Martina Schmitz-Weiss – Heillos. Zur Bewegung des klassischen medizinischen Krankheitsbegriffs

Heillos – Zur Bewegung des klassischen medizinischen Krankheitsbegriffs

Martina Schmitz-Weiss

Daß scheinbar niemals zuvor unsere Gesundheit so radikal, und das heißt als Infragestellung unserer Leiblichkeit insgesamt, und zugleich so räumlich unbegrenzt, und das heißt über die Verschiedenheiten einzelner Nationalitäten und die Grenzen unterschiedlicher Naturbedingungen hinausgehend, weiter aber auch so zeitlich endgültig in Bezug auf unsere Nachkommenschaft, und das heißt im Verhältnis zum Überleben unserer Gattung ganz allgemein, bedroht war, das zu bedenken ist schon unerträglich genug; als erschütterndes Skandalon zu betrachten aber ist die Tatsache, daß dies beängstigende Szenario stattfindet – und seine Entwicklung sich im Zyklus der Jahrzehnte buchstäblich zu überschlagen beginnt –, zu einem Zeitpunkt, wo die Wissenschaft jeden Spaltbreit Lebens durchsetzt, wo sie, gleich keinem Jahrhundert zuvor, jede Spur von noch irgend ihr faßbarem Vorgang durchleuchtet und also mit der Fülle und Zukunftbezogenheit dessen, was wir von Erkenntnis erwarten, auszustatten vorgibt. Wie ist aber dann zu erklären, daß sich, so scheinbar ausgerüstet mit zukunftsvollen Kenntnissen, der Horizont unserer Erwartungen täglich mehr verdunkelt? Wie ist es möglich, daß, so allem Anschein nach gestärkt mit lebenserleichternden Energien, unser Leben nicht nur erheblich schwerer zu werden, sondern gänzlich von der Erde zu verschwinden droht?

Fragen wir doch einmal um eine Antwort bei derjenigen Wissenschaft nach, die auf unser Leib und Leben insbesondere zu verstehen sich rühmt, deren alltägliche Müh’ und Plage – offiziellen Verlautbarungen zufolge – darum kreist, wenn nicht der Tatsache des Todes überhaupt, so doch seiner Frühzeitigkeit, seiner unberechtigten Vorverlagerung, seiner unzulässigen Voreiligkeit, und wenn nicht dem Tod also des einzelnen, so doch dem Tod der Gattung die kenntnisreiche Stirn zu bieten; fragen wir nach bei denjenigen, deren Tagewerk in Auftrag, Sinn und Zweck – eigenen Darstellungen entsprechend – darin besteht, wenn nicht der grotesken Fülle menschlicher Leidenszustände insgesamt, so doch der von heilkundiger menschlicher Hand zu beeinflussenden Zahl mitleidsvoll und mit der Übersicht jahrhundertealter Erfahrung im Sinne der Verkleinerung zu begegnen, kurz: fragen wir also nach bei der Wissenschaft von der Heilkunde, von den Heilmitteln, von der Medizin und den sie hauptamtlich vertretenden Protagonisten.

Nicht weniger als die Erfüllung der eben genannten Aufgaben hat sie sich vorgenommen, nicht mehr als Inhalt und Programmatik ihrer eigenen Bezeichnung ist Legitimationsgrund ihres Bestehens im allgemeinen sowie der Art und Weise ihres Handelns im besonderen.

Dies letztere aber, nämlich die Bestimmtheit des heilkundlichen Vorgehens im einzelnen, kann sie nicht anders als ableiten aus den Vorstellungen, die sie mit dem Phänomen dessen, was Krankheit eigentlich sei, verbindet; das heißt ihr Handeln im einzelnen, die Strategie ihrer Aktivitäten, ist zentriert um eine Größe, die Ausgangspunkt und Grundlage der medizinischen Wissenschaft darstellt: den Krankheitsbegriff.

Genauso wie sie, ausgehend von seinen Bestimmungen, den Versuch unternahm, den – im übrigen aus gänzlich anderen als die Heilkunst betreffenden Gründen längst rückläufigen – akuten, infektiösen Krankheiten des 19. Jahrhunderts zu steuern, so leitet sie auch jetzt Art und Weise der Reaktion auf die großen und vollständig veränderten, weil zum allergrößten Teil chronischen Volksplagen aus dem ab, was sie als unter den Begriff “krank” subsumierbar versteht oder was sie als Ursache der Schädigungen glaubt ausmitteln zu können.

Dieser so verstandene und das Vorgehen der Medizin allseits leitende und bestimmende Krankheitsbegriff ist nun, als ganz und gar historische Größe, alles andere als eine Konstante; vielmehr ist gerade auch für diejenige Art und Weise medizinischen Operierens im weitesten Sinne, die – in diesem Jahrhundert uns nur allzu vertraut geworden – die Relativität historischer Produktion insgesamt an sich unkenntlich zu machen droht, ein historischer Zeitpunkt der Entstehung herauszufinden, den wir nicht weiter als in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückzuverlegen haben. Diesen für uns heute so selbstverständlichen und, scheint’s, immerdar gültigen Vorstellungsinhalt pflegen wir als den naturwissenschaftlichen, als den klassischen oder auch als den schulmedizinischen Krankheitsbegriff zu bezeichnen.

Seine Bestimmungen definieren Krankheit im wesentlichen als ein im Sinne der Veränderung der Funktion bzw. im Sinne der Veränderung der Gestalt an dem jeweils betroffenen Körper nachweisbares Phänomen. “Die Funktionsstörung eines Organs, eines jeden Gewebes, ja jeder organismischen Struktur ist das eigentliche Wesen der Krankheit … Als krankhaft im Sinne der pathologischen Anatomie können alle diejenigen Vorgänge und Veränderungen gelten, welche mit den Methoden unseres Faches darstellbar sind und deutlich über die Variationsbreite gestaltlicher oder funktioneller Manifestation unter regelhaften Bedingungen hinausgehen. Sie müssen als krankhaft bezeichnet werden, wenn nach aller Erfahrung die nachgewiesene Strukturveränderung mit Störungen des Lebens ursächlich verknüpft sind.” [ 1 ] Krankheit wird also verstanden als morphologische Veränderung der Zelle, des Gewebsverbandes, des ganzen Organs im Sinne der Pathologie bzw. der pathologischen Anatomie oder aber als funktionelle Veränderung in Chemismus und Ablauf der Lebensvorgänge im Sinne von Pathophysiologie und Pathobiochemie. Krankheit erscheint so als wesentlich biologisch, der Kranke erscheint so als wesentlich Körper.

