Anita Liepert – Historia magistra vitae? Ein redigiertes Gesprächsprotokoll

Historia magistra vitae?

Ein redigiertes Gesprächsprotokoll

Anita Liepert

Meine Herren: Eine alte, wohl von Cicero herrührende Weisheit besagt, daß die Geschichte das Leben belehrt. Seitdem gehört dieser Topos, dem ich zunächst nur hypothetischen Charakter zusprechen kann, zu unserem Bildungsgut, so daß jugendlich begeisterte Abiturientenaufsätze ihn ehrfurchtsvoll bemühen. Ganz offensichtlich bezogen bereits die Alten ihre Sentenz vor allem auf die Königsebene, das Handlungsfeld der Politikmacher. Insofern scheint es auch für unser Gespräch ratsam, nicht das ganze Feld abzuschreiten, sondern nur zu prüfen, ob denn politische Maximen und politisches Handeln tatsächlich durch Geschichte belehrt werden.

Herr K.: Ein lohnendes Thema. Wie man darüber denkt, hängt aber wohl davon ab, wie man die “Geschichte” sieht. Ruhige Zeiten erleben wir gewiß nicht, fast möchte man mit unserem Gryphius ausrufen: Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn. Laß, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten! Eine planmäßige Geschichte scheint den Menschen nicht möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Tun und Lassen auf der Weltbühne aufgestellt sieht; und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet. Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung. In die Bahn des Guten schnell einzutreten, aber darauf nicht zu beharren, sondern den Plan des Fortschritts umzukehren, zu bauen, um niederreißen zu können, eine leere Geschäftigkeit, das Gute mit dem Bösen durch Vorwärts- und Rückwärtsgehen so abwechseln zu lassen, daß das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Globus als ein bloßes Possenspiel angesehen werden müßte. Den Menschen, diesen freihandelnden Wesen, läßt sich zwar vorher diktieren, was sie tun sollten, aber nicht vorhersagen, was sie tun werden.

Herr H.: Ratlose Trauer, nicht nur über die Vergangenheit, sondern über unsere Wirksamkeit packt einen beim Anblick der verworrenen Trümmermasse, dieser Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit des Staates und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht werden.

Herr W.: Und dabei meinen sie mit Geschichte noch unsere gemilderte geschriebene Geschichte. Die Geschichte, die nur auf der glänzenden, übertünchten Oberfläche der Gesellschaft bleibt, sich mit dem Ruhm und der Herrlichkeit ihrer Führer und Sprecher zu beschäftigen pflegt, ist eben kein Erbauungsbuch oder eine freundliche Idylle. Was wäre sie aber, wenn sie in die dunkeln, feuchten und kalten Tiefen stiege, in denen die Millionen, die kein Gegenstand historischer Überlieferung sind, arbeiten, frieren und hungern?

Aber, aber, meine Herren, dies ist ja ein Gemälde ganz in Schwarz. Warum nehmen Sie diese Pose an, denn ich weiß sehr wohl, daß in Ihren Schriften anderes dominiert. Haben Sie, Herr K., nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdeckt und den Antagonismus in der Gesellschaft, der zur Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird, nämlich einer äußerlich-vollkommenen Staatsverfassung? Blieb für Sie nicht in jedem provisorischen fehlerhaften Versuch immer ein Keim der Aufklärung übrig, der durch jede Revolution eine folgende noch höhere Stufe der Verbesserung vorbereitete? Eine vernünftige Absicht scheint Ihnen doch für die Geschichte unserer Gattung unabdingbar. Und indem Sie nach der Wahl des Standpunkts fragten, ihren eigenen nicht nach der unmittelbaren alltäglichen, sondern nach der weltgeschichtlichen Erfahrung wählten, gaben Sie doch geradezu eine Apologie des ständigen Fortschreitens. Frankreichs Revolution nannten sie ein signum prognosticum, das den Satz, daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, theoretisch haltbar macht. Das kommt doch ganz der Absicht des Herrn H. entgegen, daß die Welt der Geschichte nicht dem Zufall anheimzugeben ist, sondern daß Vernunft in der Weltgeschichte herrscht, sie – trotz allem – das Bild und die Tat der Vernunft bleibt. Wenn Sie hier die andere Seite ausmalten, das Possenspiel, die Schlachtbank, hat das vielleicht mit der Wahl des Standpunkts zu tun? Man kann die Geschichte sozusagen sub specie aeternitatis betrachten und seine Aufmerksamkeit auf ihre objektiven Resultate richten, man kann aber auch nach dem Geschick der Subjekte fragen, nach ihrer Art, die Geschichte zu erleben.

