen und nach Bergen-Belsen gegangen bin, wiedergegeben wurde, und in diesem Augenblick, als ich in Bergen-Belsen war, habe ich einen Stein für den Namen meines Vaters niederlegen können, und mir ist auch bewußt geworden, ich wußte es, aber mir ist auch bewußt geworden, daß unter den Deutschen … ich habe in Bergen-Belsen gesehen, daß es dort eine umfangreiche Dokumentation gibt, viele Forschungsarbeiten, die von den Deutschen selbst gemacht worden sind, viele Publikationen, und daß es in Deutschland eine Bewegung gibt, deren Tragweite ich nicht einschätzen kann. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine Minderheit handelt, ich weiß es nicht, aber ich weiß, daß es in Deutschland jetzt viele Menschen gibt, die von dem, was passiert ist, tief getroffen sind, und deshalb kann ich mich Leuten verbunden fühlen, die sich die Mühe machen, nach Paris in ein jüdisches Dokumentationszentrum zu kommen, um Menschen anzuhören, die deportiert worden sind.

Was mich auch sehr dazu angeregt hat, über mein Verhältnis zu Deutschland nachzudenken, war die Veröffentlichung, ich meine “Die weiße Rose” von Sophie Scholl [“Die weiße Rose” von Inge Scholl], die ich mit großem Interesse und großer Aufmerksamkeit gelesen habe, und mir ist klargeworden, daß selbst zu diesem Zeitpunkt in Deutschland … sie erklärt sehr gut, wie schwer es für die Deutschen war, und ich glaube, es gab ziemlich wenige junge Menschen, die die Kraft hatten, sich so vehement der Nazibewegung zu widersetzen. Das hat mir erlaubt, mein Verhältnis zu Deutschland, zu den Deutschen und natürlich zu den jungen Deutschen, die für das, was passiert ist, keine Verantwortung tragen, neu zu betrachten.

Ich gehörte zu einer Familie polnischer Juden, die aus Polen gekommen waren, und wir sind am 31. Juli 1944 deportiert worden. Mein Vater ist zuerst nach Buchenwald gekommen und dann nach Bergen-Belsen, und wir sind zuerst nach Ravensbrück deportiert worden und dann nach Bergen-Belsen, wo wir befreit worden sind.

Ich war fünf Jahre alt, als ich deportiert worden bin, und ich kann sagen, daß mir die Außenwelt zu diesem Zeitpunkt bewußt geworden ist, denn bis dahin, bis zum Alter von fünf Jahren, lebt man in seiner Familie, und mit fünf Jahren habe ich das Lager entdeckt, und die Entdeckung des Lagers, das war die Welt des Todes, die Welt des Hungers, die Welt der Verzweiflung. Ich war fünf Jahre alt, und was mir geholfen hat durchzuhalten, ist zuerst die Tatsache, daß ich immer bei meiner Mutter geblieben bin, und dann, daß ich die Erinnerung an ein früheres Leben hatte, das Leben in Frankreich, an dem ich mich festhalten konnte. Aber ich hatte eine Schwester, die drei Jahre alt war und die sich der Außenwelt wirklich erst dort bewußt geworden ist, die keine früheren Erinnerungen hatte und für die die Wiederanknüpfung an ein normales Leben sehr schwierig gewesen ist.

Ich denke, für die Jüngeren ist es wichtig zu verstehen, daß die meisten von uns später entweder ohne Vater oder ohne Mutter oder ohne Vater und ohne Mutter aufgewachsen sind, vor allem aber ohne Tante, ohne Onkel, ohne Cousins, ohne Großeltern. Ich habe meine Großeltern, die in Polen geblieben waren und die verschwunden sind, wie, weiß ich nicht, nie gekannt, und es war sehr, sehr schwer, damit fertigzuwerden.

Und ich denke, was mich wirklich … ab dem Zeitpunkt, an dem ich meine Arbeit im Hinblick auf Deutschland und auf den Krieg beendet hatte, habe ich begriffen, daß die Deutschen keine Teufel gewesen waren, sondern daß der Teufel in jedem von uns steckt, daß es eine Frage der Umstände war und daß jeder sich so unmenschlich hätte verhalten können.

Herr Bode: Ich habe jetzt nicht genau verstanden, ob sie also auch ein Buch geschrieben hat oder ob das … [deutsch im Original]

Mme Zylberman: Nein, nein, ich habe kein Buch geschrieben, ich habe an mir gearbeitet, wenn Sie so wollen, um … das heißt ich habe Deutschland lange als etwas Teuflisches betrachtet und die Deutschen als Teufel, und dann ist mir klargeworden, daß die Deutschen Menschen wie alle anderen sind und daß sie zu einer bestimmten Zeit den Teufel, der in ihnen steckt, herausgelassen haben, und daß so etwas überall und zu jeder Zeit passieren kann und daß man aufpassen muß. Man muß wirklich aufpassen, weil man mitgerissen werden kann.