Von einer Krankheitslehre im systematischen Sinne, von einer Nosologie, die ihren Namen verdient, ist über diese kriterielle Bestimmung dessen, was Krankheit denn sei, hinaus zu fordern die Spezifizierung der Krankheitsursache. Dem ausgeführten klassischen Krankheitsbegriff entsprechend, sucht die Medizin diese, gleichermaßen naturwissenschaftlich vorgehend, entweder in der sogenannten natürlichen Umwelt des betroffenen Subjekts, und zwar im Sinne physikalischer, chemischer oder biologischer Einflußnahme, oder aber in der natürlichen Beschaffenheit des Subjekts selbst, der vererbten, also genetischen Konstitution. Versagen diese Modelle ihren höchstrichterlichen Dienst, so spricht die Medizin – und dies ist gerade beim gegenwärtigen Krankheitsspektrum häufig genug der Fall – vom sogenannten idiopathischen, kryptogenetischen oder essentiellen Charakter einer Störung, und das heißt, einfach ausgedrückt, von einer Störung unbekannter Ursache.

Diese Krankheitslehre läßt nun nicht nur vermissen einen auch noch so nachgeordneten Platz für sämtliche Krankheitsbilder der Psychiatrie, sofern sie denn nicht eigentlich dem neurologischen Fachgebiet zuzusprechen sind, und das heißt, sie sieht ab schon von vornherein von all denjenigen Störungen, in denen ihr das Subjekt als Subjekt entgegentritt; ihre Krankheitsursachenlehre vernachlässigt nicht nur ebenso gewaltsam wie umstandslos und mit weitreichenden verhängnisvollsten Folgen den Subjektcharakter der größten Zahl der zur physischen, chemischen, biologischen und, am Subjekt selbst, genetischen Größe naturalisierten und so als im wesentlichen unbeeinflußbar suggerierten Krankheitsquellen; sie schweigt sich weitgehend aus auch über Hintergründe und Zusammenhänge der Subjektseite in ihrer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der in den meisten Fällen von ihr selbst ausgegangenen Produktion – in der Medizin unter dem Stichwort Immunität in der Hauptsache naturwissenschaftlich oder gar nur randgruppenmäßig verhandelt; diese Krankheitslehre verdrängte auch und gerade den Anteil des Subjekts am als “rein naturwissenschaftlich” im derzeitigen Sinne apostrophierten Erkenntnisvorgang selbst, am als “neutral” scheinbar subjektlosen, und das sollte heißen interesselosen Urteil.

Dies letztere aber – wenn schon alles andere nicht – ist der Medizin am Problem der Trennschärfe des Krankheitsurteils plötzlich zu Bewußtsein gekommen. Wenn wir nämlich eben noch von berufener Seite die Definition dessen, was als krank zu bezeichnen statthaft ist, entgegengenommen haben, so kann dem aufmerksamen Leser medizinischer Literatur die Vorsicht und die, beinahe möchte man sagen, Geständnisbereitschaft dieser Aussage schwerlich verborgen geblieben sein. Und so folgt ihr denn auch richtig die Bemerkung: “Es ist klar, daß durch diese Formulierung keine volle Sicherheit gewonnen werden kann. denn «regelhafte Bedingung» und «Erfahrung» sind sehr persönliche Gegebenheiten.” [ 2 ]

Für die Pathologie ist denn schließlich auch das Problem naturwissenschaftlicher Krankheitsbegriff alles andere jetzt als eine tief erkenntnistheoretische, eine auf Entsprechung von Gegenstand und Wissen, auf Angemessenheit von Erkenntnis und zu Erkennendem pochende Frage, als vielmehr eine ganz praktische, beinahe betriebswirtschaftliche und die Brauchbarkeit einer Behelfsmaßnahme verhandelnde Schwierigkeit.

“Allein, ohne diese Entscheidungshilfen kann man nicht sprechen und keine klinische Medizin betreiben.” [ 3 ] Und so wundert’s uns denn auch nicht, am guten Schluß über den Krankheitsbegriff resümierend folgendes zu hören:

“Eine als nicht der vollen Gesundheit entsprechende Störung wird in aller Regel und bei längerem Bestehen die Überzeugung des Vorliegens dessen entstehen lassen, was man als «krankhaft» gelten zu lassen sich angewöhnt hat.” [ 4 ]

Eine treue, bequem gewordene Gewohnheit läßt sich überzeugend beim Kauf eines Paares weicher Pantoffeln, nicht aber bei der Entscheidung für eine als wissenschaftlich apostrophierte Erkenntnis anführen, und die “Entscheidungshilfe” zur besseren “Betreibungs”-Fähigkeit einer Fertigkeit steht wohl eher den Vertretern der Handwerksinnung als einer um Deckung von Subjekt und Objekt bemühten Wissenschaftsinstitution zu Gesicht. Gewohnheit und Funktionserleichterung – für wen? – können und sollen ja wohl auch gar nicht mehr ernsthaft Argumente für einen medizinischen Krankheitsbegriff sein.

Mag die Geständigkeit der die kranke Gestalt betrachtenden Pathologie und pathologischen Anatomie aber noch so vorauseilend sein, die die kranke Funktion betrachtende Pathophysiologie und Pathobiochemie stehen ihr dabei nicht nach. Herrschen Uneinigkeit und Unsicherheit hier in Anbetracht einer – mittels wie auch immer bewaffneten Auges – doch letztlich sinnlich erfahrbaren Größe, so findet sie sich erst recht dort im Verhältnis zu dem noch ungleich abstrakteren Befund eines Funktionswertes, einer bloßen Quantität.

