Detlef Kannapin – Politische Dämonologie * Rezension zu: Stein, Adolf Hitler

Detlef Kannapin

Politische Dämonologie

Im Jahre 1936 erscheint im Karlsbader Graphia-Verlag eine übersichtliche Schrift mit einem merkwürdigen Titel. Adolf Hitler wird darin als Schüler der »Weisen von Zion« bezeichnet. Die Hauptthese des Buches lautet, daß der Führer der NSDAP sein als Bekenntnisbuch apostrophiertes Elaborat »Mein Kampf« zu großen Teilen aus der berüchtigten Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, den sog. »Protokollen der Weisen von Zion«, abgeschrieben hat. Der Autor Alexander Stein, ein baltischer Sozialdemokrat, untermauert seine Behauptung ausführlich mit entsprechenden Abgleichungen und Gegenüberstellungen aus beiden Pamphleten und läßt keinen Zweifel daran, dass das politische Programm des deutschen Faschismus zwangsläufig auf Krieg und Vernichtung hinauslaufen muß, wobei es dazu für die Nazis einer passenden Begründung bedarf, die als schwer nachprüfbares Konglomerat anhand der anorganischen Verschwörungsphantasie von Zuschreibungen aus Begriffen wie Judentum, Bolschewismus, Finanzkapital und Plutokratie erfunden wird.

Seit ihrem ersten Auftauchen Ende des 19. Jahrhunderts avancieren die »Protokolle« bei den Antisemiten aller Länder zum strategischen »Beweis« für das angebliche Streben nach Weltherrschaft durch ein imaginiertes »Weltjudentum«. Sogleich werden die dort niedergelegten Handlungsanweisungen als Leitfaden für die eigene antijüdische Politik verwendet. Immerhin ist der Ausgangspunkt ja die Fälschung, so daß daraus im Handumdrehen »gerechtfertigte« Realität werden kann. Der deutsche Nestor des präfaschistischen Judenhasses, Theodor Fritsch, bemerkt in seinem Nachwort zur Ausgabe der »Protokolle« von 1933, dass sie für die NS-Politik »eine vortreffliche Vorschule« bilden und man »bei den Generalspitzbuben aus dem Orient in die Lehre zu gehen« hat. Auch Stein und nach ihm Hannah Arendt konstatieren ernüchtert, daß es gar nicht darauf ankommt, ob die »Protokolle« echt sind, sondern nur, ob sie als echt empfunden werden.

Dankenswerterweise hat der ça ira-Verlag in Freiburg die Untersuchung von Stein neu ediert und mit einem ausführlichen Nachwort versehen, das selbst ein kleines Buch im Buch darstellt und in wesentlichen Zügen den Werdegang von Autor und Schrift rekonstruiert. Auch wenn die kontextuelle Einordnung im Nachwort von Lynn Ciminski und Martin Schmitt sich eher an ähnlich textkritischen Parallelwerken zu »Mein Kampf« orientiert, ist doch nach der Lektüre die Schlußfolgerung erlaubt, daß sich Steins Arbeit mit weitsichtigen zeitgenössischen Abhandlungen zu Fragen der NS-Ideologie wie denen von Karl Kraus, Georg Lukács oder Hans Günther durchaus messen läßt. Hier wie dort war allerdings der Verbreitungsgrad der Schriften sehr gering, und das generelle Desinteresse an grundlegender Aufklärung über die wesentliche Essenz des deutschen Faschismus, Europa und die Welt mit einem imperialistischen Eroberungskrieg zu überziehen, ist auch unter Berücksichtigung der zeitbedingt höchst schwierigen Umstände für damalige antifaschistische Gegenwirkungen aus heutiger Sicht immer noch sehr bedenklich.

Obgleich sich Steins Argumentation nahezu ausschließlich auf die Äußerungen des NS-Führungspersonals stützt und dabei soziologische, ökonomische und sozialpsychologische Aspekte entweder gar nicht oder nur am Rande behandelt, sind die Ergebnisse seiner phänomenologischen Analyse immer noch erkenntnisreich. Insbesondere ist Stein schon Mitte der 1930er Jahre klar, wofür die aggressive Innenpolitik des »Dritten Reiches« gegen jede Form politischer Abweichung von der »völkischen Staatsauffassung« als Steigbügel dient. Deutschlands Pogrompolitik in Permanenz ist nur erklärbar, so Stein, wenn das außenpolitische Konzept von Hitler und Konsorten ernstgenommen wird: Krieg nach Osten, Schaffung von Lebensraum auf Kosten der slawischen Länder, ökonomische Ausplünderung, staatlich sanktionierter Mord. Einzig aus diesen Gründen legt sich das NS-System eine im Inneren kostspielige und durchaus kontraproduktive Klassenpolitik auf, die, wie Alfred Sohn-Rethel gleichzeitig diagnostiziert, einen Rückfall in die Barbarei der Produktion des absoluten Mehrwerts vollzieht und zu diesem Zweck den jüdischen Bruchteil der deutschen Bevölkerung als Kollektivsubjekt aller Gebrechen der neuzeitlichen Geschichte vorführt.

Letztendlich entscheidend ist für Stein, daß das NS-Konstrukt einer »jüdisch-marxistischen Weltherrschaft« auf dem Fundament der Reaktion gegen jegliche Emanzipationsbestrebungen beruht und dass es daher in einer langen konterrevolutionären Tradition steht. Für Alexander Stein ist evident, dass der Nationalsozialismus ohne originelle Idee existiert und seine geistigen Produkte einer politischen Dämonologie entsprechen, die absoluter Ausdruck kleinbürgerlicher Weltwahrnehmung sind. Allein wegen dieses Fazits ist die Neuentdeckung des Buches lohnend.

Aus: Antifa. Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Kultur und Politik, 7-8/2012

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