Gesprächsleiterin: Habt ihr Fragen an Madame Zylberman?

Mme Grinspan: Ja, ich habe eine Frage. Wissen Sie, warum Sie wunderbarerweise nach Ravensbrück geleitet worden sind, obwohl es für die Frauen der Gefangenen reserviert war?

Mme Zylberman: Ja, das ist eine Frage, die …

Mme Grinspan: Am 31. Juli sind der Transport von meinem Vater, den kenne ich natürlich, und der Transport von 300 Kindern der UGIF nach Auschwitz gefahren; wissen Sie also, warum Sie nach …

Mme Zylberman: Am 31. Juli?

Mme Grinspan: Genau.

Mme Zylberman: Von wo sind sie abgefahren?

Mme Grinspan: Ah, sind Sie nicht von Drancy abgefahren?

Mme Zylberman: Nein.

Mme Grinspan: Von wo sind Sie gefahren?

Mme Zylberman: Von Toulouse.

Mme Grinspan: Wissen Sie also, warum Sie … ja, erzählen Sie.

Mme Zylberman: Ja, das war die große Frage, die ich mir lange Zeit über gestellt habe … es ist so, der Transport vor uns, wir waren der vorletzte Transport, der Transport davor und der letzte Transport sind nach Auschwitz gefahren, und wir sind nach Ravensbrück gekommen, und ich habe mir lange die Frage gestellt, weshalb wir in Ravensbrück gewesen sind und nicht in Auschwitz.

Mme Grinspan: Daraus kann man schließen, daß Sie zweimal wie durch ein Wunder gerettet worden sind; wenn Sie nach Auschwitz gebracht worden wären, wären Sie nicht zurückgekommen.

Mme Zylberman: Ja, natürlich, das ist sicher. Wir sind also nach Ravensbrück gefahren, weil es in Toulouse noch eine bestimmte Anzahl von Widerstandskämpfern gab, die die Deutschen deportieren wollten, und sie haben die letzte Handvoll Juden, die noch übrig war, in einen Transport mit Widerstandskämpfern gesteckt, der nach Ravensbrück geschickt wurde.

M. Singer: Wie viele Juden waren Sie, entschuldigen Sie …

Mme Zy lberman: In dem Transport?

M. Singer: Ja.

Mme Zylberman: Also, wissen Sie, ich habe nicht gezählt, aber trotzdem waren wir vielleicht 200-300 Juden.

Mme Grinspan: Ist Ihr Transport nicht in der Denkschrift aufgeführt?

Mme Zylberman: Doch, doch, natürlich.

Raymonde: Das hier sind Fotos von Überlebenden eben dieses letzten Transports von Vauquelin, und dieses Jahr haben wir uns bei einer von ihnen getroffen, bei Suzanne. Suzanne war eine wirklich hervorragende Sportlerin. Sie machte Akrobatik, und sie hat uns erzählt – die anderen waren Zeugen –, daß, während sie den anderen akrobatische Gymnastik vorführte, ein Deutscher vorbeigekommen ist. Sie hat Angst gehabt und aufgehört, und er ist zu ihr gekommen und hat ihr ein Stück Brot gegeben, für die Gymnastik, die sie machte. Sie war wirklich einmalig, das war beinahe richtiger Zirkus, was sie machte, und das hier ist sie.

Mme Grinspan: Kann ich noch andere Fragen stellen? Ihre Erfahrungen sind meiner Ansicht nach ganz außergewöhnlich. Wie war das Leben dort? Haben sie die Solidarität anderer Französinnen gehabt, weil … mußte Ihre Mutter arbeiten oder nicht?

Mme Zylberman: Nein.

Mme Grinspan: Wie ging das vor sich?

Mme Zylberman: Ravensbrück war in der Tat ein Arbeitslager, und die Frauen arbeiteten, aber es gab Baracken für die wenigen Frauen … es gab eine oder mehrere Baracken für die Frauen, die Kinder, kleine Kinder, hatten und die nicht arbeiteten. Wir sind also von August bis Januar, Februar in Ravensbrück geblieben, weil …

Mme Grinspan: In welchem Jahr?

Mme Zylberman: … im Januar, Februar 1945, als Auschwitz befreit wurde …

Mme Grinspan: … als es zu einer Massenevakuierung kam, meinen Sie, da war ich auch in Ravensbrück.