Die die Ausgaben im Gesundheitsbereich nicht unerheblich in die Höhe treibenden “Errungenschaften” im Bereich der Diagnostik, all das, was der sogenannte medizinisch-industrielle Komplex im Bereich der Krankheitserkennung zu bieten hat, hat unerwarteterweise die Antwort auf das, was Krankheit nun wirklich ist, nicht leichter gemacht. Im Gegenteil: die Fülle der von interessierter Seite entworfenen Mittel zum angeblich guten Zweck immer größerer Objektivierung unseres Erfahrungsschatzes, die Flut immer zahlreicher werdender, von immer wieder neuen und als mit zunehmender Empfindlichkeit begabt angepriesenen Apparaturen und Techniken, diese ganze, monströs sich auftürmende medizinische Erkenntnismaschinerie, hat nur das Objekt, auf das sie so erfindungsreich gerichtet war, weiter vor unseren Augen verhüllt. Die erhoffte Klarstellung hat nicht stattgegefunden, die hochgespannten Hoffnungen wurden enttäuscht.

Wer mag noch leugnen, daß sich längst das Problem der “Verwertbarkeit” [ 5 ] all dieser Untersuchungsverfahren, jetzt wo sie denn ihren Absatz gefunden haben, mehr als überdeutlich gestellt hat? Da werden inzwischen nicht nur die “Schwierigkeiten der Trennleistung gegenüber den Gesunden, die Verteilung der Werte bei Gesunden und Kranken” beklagt, die dazu geführt haben, daß die “Ärzte zwischen Laborgläubigkeit und Ignorieren technischer Daten (schwanken)”, da sind nicht nur die Lasten der Verkehrung von Informationsmangel zu Informationsüberfluß und das heißt die Schwierigkeiten der “kritischen Auswahl des Wesentlichen” zu tragen, da drückt nicht nur das Problem von der Technik selbst ausgehender Fehler, ihrer Erkenntnis und der aus dem Gesagten resultierenden Notwendigkeit “zur richtigen Interpretation der Befunde”; da sind des weiteren die leidigen und in diesem Fall überaus maroden Zustände der auf das Gesundheitswesen bezogenen Finanzen, die die Tiefgründigkeit heilkundlicher Diagnostik schnöde und gegenstandsfremd begrenzen – “Das wachsende Angebot an erreichbaren Informationen und die Kostenexplosion zwingen auch an großen Kliniken mehr als früher dazu, auf einer von Krankheit zu Krankheit, von Patient zu Patient wechselnden Stufe weiteren diagnostischen Aufwand zu unterlassen” –; da ist inzwischen auch die Zumutbarkeit einer Untersuchungsmethodik, die Fülle und Aussehen des Informationsmaterials bestimmt, da ist die kriterielle Bedeutung der Indikationsstellung, die, fälschlich konstatiert, zur Fehldiagnose führen kann, da sind Eigenschaft und Beschaffenheit unserer Organe selbst, da ist die Person des Patienten, die, je nach Bereitschaft und Möglichkeiten, zum diagnostischen Ergebnis das ihrige hinzufügt, und da haben wir nicht zuletzt die Person des Arztes, der je nach Temperament und andern zum Teil höchsteigenen Hintergründen Menge und Art der Untersuchungen genauso festlegt, wie er sie nach Wissen und Können unterschiedlich bearbeitet und bewertet.

Allgemein ist also zu sagen, daß die Medizin, je mehr sie sich durch ständig fortgehende Zerlegung ihres Gegenstandes, und das heißt durch immer uferloser werdende Einführung technischer Hilfsmittel zu verobjektivieren sucht, um so weniger umhin kann, sich mit der Tatsache der im anschließenden Vorgang der zunehmend mühevollen Zusammensetzung immer deutlicher sichtbar werdenden Versubjektivierung zu konfrontieren. Verfallen dem Fetisch der ganz und gar und ausschließlich objektiven Beweisbarkeit und mit angelegten Ohren diesem naturwissenschaftlich aufbereiteten Abgott nacheilend, schlägt sie hart und unerbittlich auf dem Boden ihrer bislang so folgenreich verdrängten Subjektivität auf:

“Je mehr man sich aber mit der technischen Medizin beschäftigt, desto mehr muß man die Erfahrung machen, daß auch diese bei Gewinnung und Beurteilung von Daten menschlichen und dabei subjektiven Reaktionen zugänglich ist. Dies gilt für das Labor und die Röntgenologie in gleicher Weise wie für die Kreislaufdiagnostik und die Pathologie.” [ 6 ]

Von der Medizin selber also – seine Potenzen in Richtung Erkenntnisfähigkeit betreffend – beinahe vernichtend beurteilt, hält aber dieser klassische naturwissenschaftliche, schulmedizinische Krankheitsbegriff nichtsdestoweniger und alledem trotzend die Stellung einer der breiten Öffentlichkeit hintergründig dargereichten Größe, behauptet er sich dessenungeachtet auch weiterhin in der Rolle eines nach außen hin für die unendlich gebeugte Wissenschaftlichkeit der medizinischen Alltagsgeschäfte einstehenden Vorpostens, dient er noch immer dem Beweis der nichts als nur objektiven Güte des nicht gerade zimperlichen Auftretens der Heilkunst, und ist so immer noch und weiterhin als Repräsentationsgestalt gut genug.

So inkonsequent nun dies Festhalten am obsoleten Begriff, so unverständlich dies Konservierungsunternehmen wider besseres Wissen zu sein scheint, so wohlbegründet und sinnreich ist es doch: Ist denn nicht inzwischen, nach all den Jahrzehnten mühevoller Institutionalisierung, all s eine Fragwürdigkeit – die jetzt intern und, wie wir sehen werden, aus ganz anderen Gründen wieder zur Sprache kommt – im Bewußtsein seiner möglichen Klientel, und das heißt der potentiellen Patientenschar, unaufhaltsam verblaßt, ist nicht inzwischen jede Erinnerung an eine andersgeartete Vorstellung von beeinträchtigter Gesundheit dank aufopferungsvoller Arbeit glücklich erloschen, ist es ihm nicht, seiner naturwissenschaftlich etikettierten Haltung entsprechend, gelungen, jeglichen gesellschaftlichen Konflikt in ihm buchstäblich zu neutralisieren, zu naturalisieren und das heißt bewußt und mit voller Absicht unkenntlich, nicht aber etwa ungeschehen, zu machen?

Warum eine solchermaßen bewährte Monstranz öffentlich aus dem Verkehr ziehen, warum sie lauthals schelten, warum sie, die so lange für Ruhe und Ordnung gesorgt hat, vor aller Augen blamieren? Wer will denn wissen, ob sie, so gut eingeführt und gesellschaftsfähig geworden, nicht noch für künftig intendierte Geschäfte zu gebrauchen sein könnte?

