Markus Bitterolf – Deutschlands Griff nach Südosteuropa * Rezension zu: Klaus Thörner, “Der ganze Südosten ist unser Hinterland”

Markus Bitterolf

Deutschlands Griff nach Südosteuropa

Wischiwaschi – dieser Ausdruck eignet sich recht gut, um den Inhalt von “Vorbild Europa und die Modernisierung in Mittel- und Südosteuropa” zu charakterisieren. Der Band versammelt Beiträge einer Konferenz, die 2005 im rumänischen Iasi mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Goethe-Zentrums veranstaltet wurde. Thematisch geht es um die Art der Auf- beziehungsweise Übernahme westeuropäischer Vorbilder und Modelle im 19. und 20. Jahrhundert in Ungarn, Bulgarien, Kroatien, der Slowakei und Rumänien.

Die theoretische Klammer der Aufsätze kann am ehesten als abgespecktes Modernisierungsparadigma gefaßt werden. Neben so unterschiedlichen Beiträgen wie “Das Postwesen als Modernisierungsfaktor in der Krain” oder das Verhältnis der rumänischen Kirche zum Säkularisierungsprozeß finden sich in dem Band nicht nur viele unkritische Passagen über den Charakter kapitalistischer Modernisierung, sondern auch ein genereller Tenor, der das “Projekt” der “europäischen Integration” theoretisch legitimieren will. Zur deutschen Außenpolitik, die wirtschaftspolitisch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle in Mittel- und Südosteuropa gespielt hat, erfährt man wenig Erhellendes. Das ist nicht nur der recht speziellen Themenauswahl geschuldet, vielmehr drängt sich der Eindruck auf, als handele es sich hierbei um ein bewußtes Ausklammern. Denn sonst müsste die lange Geschichte der “Europäisierung”, die bis zum heutigen EU-Integrationsprozess reicht, in einem anderen Licht dargestellt werden.

Wie affirmativ und unkritisch der Band letztlich ist, wird im Kontrast zum luzide geschriebenen Buch von Klaus Thörner deutlich. Thörner analysiert in “Der ganze Südosten ist unser Hinterland” Geschichte und Konzeptionen deutscher Macht- und Wirtschaftspolitik gegenüber den Ländern Südosteuropas, vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Deutlich zeigen sich hierbei die Kontinuitäten in Ideologie und Politik deutscher Kreise – von Politikern über Unternehmensverbände bis hin zum Militär. Zudem konnten die Eliten auf einen antislawischen Konsens in der deutschen Gesellschaft bauen.

“Der ganze Südosten ist unser Hinterland” ist eine Forderung, die Friedrich List, einer der Begründer der deutschen Volkwirtschaftlehre, schon 1840 aufstellte. Sie muß rückblickend als anhaltende Projektion, als ideologische Zielsetzung deutscher Außenpolitik verstanden werden: als zu gewinnender “Lebensraum”, wie sich der Geopolitiker Friedrich Ratzel bereits 1901 ausdrückte, und als ökonomischer Teil “Mitteleuropas” im Sinne des lsquo;liberalen‘ Nationalisten Friedrich Naumann. Wenig später galt Südosteuropa als geopolitische “Ergänzungswirtschaft” eines nationalsozialistisch beherrschten Europas, das es – dem antisemitischen Wahn gemäß – gegen das “internationale Judentum” zu verteidigen galt. Thörner ist eine quellen- und aufschlußreiche Arbeit durch ein Jahrhundert deutscher Südosteuropapläne gelungen, der viele LeserInnen zu wünschen sind.

Aus:Blätter des IZ3W N° 318 (Mai/Juni 2010)

Trennmarker