Mme Zylberman: Sie sind in Ravensbrück angekommen, und wir haben Ravensbrück verlassen, um nach Bergen-Belsen zu gehen …

Mme Grinspan: So ist es.

Mme Zylberman: … und in Bergen-Belsen stellte sich die Arbeitsfrage nicht mehr, weil Bergen-Belsen ein Sterbeasyl war, und auch wenn ich erst fünfeinhalb, sechs Jahre alt war, habe ich sofort den Unterschied zwischen Bergen-Belsen und Ravensbrück gesehen; Bergen-Belsen, das waren wirklich Leichenberge, das waren Körper, die in den Baracken lagen, Exkremente.

Gesprächsleiterin: Weitere Fragen?

Mme Grinspan: Ja, in der Baracke, in der Sie waren, gab es dort auch Französinnen, oder waren Sie mit anderen zusammen?

Mme Zylberman: In der Baracke in Ravensbrück?

Mme Grinspan: Ja.

Mme Zylberman: In Ravensbrück waren wir, glaube ich, mit Französinnen zusammen, das heißt wir waren zusammen mit den Frauen und Kindern, mit denen wir angekommen sind.

Mme Grinspan: Französinnen?

Mme Zylberman: Ja.

[Schülerin stellt eine Frage]

Gesprächsleiterin: Was fragt sie?

Herr Bode: Sie fragt, ob Sie [Mme Grinspan] nicht ein bißchen von Ihren Erfahrungen in Auschwitz erzählen könnten.

Mme Grinspan: Ich habe eine Viertelstunde, was wollen Sie, daß ich in einer Viertelstunde erzähle? Ich will gern ihre Fragen beantworten, aber ich kann nicht erzählen … aber wenn sie Fragen haben, einverstanden.

Herr Bode: Sie sagen, daß es sehr schwer ist, konkrete Fragen zu finden.

Gesprächsleiterin: Erzählen Sie Ihre Ankunft im Lager.

Mme Grinspan: Gut, ich werde ihnen meine Verhaftung erzählen …

Schülerin: Aber es ist doch viel interessanter, weshalb sie überlebt hat. [deutsch im Original]

Herr Bode: Wie haben Sie überlebt?

[allgemeines Durcheinanderreden]

Mme Grinspan: Ich befand mich im Juni 1940 … zu dem Zeitpunkt, an dem Deutschland Frankreich überfallen hat, gab es eine große Massenflucht, und in diesem Augenblick haben meine Eltern beschlossen, mich aufs Land zu schicken, in eine Bauernfamilie in einem ganz kleinen Dorf im Departement Deux-Sèvres, und dort sind in der Nacht vom 30. Januar 1944 drei französische Gendarmen um Mitternacht gekommen, um mich festzunehmen; ich war damals 14 Jahre alt. Ich war Französin. Ich war in Paris geboren worden und eingebürgerte Französin.

Mme Zylberman: Wie haben sie erfahren, daß Sie Französin sind?

Mme Grinspan: Sie haben es erfahren, weil ich schlecht versteckt war; im Rathaus haben sie es erfahren, weil ich meine Lebensmittelkarte erhielt. Das war eine Dummheit; ich war nicht versteckt, ich war leicht auffindbar.

Gesprächsleiterin: War nicht ein jüdischer Stempel auf dem Personalausweis?

Mme Grinspan: Überhaupt nicht, ich hatte keinen Personalausweis.

Gesprächsleiterin: Aber auf der Lebensmittelkarte?

Mme Grinspan: Es gab keinen jüdischen Stempel auf der Lebensmittelkarte.

Gesprächsleiterin: Nein?

Mme Grinspan: Nein, ich hatte keinen Personalausweis. Ich war 14 Jahre alt, ich hatte nur meine Lebensmittelkarte. In der Zwischenzeit war vor mir am 16. Juli meine Mutter verhaftet und deportiert worden, aber mein Vater war noch in Freiheit. Nachts, als die Gendarmen gekommen sind, haben sie der Pflegemutter sofort gesagt, daß, wenn sie mich nicht finden, sie ihren Mann verhaften würden; wir konnten also nichts machen.

Sie hat dann die Nachbarn nebenan aufgeweckt, die mit den Gendarmen diskutiert haben, aber da sie zu dritt waren, hatten sie Angst, und sie haben mich mitgenommen.

Dann haben mich die drei Gendarmen mit dem Auto zur acht Kilometer entfernten Gendarmerie gebracht, wo der Chef der Gendarmerie in der Nacht auf uns wartete. Er hat mich in sein Büro geführt, und er wußte, daß mein Vater noch in Freiheit war. Er hat mich sehr lange verhört, um seine Adresse zu erfahren. Ich erzähle das, um auf die Kollaboration der Kommandantur in Paris und einer kleinen Gendarmerie auf dem Land hinzuweisen.