Wenn wir aber so nun gar nicht umhin können festzustellen, daß es der Medizin scheinbar – trotz wohlausgeführter Erkenntniskritik aus den eigenen Reihen – um alles andere als die solcherart nahegelegte offizielle Korrektur ihres begrifflichen Instrumentariums zu tun ist, und wenn wir weiterhin nicht anstehen können zu konstatieren, daß diese jetzt von medizinischer Seite geäußerte Problematisierung naturwissenschaftlichen Erkenntnisanspruchs alles andere als originell und etwa Schöpfung des späten 20. Jahrhunderts ist, so ist folglich die Frage berechtigt, was die Medizin in den letzten Jahren zu solcherlei, aus dem Altbestand der Erkenntistheorie stammenden, abtrünnigen Äußerungen getrieben haben mag. Was also veranlaßt die Medizin mit einem Mal zu diesem erkenntniskritischen Raisonnement, hat sie doch so viele Jahre weder Kosten noch Mühe gescheut, die jetzt angedeuteten Spuren interessierter Subjektivität im Bereich auch ihrer Fakultät mit allen ihr zu Gebote stehenden Putztischkünsten zu verwischen? Wieso öffnet sie jetzt plötzlich, nach mehr als hundert Jahren hartnäckigen Schweigens, wenn auch noch so leise und auf sich selbst bezogen, über die zu tätigende Einordnung naturwissenschaftlicher Einsichten plötzlich den Mund?

Die weitgehend im Innern der medizinischen Profession verhandelte Krise des klassischen Krankheitsbegriffs ist, wie wir jetzt schon erahnen können, nicht allein Sache des – so besprochenen und genauer beleuchteten – wissenschaftlich ambitionierten, erkenntnisheischenden Subjekts, sondern auch und gerade Folge einer – in diesem Zusammenhang so nicht zur Erwähnung kommenden und unausgesprochenen – Veränderung der der Wissenschaft anbefohlenen “Objekte”, hier also der Beschaffenheit der der Medizin in derzeit langer, nicht abreißender Folge zuströmenden Patientenschar. Mögen die Infektionskrankheiten noch dankbares Objekt der naturwissenschaftlich orientierten Medizin zumindest dem Anschein nach gewesen sein, die heute uns plagenden Siechtümer und Schwächen erschweren ihre Arbeitsweise nun aber sichtlich aufs äußerste. Sowohl in ihrer sinnreiches Handeln erst ermöglichenden Erkennbarkeit, erst recht aber mit Bezug auf die daraus abgeleitete bzw. diese voraussetzende Beeinflußbarkeit, insbesondere im Sinne einer Restitutio ad integrum, weiter aber auch in ihrer Anleitungsfunktion betreffs der Durchschaubarkeit eines Verursachungszusammenhangs: in all dem sträuben sie sich ganz entschieden dem naturwissenschaftlichen Potential. Krankheit dort verkennend, wo sie bereits vorhanden, ausbleibendes Handeln aber unter Umständen verhängnisvoll ist, auf Krankheit erkennend, wo sie nicht vorhanden, eingeleitetes Handeln aber eine unzulässige, weil unangemessene Belastung ist, Krankheit aber richtig erfassend, wo wesentliches Handeln unmöglich, Heilungsabsicht zum leeren Ideal herabgesunken ist – und aus keinem andern Grund als diesem bezeichnen wir die weitaus größte Mehrzahl der heutigen Krankheitsbilder ja als chronisch –, so derart kümmerlich dastehend vor dem unsäglichen Kummer der großen Volkskrankheiten, hat der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff doch ganz wesentlich praktisch versagt.

Auf diese Weise zu großen Teilen unangemessen und irrelevant, versinkt er im Autismus und in der Abstraktion eines dem Gegenstand nicht korrespondierenden, deshalb unsinnigen und erkenntnisunfähigen, das heißt aber wirkungslosen und nichtsnutzigen Vorstellungsinhalts.

Nicht etwa nur Resultat der von der medizinischen Profession zur Sprache gebrachten immanenten Logik und Dialektik der Entwicklung ihres Begriffs, sondern hervorgerufen durch die von ihr nicht erwähnte Entwicklung ihres Gegenstandes, und das heißt objektiv und materialiter vom sogenannten Wandel im Krankheitsspektrum, ist die Schräglage des klassischen Krankheitsbegriffs – wann immer sie eingetreten sein mag – jetzt zumindest zu einer – für wen auch immer – unerträglichen Belastung geworden.

Angesichts der bisherigen Überlegungen schon leicht hellhörig geworden, wagen wir nun schon gar nicht mehr zu hoffen, daß die Medizin die von ihr selbst vorgenommene Infragestellung ihres Grundbegriffes zu einem Zwecke vornimmt, der der Wissenschaft von der “Heilkunde”, der “Heilkunst”, der Medizin zur Ehre gereichen würde und ihrer Namensgebung, ihrem Titel, ihrer Dienstbezeichnung, und das heißt ja ihrem Auftrag, ihrem Anspruch und ihrer Selbstdarstellung, angemessen und gemäß wäre: die Kritik also anmeldet, weil sie diese unerträgliche Reibung zwischen Erkenntnis und zu Erkennendem, weil sie diese fehlende Entsprechung zwischen Gegenstand und Wissen, weil sie die Unangemessenheit zwischen Instrumentarium und Objekt aufzuheben oder zurückzunehmen sucht in einem Begriff, der die Ferne und Kontaktlosigkeit, die Distanz und Beziehungslosigkeit abzumildern, oder umgekehrt, der Übereinstimmung und Verständigung zwischen beiden herzustellen in der Lage wäre.

Hätte sie dann nicht den Korrekturbedarf offiziell kundgetan, würde sie dann nicht ihren ausgedienten Begriff auch in aller Öffentlichkeit desavouieren, würde sie ihre Umstellungsversuche nicht längst vor aller Augen gründlich und geduldig offengelegt haben? Und würde sie nicht auch dies ganz praktische Versagen des kritisierten Instrumentariums als den Ausgangspunkt und das Zentrum ihrer Reformationsanstrengungen klar und deutlich ausgesprochen haben?

