Udo Wieschebrink – Der Geist des Widerspruchs * Rez. des 2. Bandes von ”Der Geist des Widerspruchs

Udo Wieschebrink

Der Geist des Widerspruchs

Was dem Autoren am meisten missfällt, ist die Tilgung des Widerspruchs aus neoliberaler Gesellschaft und Politik. Der in dieser globalisierten Weltanschauung erkenntnisleitende und handlungsorientierte Imperativ lautet: “Anpassung an undurchschaubare, irrationale Verhältnisse” (7). Die neoliberale Globalisierung erscheint als ein transzendentales Schicksal, gesellschaftliche Erinnerungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit ergänzen sich. Aber die Rationalität des Irrationalismus macht Sinn: “Wem das Bestehende das Unerkennbare ist, verleugnet die Möglichkeit, die Verhältnisse genetisch und utopisch zu transzendieren, um sie erkennen zu können.” (7). Es ist die gegenwärtige Gestalt der Dialektik der Aufklärung, in der kapitalistischer Wettbewerb, globaler Markt und automatisches Wachstum alles dauernd verändern, damit es beim Alten bleiben kann (siehe z.B. dazu Viscontis Film Der Leopard). F. A. Von Hayeks Behauptung von der “Anmaßung von Wissen” (Nobelpreisrede 1974) zielt auf alle ernsthaften vernunftbegründeten Veränderungsprojekte, die den immanenten, evolutionären Lauf der Geschichte bremsen und stattdessen bewusst und selbstbestimmt lenken wollen. Das ist die Herausforderung.

Stapelfeldts Absicht ist es, den Logos des Widerspruchsgeistes, die Dialektik, zu bewahren und zu schärfen. Das vollzieht er mit einer Kraftwanderung durch die Philosophiegeschichte. Im ersten Band (siehe dazu meine Rezension in Widerspruch, Nr.57) seiner mehrbändigen “Studien zur Dialektik) befasste er sich in der Hauptsache mit den Formen der Dialektik in der Entwicklung der Philosophie. Im vorliegenden zweiten Band geht es um “Utopia”. Das Wort stammt von Thomas Morus. Im Land Nirgendwo (ou topos) war noch niemand. Von Anfang an, seitdem diagnostiziert war, dass die Geschichte eine Schlachtbank oder eine Geschichte von Kriegen und Klassenkämpfen war, haben sich Sozialphilosophen mit der Beschreibung Utopias und der Kritik der bestehenden Welt befasst, um der Hoffnung einen Ort zu geben.

Die in diesem Buch betrachteten Utopien waren “nie ein subjektiv-willkürliches Hirngespinst, kein leeres Ideal, sondern die höchste Anstrengung des Begriffs” (12). Aber für Utopien gilt auch, “wo das utopische Bedürfnis die aufklärende Kritik überwältigt, resultiert rationalisierte Inhumanität” (12). Die philosophische Vorgehensweise lässt nur das zu, was die immanente Kritik durch die Betätigung dialektischer Vernunft herausarbeitet. Als vernünftig gilt hier, was nicht abstrakt dem Bestehenden kontrastiert wird, sondern an diesem freigelegt werden kann.

Der Autor arbeitet sich in fünf Kapiteln durch die Geschichte der Philosophie von mythologischen Utopien der Antike bis zum neoliberalen Antirationalismus. Durch die Nachzeichnung der Texte und in gründlicher und ausführlicher Textanalyse, könnte begriffen werden, sagt er, “wie es sich mit dem Bewusstsein des Bestehenden, der Erinnerung seiner Genesis und der vernunfbegründeten Hoffnung verhält, wie es um die Möglichkeit einer theoretischen und praktischen Kritik der versteinerten Verhältnisse steht” (13).

Hier nun einige Beispiele zur Verdeutlichung: Platons Utopie des gerechten Staates ist die erste große ausformulierte Utopie der europäischen Philosophie. Platons’ Aufklärung ist ein dialektischer , dialogischer Prozess; die Realisierung besteht in theoretischer Aufklärung und praktischer Bildung – ein Leben in höchster Einsicht, als Herrschaft der Vernunft in einem Vernunftstaat. In der Politeia erfolgt die Kritik nicht in der immanenten Aufklärung der Unvernunft des bestehenden Staates, sondern in der Form des Gegensatzes von Vernunft und Unvernunft.

