Diethard Behrens (hg.) – Geschichtsphilosophie (Leseprobe)

Geschichtsphilosophie
oder das Begreifen der Historizität

Diethard Behrens

Angesichts postmoderner Befindlichkeiten auf der einen Seite und der Präsentation naturgemäßer Ordnungen in Politik, Sozialem, Technik und Ökonomie auf der anderen scheint es unangemessen, über Geschichte zu debattieren. Die apostrophierten Befindlichkeiten der Individuen indes, wenn man den postmodernen Theorietypus verläßt, erscheinen bei näherem Hinsehen als durch zahlreiche, stereotypisierte individuelle Handlungsmuster bestimmt, die implicite auf eine hinter diesen Unmittelbarkeiten liegende “Struktur” verweisen; die in Rede stehenden naturgemäßen Ordnungen, die man in einigen Wissenschaften, zur Zeit vorab in der Biologie, vorzufinden meint, um sie als Muster auf alle anderen Wissenschaften, die Ökonomie und die Politik zu übertragen, lassen sich bei genauerer Betrachtung als naturalisierte Momente eines anderen Zusammenhangs entschlüsseln, den zu erkennen die Begrifflichkeit verloren gegangen scheint. Die historische Perspektive steht, da sie die Genesis im Auge hat, dazu quer. Es gibt Geschichtsmodelle, in denen physikalische Zeit auf “Geschichte” zu übertragen gesucht wird, und der eine oder andere Theoretiker operiert mit einem Bild von Geschichte, die von einer kausalen Kette von Ereignissen durchzogen vorgestellt, als Beispiel eines historischen Determinismus gelten soll. Dem entgegen steht etwa die postmoderne Geschichtsphilosophie, die, im Anschluß an Rortys “linguistic turn” [ 1 ] die Historik wesentlich als eine durch nur ästhetische Relevanz in Anspruch nehmenden Metaphern bestimmte “narratio” erachtet sieht, [ 2 ] Sprache in einer Umdrehung des abbildtheoretischen Reflexes als Instrument der Konstruktion von Wirklichkeit begreift, und in ihrem radikalen Subjektivismus die Geschichte in die unendliche Menge individueller Erlebniskontingenzen aufzulösen sucht und in der Identifizierung von historischer und fiktionaler Erzählung den besonderen Inhalt “Geschichte” sowohl leugnet als auch die historische Forschung in einem erkenntnistheoretischen Relativismus enden läßt, damit die Aporien des Skeptizismus sich einhandelnd. Zu beiden Ansätzen, dem deterministischen wie dem postmodernen steht der Gegenstand “Geschichte” merkwürdig quer. Betrachtet man die Erfahrungen, wie sie individuelle Biographien dokumentieren, so ist das daran Kontingente wichtig und randständig zugleich. Die unterstellten Linearitäten, die von einem historischen Determinismus propagiert werden, werden an vielen Stellen durchbrochen, wo das Handeln der Individuen, Gruppen und Kollektive geltend gemacht wird, so daß die Zeitreihe als lineare sich nicht mehr vorstellen läßt. Hat die postmoderne Historiographie also – nicht in bezug auf ihren Gegenstand, aber auf ihre Wissenschaft – doch recht? Ist daher in der Perspektive historischer Betrachtung von einem erkenntnistheoretischen Relativismus auszugehen?

Die Frage, um was es denn bei dem, was wir Geschichte nennen, gehe, welchen Status man der Historik als Wissenschaft einzuräumen gedenkt, wie ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften zu diskutieren, wie sie einerseits von diesen unterschieden, wie diese aber andererseits selbst auch historisch strukturiert sind, verlangt einen Begriff von Geschichte. Die Historik unterstellt mit Gründen, daß das Handeln der Menschen selbst sich als Erfahrung in der Zeit darstellt und schließt, daß die Betrachtung der Struktur der historischen Wissenschaft sich mit der Erfahrung der Geschichte im Alltagsleben analogisieren lasse. Die Forderung nach einem adäquaten Geschichtsbegriff gilt erst recht, wenn man die in bestimmter Perspektive als zentral erachteten Strukturmomente der Gesellschaft zu betrachten strebt, die ökonomisch-sozialen Verhältnisse.