Herr G.: Situationsvergleich also ist dringlich. Herr H., der so trefflich das Spiel von Bedürfnissen, Leidenschaften und Interessen bedenkt, vernachlässigt schließlich doch die Individualität, indem er die Menschen zu Mitteln des Endzwecks herabsetzt. Mit ihrer unermeßlichen Masse von Willen, Interessen und Tätigkeiten erscheinen sie ihm als Werkzeuge des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen. Selbst die weltgeschichtlichen Individuen, die sogenannten Heroen, läßt er ihr Glück nur als Geschäftsführer eines Zwecks finden, ist er erreicht, so gleichen sie leeren Hülsen, die abfallen. Mir scheint, hier wird die logische Idee zum metaphysischen Urstoff, während es doch um die subjektiven Faktoren gehen muß. Ich möchte jedenfalls vieles dem Mute, der Tapferkeit und der Tugend vindizieren, was unsere Philosophie immer gewohnt ist, auf die Rechnung des Himmels zu setzen. Geben wir der Geschichte einen mehr anthropologischen Charakter, leiten wir ihre Gesetze aus dem menschlichen Handeln ab, so werden uns die zahllosen Arabesken und Karrikaturen sichtbar, die von der Göttin Tyche mit sympathetischer Tinte in’s Buch der Geschichte gekritzelt werden. Legen wir unser Ohr mehr an die harmlos vegetierenden Völkermassen, an die stille Existenz auf dem Lande möcht’ ich fast sagen, eröffnet sich noch ein anderer Blick. Vielleicht achten wir nicht nur auf das Fortschreiten, sondern fühlen uns zu einer vergleichenden Anatomie der Ereignisse gedrängt, die auf Analogien in der Erlebniswelt verweist. Ich für meinen Teil würde dann geradezu von einem epischen Parallelismus sprechen, einer ewigen Regeneration. Wir sollten nicht nur den objektiven Fortschritt sehen, sondern das in allen Zeitlagen Gemeinsame und Gleichartige ebenfalls entwickeln.

Herr W.: Das haben Sie sich ein bißchen bei mir abgeguckt. Denn Sie haben meine Ansicht von den Revolutionen übernommen. Alle Revolutionen nämlich gleichen sich in den Ursachen, die sie herbeigeführt, in ihrem Entstehen, ihrem Fortgange und Ende. Man hat nur Namen, Jahr und Tag zu ändern, und die Tatsachen sind dieselben, obgleich in veränderter Gestalt, die Zeit und Ort ihnen geben dieselbe Menschennatur, dieselbe Herrscherkunst. Derselbe Zwiespalt in Ansicht und Gesinnung, derselbe Kampf, dieselben Mittel zu demselben Zweck.

Da sind wir nun wieder bei unserem Thema. Was die Herren W. und G. vorbringen, gilt vielleicht nicht nur für Revolutionen! Hat uns nicht der berüchtigte Machiavelli demonstriert, daß zumindest in der Politik die Spielregeln uralt und überliefert sind? Er berief sich jedenfalls auf seine lange Erfahrung im Staatsleben und die stete Lektüre der alten Schriftsteller, die zum Beispiel lehrten, wie ein Regent Vertrauen in die neuen Verhältnisse hervorrufen, wann er das Volk mit Gewalt zum Glauben zwingen und welche Heilmittel er gegen Volksunruhen gebrauchen kann. Also erweist sich die Geschichte doch als Lehrmeisterin, wenn auch im negativen Sinne?

Herr W.: Machiavelli ist ein eigenes Kapitel. Zu Unrecht gilt er für den Lehrer des schmählichsten Despotismus. Dabei ist sein “Fürst” eher eine kritische Theorie der Tyrannei, ein Spiegel, der willkürlichen Gewalt vorgehalten. Er schildert Tatsachen, beurkundet auf jedem Blatte der Welt- und Völkergeschichte. Allerdings liest er sich auch wie ein Beleg dafür, daß das Negative mehr im geschichtlichen Gedächtnis bleibt. Während wir, die wir doch alle zur Bewegungspartei zählen, in unseren Reihen zu sehr am Schema hängen. Wir sollten weniger von Grundsätzen als von Tatsachen ausgehen und dabei bedenken, daß in der Staatswissenschaft wohl die Ereignisse mehr die Grundsätze, als diese jene bestimmen. Alle Theorie folgt, mehr oder weniger, der Wirklichkeit, der Erfahrung.