Und richtig, daß dieser dem Versprechen der Wissenschaft hoch würdige und für die Rettung einer ihren Namen verdienenden wissenschaftlichen Heilkunst höchst dringliche Grund nicht des Pudels Kern in dem Debakel um den problematisierten Krankheitsbegriff ist, sehen wir spätestens dann, wenn wir die Konsequenz betrachten, die die Medizin zum Zweck der Krisenbewältigung und, richtiger, zum Behufe nur der Krisensteuerung ergriffen hat.

Sie hat nämlich – in Abwandlung des naturwissenschaftlichen Begriffs – eine Neufassung gekürt, der gemäß sie fortan und bis auf weiteres unter Gesundheit verstehen will “… die aus der personalen Einheit von subjektivem Wohlbefind und objektiver Belastbarkeit erwachsende körperliche und seelische, individuelle und soziale Leistungsfähigkeit des Menschen” [ 7 ], und das heißt, umgekehrt unter Krankheit dann wohl verstehen muß: die aus der personalen Einheit von subjektivem Unwohlsein und objektiv mangelnder Belastbarkeit erwachsende körperliche und seelische, individuelle und soziale Leistungsunfähigkeit des Menschen.

Läßt nun diese Neufassung im Sinne der Leistungsunfähigkeit und mangelhaften Belastbarkeit nicht nur erkennen, daß nicht – und wie sollte auch? – der den alten Begriff mittragende Anteil an Subjektivität das die Neuerungssucht auslösende Motiv an der ganzen Sache gewesen sein kann: denn niemandem, und auch der Medizin nicht, ist der Mangel an “reiner Objektivität” nun auch und gerade am Begriff der Leistungsunfähigkeit verborgen geblieben; nicht zu übersehen bei dies er begrifflichen Metamorphose ist aber insbesondere die Tatsache, daß es der Medizin nicht mehr, wie bisher, darauf ankommt, die kriterielle Unterscheidung am ohnehin schon reduzierten und das heißt ausgedeuteten organischen Substrat und also am für sie in der Vergangenheit zumindest nicht ganz unwesentlichen Zustand des Körpers und seiner Teile zu treffen, sondern daß sie ihr Interesse verlagert hat hin vielmehr auf die Folgen einer selbst jetzt in den Hintergrund gerückten, nur mehr am Rande interessierenden Befindlichkeit. Krank ist demnach nicht mehr ein nach altem Muster registrierter Befundträger, krank ist ein so erfaßter Befundträger vielmehr erst, oder aber schon dann, wenn er eine zusätzliche und erst wirklich urteilsbildende Eigenschaft besitzt, eine Eigenschaft, die seinen Zustand ins Verhältnis setzt zu einer seinem Körper zunächst ganz äußerlichen Erwartung, zu einer erst einmal von außen an ihn herangetragenen Forderung, zu einer von Leib, Seele und Geist zu erfüllenden wie auch immer gearteten Funktion. Diese begriffliche Umdeutung reflektiert so auf ihren Gegenstand wesentlich in seiner Bedeutung einer von ihm zu erzielenden Wirkung, einer von ihm zu erzeugenden Kraft, einer ihm innewohnenden und zur Entäußerung zu bringenden Potenz und Fähigkeit, sie bezieht sich somit auf Leib, Seele und Geist als auf eine mögliche Quelle von Produktivität.

Es bedarf aber wohl kaum des Hinweises, daß diese dem Subjekt gegebene Fähigkeit zur Produzentenschaft nur bestimmt sein kann von der den jeweiligen historischen Möglichkeiten entsprechenden sowie der jeweiligen Vergesellschaftungsform gemäßen Art des gemeinschaftlichen Produzierens. So verstanden, kann diese Neuinterpretation aber gar nichts anderes heißen, als daß hienach als gesund zu betrachten ist derjenige, der unter den gegebenen – und keinen andern – Bedingungen des Produzierens den an ihn – und an niemand sonst – gestellten Forderungen an Indienstnahme seiner Organe und Gliedmaßen zu entsprechen vermag, als krank zu bezeichnen ist aber derjenige, der angesichts spezifischer und an seine Person speziell herangetragener Erwartungen – und auschließlich dieser – derartige Funktion zu erfüllen nicht mehr gewährleisten kann. Würde aber zum Beispiel die Leistungsanforderung zwischen diesen beiden Personen nur einmal vertauscht, oder fände sie gar – und wer wagt schon überhaupt noch, so weit zu denken? – unter anderen als den gegebenen Bedingungen statt, so wäre es nicht abwegig, für den letzteren einen gleich wundersamen wie schlagartig sich einstellenden Therapieerfolg, für den ersteren aber eine lähmende Diagnose und einen blitzartigen Verfall in Aussicht zu stellen.

Bei konsequenter Betrachtung dieses neugeschaffenen Begriffsarsenals ist also nicht zu übersehen, daß die Sortimentbildung des der Medizin anbefohlenen Personenkreises oder, in den Worten medizinischer Terminologie, ihres “Patientengutes”, nicht sowohl orientiert ist am Maßstab einer für die sie tragende Person wohltuenden Beschaffenheit von Körper oder gar Seele und Geist, sondern vielmehr vorgenommen und getätigt wird im Hinblick auf mit ihnen ganz und gar nicht identische, auf sie dagegen als auf eine in ihrem Sinne nutzbar zu machende Potenz und Kraftquelle sich richtende historisch und gesellschaftlich jeweils anders bestimmte Interessen.