Die aufklärerische Argumentationsweise Platons ist personifiziert durch Sokrates; sie geht von dem Bewusstsein aus, dass ein Wissen der “Sache selbst” so wenig unmittelbar zu erlangen ist wie ein “gutes Leben”. Beides bedarf der utopisch gerichteten Ideologiekritik, in der das Unbewusste (hier Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Sache selbst) aufgeklärt wird. Die übersinnliche Idee des “Guten” bei Platon ist das Apriori des vernünftigen und utopischen Staates. Für Stapelfeldt ist diese Utopie kritisch und dogmatisch zugleich: Sie ist göttlich, denn reale Staaten können der Idee der Gerechtigkeit nur nahe kommen, ohne sie je vollkommen zu erreichen, sie liegt jenseits des bloß menschlichen Lebens.

In der Geschichte der Philosophie sind in der Renaissance und im Merkantilismus die Staatsutopien von Morus, Bacon und Campanella durch Form und Inhalt stark an Platon orientiert. Auch Thomas Morus (1478-1535) beschreibt die beste Staatsverfassung. Seine Kritik der damaligen englischen Verhältnisse gilt der Herrschaft von Geld und Privateigentum. In seiner Utopia kommt man ohne Privateigentum und Geld aus, Grundlage ist ein gemeinschaftliches Leben und Arbeiten. Die Belange der Allgemeinheit sind vorherrschend, es werden nur lebensnotwendige Dinge für den Verbrauch hergestellt. Die Arbeit ist allgemeine Pflicht, sie beträgt 6 Stunden täglich. Verbrechen, wie das müßige Umherschweifen, werden mit Zwangsarbeit bestraft. Morus’ Utopia ist ein Reich der Arbeit, des allgemeinen Wohls, der Freiheit und Gleichheit, des ewigen Friedends und der Vernunft: das Reich Gottes auf Erden. Diese kontrastierende Kritik der englischen Verhältnisse – im Übergang vom Feudalismus zu Frühformen des Kapitalismus – beruht für Stapelfeldt auf einer Außenperspektive (der Blick vom Land Utopia auf die gegenwärtigen bzw. zeitgenössischen Verhältnisse). Es ist die utopische Konstruktion eines wahren und besseren Zustandes. In der Argumentationsweise Stapelfeldts heißt das: “So ist Utopia, weil das Bestehende unaufgeklärt blieb, von diesem noch okkupiert und dessen rationalistische Fortsetzung, nicht das Bild eines besseren und vernünftigen Zustandes” (88).

Auch die Frühsozialisten Owen, Saint-Simon und Fourier reagieren (in ihren Texten zwischen 1800 und 1845) auf die ökonomische, gesellschaftliche und politische Destruktivität ihrer Zeit mit dogmatischen und utopischen Konstruktionen von neuen Gesellschaftsformationen in der Form eines äußerlich-abstrakten Gegensatzes. Sie verwandeln die zweite Natur in eine erste Natur. Gesellschaftstheorie wurde von ihnen als Naturwissenschaft konzipiert: Die naturbeherrschenden Produktivkräfte treten in diesem Sinne angeblich in Widerspruch zu den unentwickelten Produktionsverhältnissen. Die “utopischen Sozialisten” Owen, Saint Simon, Fourier glauben, dass man ihre Systeme nur verstehen muss, um sie “als der bestmögliche Plan der bestmöglichen Gesellschaft anzuerkennen” (so Marx und Engels). Sie glauben, nicht nur die Beherrschten, sondern auch die Herrschenden überzeugen zu können. Ihre utopisch gerichtete Naturwissenschaft von der Gesellschaft, bleibt, so Stapelfeldt, auf dem Standpunkt des Warenfetischismus stehen. Aber sie können nichts dafür in dieser frühen Phase des liberalen Industriekapitalismus. Jede Aufklärung, weil sie sich auf ein existierendes gesellschaftliches Unbewusstes bezieht, vermag nur retroperspektiv in der “Dämmerung” zu agieren, sie ist nur in Zeiten der Krise zu formulieren, wenn das Aufzuklärende seine selbstverständliche Geltung verliert und schwankend wird (172). Gemäß Owen ruft die allgemeine Verbreitung der in seinen Schriften missionarisch propagierten technischen Rationalität, quasi automatisch, die Verwirklichung der Vernunft hervor. Und dieses Wissen soll dann das Land Nirgendwo – “ou topos” – organisieren. Seine wichtigsten Schriften sind Das Gesellschaftssystem (1826/27) und Das Buch der neuen moralischen Welt (1842/44).