Hier hatte die Marxsche Theorie ihren Ort. Aber die Probleme der allgemeinen Geschichtswissenschaft haben sich an dessen Theorie dupliziert. Eschatologische Perspektiven, nicht zuletzt an die Zusammenbruchstheorie geknüpft, ebenso wie die Erwartung eines allgemeinen Humanismus schienen sich am gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Pragmatismus zu brechen, wie die Rezeptionsgeschichte des Marxismus in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zeigt. Der politische Attentismus war zugleich mit Heilserwartungen und Geschichtsmechanik verknüpft. Die Debatten der zwanziger Jahre haben diese Konfrontationslinie nur wenig verschoben. Zudem, so sah es aus, koinzidierten die entsprechenden Positionen mit politisch-fraktionellen. Das galt indessen nur bedingt. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ist virulent geworden, daß in bezug auf die Interpretation der Marxschen Theorie, soweit die historische Perspektive thematisiert worden war, [ 3 ] eine fruchtbare Debatte ausgeblieben ist. Hier scheint nach wie vor Ungeklärtes zu überwiegen. Sieht man sich etwa die Diskussion über die Fragen an, ob Marx einer Evolutionstheorie angehangen habe, ob er ein mechanischer Materialist geblieben sei, ob die Dialektik nur die logifizierte und von allen Zufällen gereinigte Form der Geschichte sei und die Einheit der logisch-historischen Methode wie auch die einer Theorie der Menschheitsentwicklung garantiere, ob die Marxsche Geschichtstheorie der letzte Rest der Hegelschen “Metaphysik” sei und daher von dieser “wissenschaftlich” gereinigt werden müsse, so wird deutlich, daß eine Debatte über die Theorie der Geschichte seit langem anstand.

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Es ist offensichtlich, Marx als eminent historischer Denker steht quer zu dem Zeitgeist eines sich unter vielen unterschiedlichen Etiketten präsentierenden Funktionalismus in den verschiedenen Wissenschaften. Das macht zugleich die Attraktion seiner kritischen Perspektive auf Geschichte aus. Die hier versammelten Beiträge nehmen in unterschiedlicher Weise die Stränge historischer Betrachtung auf, konzentrieren sich dabei zu einem Teil auf Marx, zum anderen auf Ergebnisse anderer Wissenschaften.

Der hier vorgelegte Band enthält Aufsätze, die aus Vorträgen auf dem Marx-Colloquium hervorgegangen sind. [ 4 ] Zentrum der Auseinandersetzung ist die Frage, ob die Marxsche Theorie als Entwurf einer Utopie anzusehen sei, einer Utopie, die sich historisch präsentiere als eine “Geschichtsphilosophie” oder ob Marx von vornherein als Kritiker aller Geschichtsphilosophie hervortrete.

Wird er als Propagandist einer geschichtsphilosophischen Utopie verstanden, so ergibt sich die Frage, ob an dieser Utopie festzuhalten ist, oder ob sie als unwissenschaftlich verworfen werden soll und es daher gilt, die “wissenschaftlichen” Teile aus dem Steinbruch seiner Theorie zu bergen.

Sieht man in Marx dagegen vor allem den Kritiker eines geschichtsphilo-sophischen Ansatzes, hat man sich dem Problem zu stellen, welchen methodischen und inhaltlichen Stellenwert die Marxschen Passagen zur Geschichte in der Kritik der politischen Ökonomie haben, in welchem Zusammenhang die explizit historischen Schriften zu verorten sind und welche Bedeutung jenen Textstellen zukommt, die prima facie als Utopismen gelesen werden. Es gilt also, die spezifische Geschichtstheorie bei Marx zu fassen, für die das Herstellen der Historizität Bedingung ist der Möglichkeit des Begreifens und daher der Kritik des bürgerlichen Horizonts.

Dieser Band erscheint als erster der Reihe “Debatten über Marx”, die die verschiedenen Thematiken des Marx-Colloquiums wie Wert-, Kapitaltheorie, Wirtschaftspolitik und Philosophie beim jungen Marx in unregelmäßiger Folge präsentieren wird.

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In dem Beitrag “Diskussionen gegen den Zeitgeist” (Kornelia Hafner) wird über die Diskussionen der Marx-Colloquien von ihren Anfängen an berichtet. Die ersten Debatten drehten sich um die Marxsche Wert- und Geldtheorie. Einen weiteren Schwerpunkt bildete das Thema “Geschich te und Geschichtsphilosophie bei Marx”, das in diesem Band thematisch ist. Die folgenden Colloquien beschäftigten sich mit der Frage der Marxschen Methode, dem Stellenwert quantitativer Beispiele und quantitativer Momente in seiner Argumentation.