Verwickeln Sie sich da nicht in einen gewissen Widerspruch? Erst klagen Sie über Schematismus, dann wieder, daß die Theorie der Praxis nachgeht, um sie zu rechtfertigen und zu erklären. Verwechseln Sie nicht zweierlei, nämlich die Realisierbarkeit von Theorien mit ihrem möglichen Apologiecharakter?

Herr W.H.: Mir scheint, der “Apologiecharakter” von Theorien ist ein zu weites und uns auch noch zu unbekanntes Feld, als daß wir uns hier auf ihm ergehen können. Über Realisierbarkeit aber habe ich nachgedacht, seit ich Frankreichs Revolution erlebte. Lange Zeit sah ich den großen Unterschied zwischen Staatsmännern und Philosophen darin, daß die ersteren durch den Zwang der Umstände ihre Ideen beherrschen lassen, die letzteren mit ihren Ideen die Umstände zu beherrschen suchen. Auch wenn die Ideen der Philosophen – so schien mir – ganz unausführbar in der Reinheit blieben, so könnten sie immer dazu dienen, wenigstens den Gebrauch darin getadelter, wenngleich vielleicht notwendigen Mittel einzuschränken oder so viel als möglich unschädlich zu machen. Aber die Revolution, die sich uns in wechselnden Szenen darstellt, hat mich immer nachdenklicher gestimmt. Sie mündete doch wohl – und Herr H. wird mir zustimmen – in dem Versuch, ein völlig neues Staatsgebäude nach bloßen Grundsätzen der Vernunft aufzuführen. Nun kann aber keine Staatsverfassung gelingen, welche die Vernunft vorausgesetzt, daß sie ungehinderte Macht habe, ihren Entwürfen Wirklichkeit zu geben, nach einem angelegten Plane gleichsam von vornher gründen. Dieser Satz ist mir so evident, daß ich ihn nicht allein auf Staatsverfassungen, sondern auf jedes praktische Unternehmen ausdehne. Zwei ganz entgegengesetzte Zustände sollen aufeinander folgen. Wo ist nun das Band, das beide verknüpft? Man studiere noch so genau den gegenwärtigen Zustand, man berechne noch so genau darnach das, was man auf ihn folgen läßt, immer reicht es nicht hin.

Sie haben dies bereits befürchtet, als es noch um die Nationalversammlung und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ging. Wie steht es aber mit der Jakobinerdiktatur? Robespierre und seine Anhänger haben die Theorie der Aufklärung doch mit ziemlich harter Hand korrigiert. Sie schien ihnen auf ein System des Egoismus hinauszulaufen, das individuellen Anspruch verklärt. Eigentlich erkannten sie von den Großen des 18. Jahrhunderts nur noch wenige, darunter Rousseau an. Dessen Vorstellung vom Staat als geistigem Gesamtkörper, in den der einzelne ohne allen Vorbehalt aufgeht, kam ebenso gelegen wie seine durchaus nicht zynische Ansicht, daß bei Konflikten der besonderen Willen mit dem Gemeinwillen der einzelne zur Freiheit zu zwingen sei. Als Robespierre seine große Konventrede über die Prinzipien der politischen Moral hielt, berief er sich zwar auf diese Theorie. Seine politische Maxime, daß das Interesse der Allgemeinheit gegenüber allen Einzelinteressen den Vorrang erhält, stützte sich aber noch mehr auf die Geschichte. Erwies sich im Beschwören der Römertugend nicht die Geschichte als Lehrmeister?