Ich habe natürlich nichts gesagt. Mit 14 Jahren habe ich verstanden, welche Gefahr hier drohte. Ich korrespondierte mit meinem Vater, aber ich habe gesagt, ich wüßte nichts. Er hat also aufgehört, mich zu verhören. Er ist nicht brutal geworden. Er hat mich lange verhört, und dann bin ich nach Niort [Deux-Sèvres] in ein Polizeigefängnis gebracht worden, wo man etwa 50 jüdische Menschen, die gerade erst festgenommen worden waren, versammelt hatte, und dort bin ich zwei Tage geblieben.

Im Laufe des nächsten Tages ist es meiner Pflegemutter gelungen herauszufinden, wo man uns hingebracht hatte. Sie ist weinend angekommen; sie kam, um mir zu erzählen, was sich an dem Morgen nach meiner Verhaftung ereignet hatte. Sie ist zum Dorfpfarrer gegangen, der ihr eine gefälschte Geburtsurkunde ausgestellt hat. Mit dieser Urkunde ist sie zur Kommandantur von Niort gegangen, und sie hat dem Kommandanten erzählt, daß man mich ganz sicher fälschlicherweise verhaftet hätte und daß ich katholisch wäre. Und da hat der Kommandant, der Chef der Kommandantur, sie gefragt: “Aber von wem ist sie denn verhaftet worden?” Sie war gezwungen, ihm zu sagen: “Von der französischen Gendarmerie.” Daraufhin: “Sie verstehen, Madame, wenn es die französische Gendarmerie war, kann ich nichts machen. Kümmern Sie sich selbst.”

Zwei Tage später bin ich nach Drancy gebracht worden, ins große Lager von Drancy. Ich bin dort eine Woche geblieben, und in Drancy wurde uns gesagt, daß es eine Familienzusammenführung gebe, und uns wurde gesagt, daß diejenigen, deren Familie festgenommen worden sei, diese in Deutschland wiedertreffen würden. Und ich habe es geglaubt. Insgeheim war ich sehr glücklich; ich dachte, ich würde meine Mutter wiedertreffen, die ich seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatte.

Raymonde: Ich wollte etwas sagen; Sie sprachen eben von der Familienzusammenführung.

Mme Grinspan: So wurde uns das in Drancy gesagt.

Raymonde: Ja, denn bei uns in Beaune-la-Rolande war das genau die gleiche Sache, man hat uns von der Familienzusammenführung erzählt, und eine Sache, an die wir Kinder dachten, das war, uns äußerlich nicht zu sehr zu verändern und sogar zum Beispiel unsere Frisur von damals zu behalten, damit Maman uns wiedererkennen würde.

Mme Grinspan: Natürlich.

[Schülerin stellt eine Frage]

Herr Bode: Sie möchte wissen, wie Sie in Auschwitz überlebt haben.

Mme Grinspan: Wie ich in Auschwitz überlebt habe, also ich werde euch etwas sagen, fragt lieber, wie ich nach Auschwitz gekommen bin. Es war nicht die Frage herauszukommen, zuerst mußte ich trotz meiner 14 Jahre hineinkommen. Das war das erste Wunder. Ich bin hineingegangen, der SS-Mann hat nicht aufgepaßt, weil meine Mutter … kurz bevor sie deportiert wurde, hat sie mir eine Frisur gemacht … die Frauen trugen die Haare hochgesteckt; sie hatte meine Frisur verändert. Ich sah gut aus, ich kam vom Land, und er hat nicht bemerkt, daß ich erst 14 Jahre alt war.

[Unterbrechung durch Kassettenwechsel]

Herr Bode: (…) war sie in der Lage, deutsch zu verstehen, und sie konnte also beispielsweise verstehen, wie die Deutschen sich untereinander unterhalten haben, und konnte auf diese Art und Weise vermeiden, geschlagen zu werden, konnte das den anderen sagen, also sie war … hatte einen Vorsprung vor Leuten, die nicht wußten, was sich dort abspielte, jedenfalls nicht im voraus, das war vielleicht einer der Faktoren mit … [deutsch im Original]

Mme Grinspan: Und als ich Typhus gehabt habe, das war nach der endgültigen Evakuierung, das heißt in einem Konzentrationslager, in dem es keine Gaskammern gab und keine Selektion. Wenn ich in Auschwitz Typhus gehabt hätte, wäre ich nicht wiedergekommen. Ich habe ihn später bekommen; ich habe Glück gehabt.