Die Debatte um die Frage, ob Marx als Geschichtsphilosoph zu verstehen sei, wird in vier Thesen von Christoph Lieber und Axel Otto angegangen. Warenproduktion als bewußt-unbewußte historische Veranstaltung werde zum Gegenstand gesellschaftskritischer Reflexion nicht erst bei Marx. Dessen Theorie komme jedoch eine Schlüsselfunktion zu sowohl hinsichtlich der Vergangenheit wie zur Analyse der Gegenwart. Wissenschaft und Common Sense seien die Pole, die auch für ein Theorie-Praxis-Verhältnis von Bedeutung seien.

Thomas Seidl präsentiert einen Problemaufriß zur materialistischen Geschichtstheorie. Es sei nicht eine geschichtsphilosophische Verelendungstheorie ins Zentrum zu stellen, sondern die Frage, was den Kern einer solchen Theorie der Geschichte denn ausmache. Bei Marx sei sie als Theorie sozialer Emanzipation konzipiert und eingebettet in den Zusammenhang der Darstellung der großen Industrie.

Helmut Reichelt erörtert das Verhältnis von Psychologie und dialektischer Methode in der Marxschen Ökonomiekritik. Diese Perspektive soll einen Zugang zum Spezifischen des Marxschen Methodenverständnisses eröffnen. Dabei wird davon ausgegangen, daß Marx seine Methode zunehmend versteckt habe. Es wird hervorgehoben, daß Marx sich als Theoretiker auf einem “weltgeschichtlichen Kulminationspunkt” stehend begriffen habe, er also die Perspektive des absoluten Wissens einnehme, und in diesem Sinne seine Theorie “eminent Geschichtsphilosophie” sei. In den Grundrissen trete die Dialektik der Argumentationsfiguren deutlich hervor. In den späteren Schriften ließe sich Entsprechendes nicht mehr erkennen. Dies sei psychologisch zu erklären im Zusammenhang der Enttäuschung über die ausgebliebene Revolution angesichts der Krise von 1858.

Michael Heinrich vertritt die Position, es finde sich sehr wohl Geschichtsphilosophische in den Marxschen Schriften. Spekulatives Geschichtsdenken sei dadurch bestimmt, daß Geschichte als eine Vergangenheit und Zukunft einschließende Totalität gedacht werde. Impliziert seien auch die Annahmen über omnihistorische Kräfte, Gesamterkenntnis der Totalität Geschichte, und über die Geschichte als Entwicklung. Von daher lasse sich der eigene (Marxsche) Standort der Betrachtung, der seinen Platz habe in einem bestimmten Abschnitt dieser Entwicklung, als privilegierter Ort der Erkenntnis auffassen. Die Marxsche Geschichtsphilosophie sei aber für die Kritik der politischen Ökonomie nicht konstitutiv. Die entsprechenden geschichtsphilosophischen Mystifikationen gelte es daher im Namen einer die Marxsche Theorie reinigenden Wissenschaft zu kritisieren.

Martin Blumentritt merkt dagegen zum “Problem von Freiheit und Determinismus” an, Geschichte könne aus der Konzeption deterministischer Perspektive herausgelöst werden. Da die Rede von der Notwendigkeit einer Sache stets auf einen von dieser unterschiedenen Gehalt verweise, sei eine auf dem Funktionalismus aufsitzende Widerspiegelungstheorie unmöglich. In den Naturwissenschaften seien nur partikulare Funktionszusammenhänge formulierbar. Die Politische Ökonomie hingegen sei auf Abstraktion und Gedankenexperiment gegründet. Geschichtstheorie müsse sich auf die Erforschung der Bedingungen analog zu den Randbedingungen im Experiment konzentrieren. Bedingungen und Gesetz von Transformationen seien als unterschiedene Momente in einen Kontext eingespannt, der offen.

Thomas Schweier untersucht “Geschichtliche Reflexion bei Marx” und kommt zu der Auffassung, diese weise Geschichtsphilosophisches ab, seine Theorie sei eminent Geschichtstheorie, d.°h. Theorie eines offenen Verlaufs sozialer Entwicklung. Auch die kapitalistische Gesellschaftsformation könne nicht begriffen werden als eine durch einen spezifischen Determinismus unterlegte. Eine teleologische Geschichtskonstruktion wird ausgesprochen kritisiert. Historische Handlungen werden vollzogen, aber unter bestimmten Bedingungen. Daher reflektiere die Marxsche Geschichtsbetrachtung den Gegenwartsstandpunkt. Letzterer aber sei nur als Selbstkritik präsent. Das verweise auf Methodenprobleme.

