Jérôme Seeburger – Insideranalysen eines Außenseiters

Jérôme Seeburger

Insideranalysen eines Außenseiters

Obgleich einige der hier versammelten Schriften in Deutschland bei Suhrkamp (1973) und Wagenbach (1992), in England (1987) und Italien (1978), den Niederlanden (1975) und Dänemark (1975) veröffentlicht worden sind, gerieten sie in Vergessenheit. Mit dem vorliegenden zweiten Band der Schriften Sohn-Rethels machen die Herausgeber nicht nur die Texte der beiden vergriffenen deutschen Ausgaben zugänglich, sondern sie veröffentlichen die erste Edition aller seiner Arbeiten zur politischen Ökonomie des Nationalsozialismus. Neben einem einleitenden Aufsatz Freytags zum biographischen Kontext und zur Rezeption der Schriften zeichnet sich die Ausgabe durch eine sorgfältige Kommentierung der einzelnen Texte, deren Nachweis, ein Glossar und ein Personenregister aus. Zu bemängeln ist lediglich das Fehlen einer Beurteilung der Analysen Sohn-Rethels vom gegenwärtigen Forschungsstand aus.

Diese verdienen nach wie vor in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit. Zuallererst aufgrund der Bedingungen ihrer Entstehung, die in der Einleitung Freytags und in Erinnerungen Sohn-Rethels dargestellt werden. Sohn-Rethels Analysen beruhen auf den Beobachtungen, die er während seiner von 1931 bis 1936 währenden Arbeit in Institutionen im Umfeld des Mitteleuropäischen Wirtschaftstags (MWT) gemacht hat: von 1931 bis 1934 als wissenschaftliche Hilfskraft beim MWT, von 1934 bis 1935 als Sekretär des Deutschen Orient-Vereins und 1935 als Geschäftsführer der Ägyptischen Handelskammer für Deutschland. Auf diesen Stationen erhielt er als marxistischer Intellektueller in Camouflage Einblicke in die Arbeit des MWT, die sonst nur den wirtschaftlichen und politischen Eliten vorbehalten waren. Diese Informationen über die Vermittlungsbemühungen des MWT, die auf den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der neuen technischen und chemischen Industriekonzerne und denjenigen der Schwerindustrie und der Großagrarier zielten, gab er im Rahmen seiner illegalen politischen Arbeit an kommunistische Untergrundgruppen weiter. Um sein geringes Gehalt aufzubessern, verfasste er in dieser Zeit zusätzlich Analysen zur deutschen Wirtschaftspolitik in Mittel- und Südosteuropa, die er in Publikationsorganen des MWT, den Deutschen Führerbriefen und dem Deutschen Volkswirt veröffentlichte. An die Sprache der Abnehmer angepasste Schreibarbeiten aus der Perspektive des deutschen Kapitals, die die erste Werkgruppe des Bandes ausmachen.

Eine dieser Arbeiten, eine Klassenanalyse mit dem Titel »Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus«, die er im September 1932 gemäß der Richtlinien der Führerbriefe anonym veröffentlichte, sorgte in der kommunistischen Bewegung für Aufsehen. Dieser spielte er den Aufsatz anonym zu, um sie vor der für die Rekonsolidierung des Kapitalismus notwendige und den Interessen der wirtschaftlichen Eliten entsprechende Spaltung der Arbeiterklasse durch SPD und NSDAP zu warnen und sie zu einer konsequenten revolutionären Praxis zu bewegen. Tatsächlich wurde der Aufsatz von der kommunistischen Presse aufgegriffen und als sensationelle Insiderenthüllung der politischen Strategie des Kapitals für die Agitation benutzt. Erst 1970, als der Text im Kursbuch wieder veröffentlicht wurde, bekannte sich Sohn-Rethel zu seinem Coup, was für Anfeindungen von der Seite derjenigen Marxisten sorgte, die den Text weiterhin als ein Hauptbeweisstück für die Agententheorie behandeln wollten (S. 24f.).

Die auf Georgi Dimitrow zurückgehende Theorie, der zufolge die Nationalsozialisten bloß terroristische Agenten der besonders reaktionären, imperialistischen Teile des Kapitals gewesen seien, bildete lange Zeit das Dogma der sowjettreuen Faschismusanalysen. So wie Sohn-Rethel überhaupt mit seiner intellektuellen Arbeit einen eigenwilligen Weg verfolgte und Zeit seines Lebens Außenseiter blieb, so widersetzen sich auch seine Analysen des Verhältnisses von Politik und Ökonomie im Nationalsozialismus der damals vorherrschenden marxistischen Dogmatik und der fortwährenden interessierten Apologetik, die keinen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise und faschistischer Krisenlösung erkennen will. Diese Arbeiten, die die zweite Werkgruppe des Bandes bilden, verfasste Sohn-Rethel im Exil. Angesichts der drohenden Verhaftung floh er 1936 mit seiner Familie. Auf der Grundlage seiner im MWT gewonnenen Erkenntnisse bemüht er sich um Analysen der Struktur, der Konflikte und der Dynamik der politischen Ökonomie des Nationalsozialismus. Mit klarem Blick analysiert er die Interessenkonflikte zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und innerhalb der NSDAP und kommt 1938 zu einer Einschätzung des Verhältnisses zwischen Partei und wirtschaftlicher Elite, die zugleich eine implizite Kritik der Agententheorie ist: „Die Faschistenpartei ist der Knecht der Bourgeoisie, aber nur in dem Verhältnis, daß sie über ihrer Bourgeoisie im Sattel sitzt und diese mit Sporen und Kandare ihre eigenen Bahnen reitet.“ (S. 332)

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