Gesprächsleiterin: Uns bleiben nur fünf Minuten, um zu schließen, vor allem möchte ich im Namen der Schüler vom Lycée Corot und im Namen der Schüler von Langenhagen von ganzem Herzen unseren Zeugen Madame Zylberman, Madame Frazier, Madame Deniau und Madame Grinspan danken, und ich gebe Herrn Bode jetzt das Wort für einen Schlußsatz.

Herr Bode: Ich habe die Ehre, Ihnen zum Schluß eine Kopie unserer Übersetzungsarbeit zu überreichen. Sie wissen vielleicht, daß ich während eines Praktikums in Savigny [Savigny-sur-Orge, Essonne] zufällig die Bekanntschaft von Madame Kupecek gemacht habe. Wir haben uns unterhalten, und am nächsten Tag hat sie mir ihre Monographie geschenkt. In diesem Augenblick habe ich mich entschieden, sie bei der nächsten Gelegenheit ins Deutsche zu übersetzen. Meiner Ansicht nach ist das eine Arbeit, die ich als Deutscher und die die Schüler als Deutsche machen müssen, um die Erinnerung an das, was passiert ist, zu bewahren. Mit meiner Klasse haben wir … jeder, jede hatte ein, zwei Seiten der Monographie, und es war eine extrem schwierige Arbeit für die Schüler, und später haben wir sie auf dem Computer geschrieben, und jetzt habe ich die Ehre, Ihnen die zweite Version vorzustellen. Sie ist noch nicht ganz fertig, aber Sie werden in dieser Kopie die Unterschriften aller Schüler finden, die an der Übersetzung teilgenommen haben. Wir haben die Arbeit Raymonde und der Erinnerung an ihre Familie gewidmet.

Raymonde: Ich danke Ihnen vielmals, ich bin sehr gerührt, ich dachte nicht, daß mein kleines Heft, das vor einigen Jahren wiedergefunden worden ist, jemanden rühren oder zu etwas nutze sein könnte. Das macht mir wirklich sehr viel Freude.

Es ist nämlich so gewesen, als Papa das Haus verkauft hat, wurde das Heft wiedergefunden. Irgendwann hat meine Schwester Suzanne es einer Freundin, die Journalistin in Orléans ist, gegeben, und diese Journalistenfreundin hat mir Fragen gestellt: “Ich habe dein Heft gelesen. Wer sind die Personen, von denen du sprichst?” Um nun von den Personen erzählen zu können, mußte ich mich in die Situation von damals zurückversetzen. Es war 1992, daß ich dieses Dokument neu gemacht beziehungsweise auf die Fragen, die es aufwarf, geantwortet habe, und hier ist es nun, dieses berühmte Heft, es ist ein Schulheft … leider habe ich nur eins, ich kann es euch zeigen.

Mme Grinspan: Kann ich euch einen Augenblick etwas sagen? Ich möchte euch sagen, daß ich die bitteren Empfindungen von Madame Zylberman geteilt habe, denn auch ich habe zum ersten Mal die Gelegenheit, eine deutsche Klasse zu treffen, und Schüler haben mich gefragt: “Wie ist das für Sie, deutsche Schüler zu empfangen?” Ich habe ihnen genau das gleiche gesagt; ihr habt euch die Mühe gemacht, hierher zu kommen, ihr sollt es nicht umsonst getan haben, und in jedem Fall seid ihr die dritte Generation, und das Böse ist nicht nur dort drüben. Ich habe Wort für Wort nachgefühlt, was Madame Zylberman gesagt hat. Ich möchte noch einmal sagen, daß ich mich dem ganz anschließe.

Monique: Ich bin ungemein bewegt von dieser Arbeit, voller Bewunderung für den Lehrer, den ihr habt; ich wünschte, meine Kinder hätten ebenso aktive und engagierte Lehrer gehabt. Ich denke, ich werde die Monographie jetzt anders lesen, ins Deutsche übersetzt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß … ich habe, wie ich euch bereits gesagt habe, trotz allem einen gewissen Widerstand, eine gewisse Abneigung, wenn es darum geht, deutsch zu lesen, die Gedichte der großen deutschen Dichter ausgenommen; ich werde diesen Text wirklich mit großer Anteilnahme lesen.

Meine Tochter ist gerade gekommen, sie kommt aus der Schule; sie hat leider nicht hören können, was ihr alles gefragt habt. Ich habe es aufgenommen, vor allem, damit sie es sich anhören kann … sie lernt Deutsch, und so kann sie im nachhinein daran teilnehmen.

(Aus dem Französischen von Marie Enderwitz)

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