Damit aber hat die Medizin nun eine vollends andere Richtung eingeschlagen, die nicht weniger als ihren eigentlichen Auftrag ins Gegenteil zu verkehren droht. Denn wenn immer der Sinn eines Begriffs, so abstrakt er auch sein mag, wenn immer die Bedeutung einer Erkenntnis, so vermittelt sie auch auftritt, die aus ihnen sich ableitende und von ihnen geleitete Handlungsfolge ist, so ist doch der Sinn eines Krankheitsbegriffs die aus ihm sich legitimierende, in Art und Beschaffenheit gleichwie in Zeitpunkt und Dauer jeweils unterschiedliche sei’s hygienische, sei’s therapeutische Konsequenz. War der klassische Krankheitsbegriff wenigstens noch bestrebt, seine Diagnose am freilich schon zum bloßen Natursubstrat ausgedünnten und deshalb ja auch zur Verfassung eines Objekts degradierten Gegenstand, dem zu schützenden Subjekt, vorzunehmen, an ihm sich zu orientieren, seine ihm eigene Leiblichkeit in Augenschein zu nehmen und also in Art, Dauer und Zeitpunkt nicht nur der Therapie, sondern insbesondere des Schonungsbedarfs an ihm als an dem wenn auch zwar falsch Objektivierten, so doch als solches wesentlich Entscheidenden sein Maß zu haben, so handelt die Medizin jetzt folgerichtig schon oder erst dann, wenn ein Zustand nicht nur Folgen überhaupt, sondern ganz bestimmte, einen verschwindend kleinen gesellschaftlichen Ausschnitt betreffende Folgen für einen dem Organismus zunächst äußerlichen Zusammenhang hat, und sie handelt demgemäß und strenggenommen auch nur so lange, bis diese dem Organismus erst einmal gleichgültigen Folgen für den mit ihm nicht identischen Zustand beseitigt sind. Daß die von der Medizin einzusetzenden Mittel, also die Art und Weise der heilkundigen Strategie, dieser Zielvorstellung dann aber gemäß sein werden und daß sie sich – so auf die Folgen für ein für die Gesundheit ihres Schutzbefohlenen eher unerhebliches Ressort konzentriert – schwerlich an den Ursachen seines Zustandes auch nur im geringsten interessiert zeigen kann, zu schweigen erst recht von der für ihr Arbeitsgebiet eigentlich zentralen Beseitigung derselben, daß die Medizin also ihre ihr wohl zustehende wissenschaftliche Neugier derart verflacht, das kann uns dann noch schlimmstenfalls schwer zusetzen, nicht aber mehr erstaunen. Die Krankheitsursachen und die auf sie gerichtete Lehre geraten ihr, der Logik ihrer eigenen Begriffsneufassung folgend, zunehmend, um nicht zu sagen beinahe gänzlich aus dem Blickfeld. Deshalb warten wir denn auch ebenso sehnsüchtig wie unerfüllt auf einen Ersatz für das, was – bei ohnehin schon stark umflorten Blicken – dermaleinst nur als ein Mikroorganismus sollte angesprochen werden können.

Wenn aber aus alledem nun folgt, daß es der schulmäßig betriebenen Heilkunde weder jetzt auf die Beseitigung einer pathologischen Verfassung in Zelle, Gewebe, Organ oder Funktion so lange zu tun ist, wie sie mit der gegebenen an sie gestellten Erwartung nicht kollidiert, noch aber – und das folgt ja daraus – erst recht um die Identifikation und Beseitigung der solche Verfassung auslösenden Ursache zu tun sein kann, so bedeutet diese erschreckende Rücknahme und Einengung ihres Arbeitsgebietes nichts anderes, als daß sie wohlwissend und grundlegend, bewußt und radikal darauf verzichtet, den ihr von der Öffentlichkeit zugesprochenen und von dieser sehr großzügig honorierten Auftrag und die von ihr selbst so ausgewiesene Arbeit zu erfüllen, Gesundheit zu sichern und – falls dies unmöglich – wiederherzustellen.

In der dargestellten Neukonstruktion ihrer Begrifflichkeit ist nicht mehr der noch vom klassischen Instrumentarium angestrebte intakte und von pathologischen Auffälligkeiten verschonte Organismus, sondern der in bezug auf eine äußerst eingeschränkte gesellschaftliche Funktion nichtsymptomatische Organismus, nicht der fehlende Nachweis von Pathologie, sondern die fehlende Beugsamkeit von Pathologie, nicht der ungestörte Körper, sondern der nicht störende Körper zentraler und eigentlicher, kaum erwähnter, aber täglich bearbeiteter Gegenstand ihres Interesses. Nicht Gesundheit und Schutz der Arbeitenden, sondern Funktionsfähigkeit und Sicherung der Arbeitsverhältnisse, nicht der Maschinist, sondern die Maschine, nicht die lebendige, sondern die tote, vergegenständlichte, in der großen Industrie aufgehäufte Arbeit, dies und nichts anderes ist Hintersinn und Absicht der Neuzentrierung ihres Grundbegriffs. Nicht die Krankschreibung eines geschädigten Organismus zum Zweck seiner Wiederherstellung, sondern die Gesunderklärung trotz Störung zum Zweck der Beibehaltung des gegebenen gesellschaftlichen Zustands droht, ihre eigene Definition zu Ende gedacht, von der großen Mehrzahl der Professionsvertreter akzeptier ter Inhalt und verfochtene Zielsetzung ihrer Arbeit zu werden.

Nicht länger also ist die Medizin auf der Suche nach einem und sei’s nur körperlichen Zustand von Unversehrtheit und Integrität, Ausschau hält sie vielmehr nach einer auf diese und keine andere Gesellschaft abgerichtete Integration. Denn wenn sie schon eine vom historischen Zeitpunkt gleichwie von der Vergesellschaftungsform abhängige Produktionsweise als wenigstens die Definition mittragendes Moment in ihren Begriff aufnimmt, so wäre ja, ebenso wie das von der Medizin nun eingeschlagene Therapiekonzept der Wiederherstellung der gebrochenen Leistungsfähigkeit, der Rekonstruktion der erloschenen Strapazierbarkeit, die Heilbehandlung der Reduktion oder Änderung der Leistung selbst, die Vorstellung der Reduktion oder Änderung der Strapaze selber als aus der Definition zumindest gleichermaßen abzuleitend ganz entschieden zu überdenken. Diesen ihrem Auftrag eher kongeniale Gedanken aber nicht im geringsten verfolgend, vielmehr Gesundheitsförderung mit Leistungssteigerung gar noch verschränkend, ist der Medizin also nicht – und das ist jetzt nicht mehr zu übersehen – der klassische Begriff wegen seiner Distanz und Unangemessenheit, sondern wegen seiner ohnehin schon reduzierten Nähe und seiner doch schon zurückgenommenen Sorgfaltspflicht seinem Gegenstand gegenüber problematisch geworden. Nicht hat sie also ihren am eigenen Gegenstand verzweifelnden Begriff um dieses Gegenstandes willen zu korrigieren gesucht, sie hat ihn vielmehr, sich nun vollends von ihm abkehrend, gänzlich fallengelassen und verraten.