Herr C.: Aber doch als ein schlecht genutzter! Man ahmte nach, statt Lehren zu ziehen. Die Römerreminiszenzen beruhten doch auf der Vermengung zweier Arten von Freiheit. Während die heutige Freiheit, deren Inhalt sich mit der Ausdehnung der Länder, mit den Verhältnissen persönlicher Unabhängigkeit u.a. zu entwickeln begann, darin besteht, nur den Gesetzen unterstellt zu sein, faßten die Alten sie als Möglichkeit, gemeinsam mit anderen, aber direkt einen erheblichen Teil der gesamten Souveränität auszuüben. Der Römer nahm dabei gern in Kauf, ein der Gemeinschaft unterworfenes Individuum zu bleiben. Rousseau hat die Macht der Gemeinschaft für Freiheit gehalten, ohne diesen Unterschied der Zeiten einzurechnen. Für Robespierre und andere, die glaubten, alles müsse sich noch immer dem Willen der Gemeinschaft fügen und alle Verkürzungen persönlicher Rechte würden durch die Teilnahme an der Staatsmacht mehr als ausgeglichen, stellte er daher eine wertvolle Autorität dar. Kurz: Die Freiheit, die man den Menschen angeboten hat, war den Republiken des Altertums entlehnt. Die Machthaber übersahen, daß zweitausend Jahre Neigungen und Bedürfnisse der Völker weitgehend verändert hatten.

Herr W.: Über diese Zeit denke ich etwas anders. Der Abschnitt vom 31. Mai 1793 bis 27. Juli 1794 bleibt ein denkwürdiger eigener Abschnitt, der oft mißverstanden wurde. Großes, fast Wunderbares wurde in ihm geleistet. Aber dennoch sind Sparta und Rom kein Muster für die Staaten des heutigen Europa.

Herr H.: Nachahmen alter Muster ist nicht besser als Handeln nach abstrakten Prinzipien. Überhaupt ist es mit der Erfahrung ein eigenes Ding. Man verweist Regenten, Staatsmänner, Völker vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung der Geschichte. Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Rgierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen, gehandelt haben. Jedes Volk ist in einem so individuellen Zustande, daß es sich selbst aus ihm entscheiden muß. Im Gedränge der Weltbegebenheiten hilft ein allgemeiner Grundsatz, eine Erinnerung an ähnliche Verhältnisse nicht aus. Nichts ist in dieser Rücksicht schaler als die oft wiederkehrende Berufung auf griechische und römische Beispiele, wie dies in der Revolutionszeit bei den Franzosen so häufig vorgekommen ist.

Herr W.: Ich muß Ihnen zustimmen, allerdings mit Sorge, denn wenn man nicht aus der Geschichte lernt, übersieht man auch ihre Warnungen. Keine Erfahrung hat noch die Torheit klug gemacht und die Begierde mäßig. Die Leidenschaft will nicht Belehrung, sondern Befriedigung. Darum ist meine Hoffnung so klein. Wie kommt man heraus aus dem beklagenswerten Fatalismus der Geschichte? Dieselben Ursachen führen, einem ewigen Naturgesetz gemäß, zu denselben Wirkungen. Es ist ein beinahe unwiderstehliches Verhängnis, das die Menschen führt, für welche Erfahrung keine Lehre, das Beispiel keine Warnung hat. Das Gebiet der Notwendigkeit ist – das muß ich nach aller bitteren Erfahrung feststellen – zuverlässig größer, als es unser Stolz gern zugibt. Nur soweit ist der Mensch frei und Herr, wenn er klug und verständig ist. Aber stets kommt es zum Beispiel zu geschichtlichen Eruptionen, weil man nicht versteht, daß notwendige Reformen Revolutionen verhindern. Nur: Zeigt mir ein Beispiel von freiwillig gemachten Zugeständnissen, und ich will mich zum friedlichen und freundlichen System der Reform und der künstlichen Vermittlung der Extreme bekehren lassen.

Meine Herren, ich sehe, die Waage neigt sich zum Zweifel an unserem Topos. Obgleich –, Sie alle, die Sie Deutschlands erster vorrevolutionärer Zeit zugehören, betrachten sich doch als Bewahrer geschichtlicher Erfahrung. Zählt zu diesen nicht auch Herrn H’s Wort, daß das Wahrhafte nicht auf der sinnlichen Oberfläche liegt, daß die Vernunft nicht schlafen darf und Nachdenken angewendet werden muß? Wer die Welt vernünftig ansieht – so schrieben Sie doch – den sieht sie auch vernünftig an.

(An dem Gespräch beteiligten sich die Herre n Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wilhelm von Humboldt, Benjamin Constant, Karl Gutzkow und Johannes Weitzel.)

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