Vor diesem Horizont der Reflexion auf Voraussetzungen und prozessierende Widersprüche diskutieren Thomas Gehrig und Kornelia Hafner den Abschnitt “Historisches über das Kaufmannskapital”. Das als Verkehrung bestimmte Verhältnis von Handelskapital zum “Kapital im eigentlichen Sinne” – die Formen, die als frühere erscheinen, erweisen sich als abzuleitendes Resultat derer, die als spätere erscheinen – verdeutliche die Perspektive Marxscher Fragestellung. Historie wird von der Darstellung der “Kritik der politischen Ökonomie geschieden und doch systematisch hineingenommen. Von daher verböten sich Lesarten, die sich an Engels’ Konstruktion vom Logisch-Historischen orientierten, solche die ein Korrespondenzverhältnis von Gesellschafts- und Geschichtstheorie oder eine Geschichtsmechanik von Produktivkräften und Produktionsverhältnisses behaupteten ebenso wie eine formationstheoretische oder strukturtheoretische. Marx’ kritischer Geschichtsbegriff sei solchem epochalisierenden Denken entgegengesetzt. Selbstaufklärerische Begriffskritik eröffne den Weg zur Einsicht in eine prinzipielle Historizität, d.°h. Offenheit realer Formierungsprozesse.

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Die hier präsentierten Beiträge umreißen nicht nur Probleme der Marx-Rezeption, betreffend das “Historische”, sie verweisen auch auf die Frage nach einem Theorietypus, der den Zugang zu Aussagen über Realität qua Kategorienkritik zu leisten beansprucht und zugleich den historischen Prozess als Voraussetzung von Begriffsentwicklung mitreflektiert.

Horkheimer hat in den dreißiger Jahren die Frage gestellt, “ob eine von der Geschichtstheorie verschiedene allgemeine Anthropologie möglich” [ 5 ] sei. Er verneint dies mit dem Argument, die Vorstellung einer ausdenkbaren Totalität sei selbst noch idealistisch. Hinzu komme, so beurteilt er die Diskussion seiner Zeit, diese Sache verkomplizierend auch eine “Unklarheit über die dialektische Methode”. [ 6 ] Er plädiert für die Idee einer unabgeschlossenen Dialektik, die von der Idee getragen sein soll, daß jede Theorie in die Geschichte eingezogen sei. “Der Unterschied zwischen abgeschlossener und unabgeschlossener, metaphysischer und historischer, idealistischer und materialistischer Dialektik kommt u.°a. darin zum Ausdruck, daß bei der metaphysischen Anwendung der Dialektik nicht bloß die von ihr erreichte theoretische Struktur, sondern auch ihre eigenen Gesetze hypostasiert werden. In der Dialektik, welche die Geschichte nicht überspringt, wird jedoch erkannt, daß die bestimmten Methoden und Darstellungsformen bestimmten Gegenstandsbereichen angepaßt sind und mit deren Veränderung selbst verändert werden.” [ 7 ]

Dies zu fassen hat die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos nicht wirklich vermocht, nicht zuletzt, weil eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem, was man für “materialistische Dialektik” hielt unterblieb. Die hypostasierte Historizität des Gesellschaftlichen mittels immanenter Kritik zu erschließen blieb Programm. Will man die Frage weiter verfolgen, wie dieses einzulösen sei, so ist die hier begonnene Diskussion fortzusetzen.

Anmerkungen

[ 1 ] Cf. R. Rorty (Ed.), The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method, Chicago 1967.
[ 2 ] Cf. F. Ankersmit, “Historiography and Postmodernism”, in: History and Tropology, 162-182; id., “The Origins of Postmodernist Historiography”, in: J. Topolski (Ed.), Historiography between Modernism and Postmodernism, Amsterd am 1994, 87-119, H. White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973. Zur Kritik cf. Paul Ricœur, “Geschichte und Rhetorik”, in: H. Nagl-Docekal (Ed.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a.°M. 1996, 197-226, Ch. Lorenz, “Postmoderne Herausforderungen an die Gesellschaftsgeschichte?”, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 617-632.
[ 3 ] Annäherungen finden sich bei Backhaus, Rosdolky und Wygodski.
[ 4 ] Die Marx-Gesellschaft Hamburg e.°V. veranstaltet zweimal jährlich ein Colloquium, auf dem zu thematischen Schwerpunkten der Marxschen Theorie Debatten stattfinden.
[ 5 ] Max Horkheimer, Brief an Adolph Lowe vom 23. Oktober 1936, in: Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt a.°M.1995, 693.
[ 6 ] Max Horkheimer, Brief an Theodor Adorno vom 14. November 1936, ebd., 722.
[ 7 ] Max Horkheimer, Brief an Henryk Grossmann vom 1. Oktober 1935, ebd., 405.

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