Auch zu Saint-Simon konstatiert der Autor, dass sein Frühsozialismus deutlich von instrumenteller Rationalität geprägt sei. Seine zukünftige Gesellschaft und ihre Menschen sind eine Arbeits- und Indus triegesellschaft. “An die Stelle der Utopie (tritt) ein mit technisch-rationalen Mitteln produzierter Zweck. So gerät das Land Nirgendwo zum Alptraum eines europäischen Arbeitslagers, eines Friedens auf der Grundlage masochistischer Tätigkeit, eines sozialbiologischen Rassismus, einer imperialen Ausdehnung der repressiven Gesellschaft technischer Rationalität über die Welt … Diese Utopie bringt nicht die gesellschaftlichen Träume der Vergangenheit zur Geltung, sondern die Geschichte als Schlachtbank (Hegel).” (240)

Charles Fourier (1772-1837) nennt sein neues Land “Phalanstère”, es ist eine ländliche Assoziation. Er glaubt sich in der Lage, den Weg ans Licht zu weisen, aus seiner Theorie spräche der Logos Gottes. Auch hier ist der immer wieder von Stapelfeldt festgehaltene Denkfehler zu finden: Die Utopie wird methodisch in der Form des Gegensatzes gegen die bisherigen Gesellschaftsformen dargelegt. Das Kritisierende wird nicht aufgeklärt, “sondern bewusstlos reproduziert” (241). Fourier bezeichnet seine neue Lehre als “Wahrheit”, “Licht” und “Einheit”. Der utopische Zustand ist durch eine “universelle Harmonie” ausgezeichnet. In der Vernunft läge das Prinzip der gesellschaftlichen Zersplitterung, in der Natur hingegen das Prinzip der Eintracht.

Stapelfeldt sagt über die Frühsozialisten resümierend: Durch die Entgegensetzung der erträumten utopischen Verhältnisse gegen die schlechte Gegenwart verfehlen sie sowohl die Selbst- wie die Weltaufklärung. Der Frühsozialismus klärt nicht auf über die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Kritik und seiner Utopie, weil die Krise des Übergangs zum Imperialismus historisch noch nicht gegeben ist. Utopie erscheint als ein sozial-technisches, durch Technokraten zu lösendes Problem.

Als letztes Beispiel für die Argumentationslinie Stapelfeldts sei der neoliberale Antirationalismus Hayeks angeführt. Hayek hat nach den aufklärungsorientierten Theorien von Bloch, Horkheimer und Adorno das Ende aller vernunftsbegründeten Utopien verkündet. Er diagnostiziert die Unerkennbarkeit und Irrationalität des Ganzen der Gesellschaft und die Irrationalität des Geschichtsverlaufes. Der Neoliberalismus verfestigt und stilisiert das Unaufgeklärte, das es in der Dialektik der Aufklärung noch gab, zum Unaufklärbaren. 1944 veröffentlichte er The Road to Serfdom (“Der Weg zur Knechtschaft”), es ist der Weg von der französischen Revolution zum Sozialismus und zum Nationalsozialismus. Die zentrale rechtliche Institution des Neoliberalismus ist das “gewachsene Recht”, nicht bewusst gesetztes Recht; die zentrale ökonomische Institution ist der – von Hayek in Anlehnung an Darwins “Kampf ums Dasein” explizierte – Wettbewerb.

Heutzutage scheint die Aussicht auf eine weltverändernde Praxis , auf eine neue Gesellschaft nicht gegeben, bestimmte Entwicklungen deuten eher auf eine “konformistische Revolte” (Horkheimer). “Die theoretische Kritik des Neoliberalismus steht nicht im Kontext einer praktischen wie einst die Marxsche Kritik des klassischen Liberalismus …” (362)

Ein sehr lehrreiches und lesenswertes Buch, das hier nur in knappen Auszügen wiedergegeben werden konnte. Ohne Zweifel wäre es eine gute Grundlage für eine philosophisches Seminarveranstaltung über die Dialektik, den Geist des Widerspruchs und der Entzweiung in der Geschichte der Philosophie.

Widerspruch Nr. 59

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