Martin Büsser – Gesundheit als Anpassung * Rezension Carl Wiemer, Kriminalität und Krankheit

Martin Büsser

Gesundheit als Anpassung

Treffen sich Horkheimer und Foucault beim Arzt …
Carl Wiemer betrachtet die Medizinkritik in der Kritischen Theorie

Die Kritische Theorie ist bislang selten mit einer Kritik an den Ärzten und der Medizin in Zusammenhang gebracht worden. Dieses Verdienst wird in der Regel den Philosophen der nachfolgenden Generation zugeschrieben, etwa Gilles Deleuze und Felix Guattari (»Anti-Ödipus«), vor allem aber Michel Foucault. Die Linke ging stellenweise so weit, zwischen Kritischer Theorie und den Schriften Foucaults einen Paradigmenwechsel zu konstruieren: Seit den Achtzigern mehrten sich die Stimmen, die in der Kritischen Theorie einen veralteten Hegelianismus ausmachten, eine verzweifelt um die Versöhnung des einzelnen mit dem gesellschaftlichen Ganzen ringende Utopie auf idealistischer Basis. Foucaults Machtkritik galt demgegenüber als konkreter, an faßbarer Unterdrückung orientiert, etwa an den Ausgrenzungsmechanismen in Gefängnissen, Hospitälern und der Psychiatrie. Carl Wiemers schmales, aber ertragreiches Buch »Krankheit und Kriminalität« hilft nun, das Ungenaue und Pauschale dieser Lesart zu korrigieren.

So war es gerade Max Horkheimer, der in beinahe Foucaultschem Duktus während der Studentenunruhen notierte, daß der einzelne sich nicht um Politica, »an denen er ohnedies nichts ändern kann, sondern sich um die Verbesserung der Krankenhäuser, der Irrenanstalten, der Schulen, der Wohnungen, der Gerichte, der Gefängnisse« kümmern solle. Dieser Äußerung kann zwar widersprochen werden – jede Verbesserung der Institutionen setzt eine fundamentale Kritik, nämlich die am Kapitalismus, voraus –, sie zeigt jedoch offenkundig, wie falsch der Mythos ist, Horkheimer habe auf die Studentenunruhen nur mit der Ignoranz eines Apolitischen reagiert.

Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht.

Was die Kritische Theorie hier mit dem Denken Foucaults verbindet, ist die radikale Infragestellung des Begriffs Gesundheit. Das geflügelte Wort von der »Gesundheit zum Tode« (Adorno) deutet an, daß sich Kritische Theorie auf die Seite der Kranken und Schwachen stellt, da ihr Gesundheit zum Synonym für Anpassung geworden ist, die sowohl auf den Geist wie auf den Körper zielt. Die Definition, wer als gesund gelten darf, wird von den Medizinern rein biologistisch beantwortet – und zwar innerhalb eines Denkmodells, das den Patienten auf den Status eines Tieres reduziert: »Die Ermordung der Irren«, eine Entscheidung unter »medizinischen« Vorzeichen, sieht Wiemer daher als ersten entscheidenden Schritt zum Holocaust an. Anhand der faschistischen Schriftsteller und Mediziner Benn und Céline schrieb Walter Benjamin an Max Horkheimer, daß es wohl so etwas wie einen »spezifischen ärztlichen Nihilismus gibt«, eine rohe, gefühllose Kälte, die alles Leid aufs bloß Anatomische reduziert.

Von dieser Benjaminschen Annahme ausgehend, betrachtet Wiemer die Rolle der Medizin unter den Nazis, in der die medizinische Gleichsetzung von Menschen und Tieren zum Fundament einer staatlichen Ideologie erhoben wurde, und zeigt, wie sich an diesem Denken auch nach dem Zweiten Weltkrieg nichts geändert hat. Als verschworene »Rackets« halten die Mediziner stärker als jede mafiose Vereinigung an ihren unter den Nazis gewonnenen Privilegien fest, etwa dem Grundsatz »der Arzt darf in Gegenwart von Patienten nicht kritisch über Kollegen urteilen« (Auszug aus dem bis heute geltenden Katalog der ärztlichen Berufsordnung). Horkheimers Kritik gipfelt in der Bemerkung, daß der Arzt geradezu ein Interesse daran hat, »daß ein Mensch, der krank ist, gesund wird, jedoch keines, daß er gesund ist und nicht krank wird«. Schon alleine aus ökonomischen Gründen kann Medizin kein Interesse am längerfristig gesunden Patienten haben. Lange bevor Foucault davon schrieb, daß die größten Zeugnisse einer Kultur von ihren Geisteskranken ausgingen, hatte die Kritische Theorie bereits Krankheit gegen das Denkschema der Ärzte neu definiert. So heißt es bei Adorno schon in der »Minima Moralia«, »daß die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht«. Insofern gibt es nur einen Weg, gesund zu bleiben: die Kritik. Sie macht zwar nicht gegen Schnupfen, aber vielleicht gegen Ärzte immun.

junge Welt vom 14.01.2002

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