Was kann die Medizin zu solch einem treulosen Schritt veranlaßt haben, der überdies für sie selbst so ungefährlich nicht ist, artikuliert sie sich doch, im Unterschied zum klassischen Begriff, damit vergleichsweise deutlich zum gesellschaftlichen Konflikt?

Die Beibehaltung des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffs, so fragwürdig er bei seiner Geburtsstunde schon gewesen sein mag, hätte nicht etwa nur die Medizin auf zunehmend unerträgliche Weise mit der von diesem Begriff nicht unwesentlich mitzuverantwortenden Tatsache sich haltlos häufender, sich weiter aggravierender und von ihm selbst weder zu verhindernder noch auch deutlich zu beeinflussender Krankheitsbilder konfrontiert. Sie hätte nicht etwa nur die Medizin mit der zählebigen Misere endlos weiter anwachsender “positiver” Diagnosen bei zwangsläufig nihilistischer werdender Therapieeinstellung auf eine zunehmend legitimationsbedürftige Zerreißprobe gestellt, sie hätte also nicht nur die Wissenschaft von der Medizin auf Dauer ins denkbar schlechte Licht einer mit fraglicher Meisterschaft werkenden Disziplin gerückt. Vielmehr und letztlich wesentlich wäre die Beibehaltung der klassischen Begrifflichkeit schlagartig lähmend und fürs erste endgültig für eine gesellschaftliche Ordnung, der die – egal wie – weiterlaufende Funktionsfähigkeit des einmal in Arbeit genommenen Individuums heilig und Maß aller Dinge ist.

Der klassische Krankheitsbegriff würde also angesichts von Art und Verbreitungsgrad, angesichts von Qualität und Ausmaß des gegebenen Krankheitsspektrums zwar der Medizin keineswegs zur Ehre gereichen, er würde aber – und das ist für seine Metamorphose das alles entscheidende Moment – erst recht seine guten Dienste versagen denjenigen gegenüber, die an der Inbetriebnahme der vom abgedankten Begriff als betriebsunfähig erklärten, die an der schonungslosen Nutzung der vom alten Begriff als schonungsbedürftig erkannten Organe und Gliedmaßen lebenselixierartiges Interesse haben. Im Gegenteil, nur immer häufiger und nachhaltiger müßte er die immer höher gespannten Forderungen – die Chronizität der Krankheitsbilder in Rechnung stellend – enttäuschen und klar und deutlich auf Leistungsnachlaß, wenn nicht gar -einstellung erkennen. Die an der weiteren Betriebsfähigkeit der geschändeten Körper Interessierten würden so an der letzten Bastion krankes Organ, krankes Gewebe, gestörte Funktion und der nach altem Muster daraus abzuleitenden Pflichtentlassung ihre Grenze finden und müßten so – wenn denn schon vor allem andern nicht – vor dem lautlosen, sprachlosen, bewußtlosen Widerstand der ermatteten Körper klein beigeben – oder aber, wie schon so oft, nach Hilfe für weiteren Aufschub Ausschau halten. Und es ist genau diese Hilfe, die die Wissenschaft von der Medizin vorauseilend und eilfertig durch begriffliche Umdeutung ins Werk gesetzt hat, und nichts als der desolate, erschöpfte, der Zumutung nicht mehr gewachsene Zustand der natürlichen Ressource selbst auf der einen Seite und die Beibehaltung und Beglaubigung der Zumutung auf der andern, nichts als diese schmerzliche Komposition, dies zerstörerische Zusammenspiel ist es, was die Medizin zur Kapitulation und Aufgabe ihres Begriffes gezwungen hat.

Die Agonie der Ressource, im Fall der Medizin der Zusammenbruch des Subjekts, die Heillosigkeit und Treulosigkeit medizinischer Aktivitäten, die Weigerung der Identifikation, Deklaration und Inangriffnahme der Krankheitsursachen und das heißt der Unwille, sich anders als bisher, nämlich im Sinne der ihr Anvertrauten zu formieren und zu bekennen, sie zusammen haben das magnum opus der weiteren Verbiegung und Beugung dieser Wissenschaft aus der Taufe gehoben.

Der so vermeintliche Ansprüche von Naturwissenschaftlichkeit, erst recht aber von Wissenschaftlichkeit ad absurdum führende neue Krankheitsbegriff aber wird von der Medizin nur ertragen und geduldet in der hintergründigen Hoffnung, eine höchst vorübergehende, nachhaltig vergängliche und das heißt lediglich als Interregnum fungierende Gestalt zu sein. Nicht zufällig nämlich und absichtslos, nicht ohne Erwartungsfreude des längst Eingeweihten, hat die Medizin den naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff als offiziellen Stammhalter für das große Publikum beibehalten. Ihm widerstandslos ergeben, ersehnt sie seinen Beistand auch jetzt; mit allen amtlich abgesegneten Forschungsmitteln bestückt, mit allen ihr und andern zuarbeitenden Wissenschaften Arm in Arm und mit dem Bienenfleiß allen weiterstrebenden Personals gekrönt, war die Medizin alles andere als untätig. Und so hat sie denn auch aus der Tiefe ihrer Laboratorien ein Reagenz hervorgewühlt, das der müden Ressource Beine zu machen und ihr den Schleier der sogenannten exakten Wissenschaft erneut überzuwerfen verspricht: die Forschungsergebnisse der ihr als Teilgebiet angehörenden Wissenschaft von der Genetik, der ihr zuarbeitenden anderen Grundlagendisziplinen und somit auch das Verfahren der ihre Ergebnisse im großen Stil umsetzenden und von ihr im wesentlichen legitimierten Gen-Technologie.

Im den Anstrengungen dieser Fakultät zugrundegelegten und von ihr mit beinahe heilsgeschichtlichem Bekehrungseifer verfochtenen Instrumentarium aber feiert der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff in seiner einfachsten und reduziertesten Gestalt und doch in einer durch Umschlag des bisherigen graduellen Fortschreitens erreichten neuen Qualität fröhliche Urständ. Gründlich vergessen scheint nicht nur der noch, und sei’s in noch so naturalisierter Weise, auf eine Beziehungsform reflektierende Begriff der klassischen Krankheitslehre wie er in der Ätiologie der Infektionskrankheiten zum Beispiel angedeutet ist, vergessen scheinen die kritischen Überlegungen der Medizin selbst zum Subjektbestand, und das heißt zum Interessenpunkt am naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff, vergessen aber auch scheint die noch allzu nahe historische Erfahrung, die uns im Verhältnis zum Begriff der Genetik das Fürchten lehrte.

Hat die Gesellschaft unserer jüngsten Vergangenheit noch, von der Wissenschaft von der Genetik mehr als gestärkt, ihr destruktives Werk offener physischer Vernichtung und direkter unmittelbarer Ausrottung allzu blutig und sensationell begonnen, so tendiert die moderne Genetik jetzt, es durch Produktion, physische Kreation, streng kontrollierte Hervorbringung der natürlichen Ressource selber unblutig und skandalfrei zu vollenden; war die Genetik also vor noch nicht allzu langer Zeit Advocatus Diaboli von Zerstörung und Tod, so scheint sie heute Ausgangspunkt und Quelle von Schöpferkraft und Kreatürlichkeit.

In ihrem ungeheuerlichen Verschleißprozeß vor der letzten Barrikade angekommen, unternimmt die gegebene Vergesellschaftungsform einen letzten gewaltigen Angriff zur Selbstverteidigung: den Versuch der Beseitigung des auf kranke Bedingungen im Sinne des Gesundungsgesuchs reagierenden und deshalb seine Funktion verweigernden Natursubstrats durch Setzung, den Versuch der Beseitigung des auf schädliche Bedingungen im Sinne des Selbstschutzes reagierenden und deshalb Störung signalisierenden Organismus durch Konstruktion; den Versuch also, die in ihrer natürlichen Substantialität zerrütteten Körper selbst in ihrem letzten gesunden, weil auf Gesundung und Wiederherstellung drängenden und deshalb als krank in Erscheinung tretenden Widerstand zu brechen durch Produktion, um eine auf Destruktion der Ressource beruhende gesellschaftliche Form zu erhalten.

Hat der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff es sich noch leisten können – durch strikte Naturalisierung –, den gesellschaftlichen Charakter seines Begriffs zu leugnen, hat der Begriff der Leistungsunfähigkeit – durch strikte Funktionalisierung – vom so schon reduzierten Gegenstand seines vorangehenden Begriffs weiter abgesehen und ihn offen verbogen, so versucht der intendierte Krankheitsbegriff der Genetik jetzt – durch Setzung seines Gegenstandes selber –, in einer gigantischen, endgültig und restlos rücksichtslosen Anstrengung zu seiner eigenen Erübrigung anzutreten.

So unterschiedlich diese Begriffe aber auch erscheinen mögen, so wirklich identisch, in Vorgehen und Absicht, sind sie doch. Die Tatsache der Zerstörung gegebenen Naturstoffs, passiv mitansehend oder gar aktiv eingreifend – an welcher Stelle, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Ausmaß auch immer –, ist ihnen ebenso gemein wie Grund und Absicht ihres Handelns: verändern, um in Wahrheit beizubehalten, reformieren, um zu konservieren, neu zusammensetzen, um im Prinzip zu erhalten, kurz: an jeder erdenklichen Stelle einzugreifen, um den Eingriff in die zerstörerische Vergesellschaftungsform zu verhindern, die in Erkrankung sich ausdrückende gesunde Reaktion zu pathologisieren, um der Pathologie der Gesellschaft zur Unkenntlichkeit und dadurch zur Dauerhaftigkeit zu verhelfen.

Durch die Entwicklung ihres Gegenstandes und Begriffs mit der Erkenntnis der Unangemessenheit und dem daraus resultierenden Versagen ihres naturwissenschaftlichen Instrumentariums konfrontiert, kann die Medizin jetzt aber nicht länger leugnen, daß ihr im Versuch der Resurrektion dieses Begriffs durch die moderne Genetik ausgesprochen und vollkommen bewußt nicht Erkenntnis und mit Erkenntnisanspruch auftretender Wissenschaftszusammenhang, sondern derjenige reale Zusammenhang wichtig ist, der der Beibehaltung des als verfehlt und unrichtig erkannten naturwissenschaftlichen Konstruktes zur Selbsterhaltung bedarf, und ihr also nicht die im Vorgang der Erkenntnis zu identifizierende, weil zu legitimierende, und das heißt allgemeine Subjektivität von Bedeutung ist, sondern sie sich eben nur bezieht auf eine solche Subjektivität, zu deren Überleben, gerade umgekehrt, die Verdrängung und Leugnung des – eben gerade alles anderen als allgemeinen und eben deshalb nicht zu legitimierenden – Subjekts am Erkenntnisprozeß die nötige Grundlage ist – so gegen alle längst getätigte bessere Einsicht der letztere, der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozeß, wie der erstere, der reale Zusammenhang, auch sein mögen.

Im naturwissenschaftlichen Konzept das Subjekt allseits verdrängend, ist es in Gestalt der schier unendlichen Subjektivität der konsequent weitergeführten Naturwissenschaft wiedergekehrt, in der bloßen Willkür und der objektlosen Banalität einer Operation, in der das “zu Erkennende” reines und restloses, pures und rückstandsloses Konstrukt des “Erkennenden” zu werden droht.

Wissenschaft ohne Gegenstand ( eine psychotische, wahnsinnige, eine irre Institution.

Anmerkungen

[ 1 ] W. Doerr, Über den Krankheitsbegriff ( dargestellt am Beispiel der Arteriosklerose, Heidelbert 1989, S. 37.
[ 2 ] W. Doerr, Über den Krankheitsbegriff …, S. 37 (Hervorhebung M. S.-W.).
[ 3 ] W. Doerr, Über den Krankheitsbegriff …, S. 37.
[ 4 ] W. Doerr, Über den Krankheitsbegriff …, S. 64 (Hervorhebung M. S.-W.).
[ 5 ] Alle Zitate dieses Absatzes: M. Blohmke, U. Keil (Hrsg.), Gesundheit, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Stuttgart 1979, S. 34, 35, 37.
[ 6 ] M. Blohmke, U. Keil (Hrsg.), Gesundheit, Krankheit …, S. 36.
[ 7 ] Gesundheits- und sozialpolitische Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft, beschlossen vom Deutschen Ärztetag 1980 in Berlin.

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