Hobo – “Kulturgeschichte und Barbarei”. Zur Dramaturgie des Antisemitismus

Hobo

“Kulturgeschichte der Barbarei”

Zur Dramaturgie des Antisemitismus

Allem Anschein nach, schreibt Gerhard Scheit, kam mit dem Christentum die Heuchelei in die Welt. Als Urszene dieses Christentums gilt Scheit allerdings nicht die Kreuzigung, die Geburt oder die Auferstehung Christi, sondern die Vertreibung der Händler aus dem Tempel. Mit ihr, so Scheit, hänge schließlich auch die Separation von ‚Geist‘ und ’Materie‘, von ’Seele‘ und ’Leib‘ aufs engste zusammen. In der Vertreibung aus dem Tempel manifestiert sich die Scheidung des Heiligen von Geld und Ware, verbunden mit einer ethischen Setzung. Die ethnische folgte auf dem Fuße.

Indem das Neue Testament es “den Juden” zuschreibt, Jesus geißeln und töten haben zu lassen, zwingt es diese in die Rolle “negativer Opferpriester”. “Die das Opfer herbeiführen, sind das absolut Böse – der es erlitt, ist der absolut Gute.” Die christlichen Priester erinnern nur mehr an das letzte, einmalige und entscheidende Opfer, wenn sie die Eucharistie feiern. Christen feiern somit ihr Opfer, und müssen doch nie ihre Hände mit Blut beflecken. Das Blut haftet “den Juden” an.

Eine solche ethisch-ethnische Fixierung hatte es in der Geschichte zuvor noch nicht gegeben. “Den Juden”, wie es schon in Paulus‘ erstem Brief an die Thessaloniker hieß, wurde (im Johannes-Evangelium) aus dem Munde Jesu der Teufel als Vater zugeschrieben. Durch diese Festlegung der Abstammung und die damit verbundenen Anspielungen auf den (vererbten) Körper fungiert der Teufel im Neuen Testament als “Präfiguration des Rassebegriffs”, lange bevor dieser in die, Welt gesetzt wird. Indem “Judas” an Jesus Verrat begeht, und mit Geld dafür belohnt wird, sind im Evangelium schon zwei Stigmata der anderen Art festgeschrieben, die “die Juden” noch lange begleiten sollten.

Mit dem Laterankonzil von 1219 wurde als das Pendant zur christlichen Menschwerdung Gottes die Sichtbarmachung seiner “Mörder” beschlossen. Jüdinnen hatten von da an einen gelben Fleck zu tragen, “Judenhüte” und “-sterne” sollten später folgen. Tatsächlich reichen die ersten von breiten Schichten der christlichen Bevölkerung getragenen Verfolgungen von Juden und Jüdinnen in die Zeit des 11. Jahrhunderts zurück. Erfolgreich eingestimmt wurde die Meute dafür durch geistliche Spiele. So sind Erlässe überliefert, die die besondere Gefährdung der jüdischen Bevölkerung gerade zu Ostern und während der Aufführung der Passionsspiele dokumentieren.

Diese geistlichen Spiele hatten im 14. Jahrhundert den Raum der Kirche längst verlassen. Es waren Inszenierungen zur Selbstdarstellung der Bürgerschaft, die sich über Tage oder Wochen erstrecken konnten. Aus Reims wird von einem achttägigen Passionsspiel im Jahre 1490 berichtet, das 16.000 Besucherinnen angezogen haben soll. Die Spiele nahmen ganze Städte ein, die Arbeit ruhte. “Die Spielleidenschaft fand ihre Grenze offenbar einzig an den Mauern des Ghettos – und dort drohte sie sich regelmäßig in einen Blutrausch zu verwandeln.”

Die Grausamkeiten, die Jesus in den verschiedenen Inszenierungen zugefügt wurden, steigerten sich von Spiel zu Spiel. Die Ausgestaltung der Folterungen Jesus‘ läßt so heimliche Wünsche der Menschen erahnen. “Die Grausamkeit, die am Allerheiligsten vollzogen wird”, so Gerhard Scheit über die Heuchelei dabei, “kann freilich nur deshalb genossen werden, weil man nicht selbst aktiv ist, sondern die Schuld dem Teufel und den verteufelten Juden zufällt”. Nicht selten bedienten sich die in den Passionsspielen dargestellten Juden dabei des .”unheiligen” Geldes, und mit dem Aufkommen der Zinswirtschaft ging bald der Glaube einher, der Teufel hätte die “Wucherer” in teuflischer Absicht in die Welt gebracht. (Teuflischer) Wucherer und Jude wurden Synonyme, und letzterem somit das Menschsein in Abrede gestellt.

Als Handwerkerinnen und Bäuerinnen im 14. und 15- Jahrhundert aber unter der stockenden feudalen Akkumulation, unter Bevölkerungswachstum und Hungersnot litten, hofften sie, mit den Jüdlnnen auch gleich die Zinswirtschaft auf die Scheiterhaufen zu werfen, oder, wie es Gerhard Scheit ausdrückt: “Und immer wenn die Produzenten zu feige sind, ihren Herren entgegenzutreten, richtet ihr Haß sich auf die mit dem Geld stigmatisierten.”

Das bis hierher in allzu großen Schritten nacherzählte stellte erst die Weichen für eine Tradition, die von den mittelalterlichen Passionsspielen bis zum nationalsozialistischen Film und darüber hinaus reicht, der Tradition, “den Haß auf die Juden ’spielbar‘ zu machen”. “Die Juden ’nachzumachen‘”, schließt Gerhard Scheit, “ihre vermeintliche Ausdrucksweise im Sprachlichen und Gestischen zu imitieren, scheint für den Antisemitismus geradezu essentiell zu sein”. Denn damit sollte nicht nur das Unheimliche des durch Zinswirtschaft abstrakt gewordenen Reichtums, das ’sich selbst vermehrende‘ Geld personifiziert werden, darüber hinaus drückten sich im Antisemitismus auch die geheimen Sehnsüchte der Menschen aus: “Das heimliche Eigene kehrt in Gestalt des unheimlichen Jüdischen wieder: von der Lust, das Allerheiligste zu schänden bis zum Kitzel, die vom Nationalstaat oktroyierte Hochsprache ins Lächerliche zu ziehen, von der Sehnsucht nach einem Leben ohne Arbeit bis zu den verborgensten Wünschen im Sexuellen.”

In seinem Buch über die Dramaturgie des Antisemitismus (Untertitel) versucht Gerhard Scheit die lange Tradition dieses Unheimlichen in der abendländischen und speziell der deutschen Kultur nachzuzeichnen. Dabei beschreibt er die langsame aber stete Steigerung antisemitischer Zerrbilder, und analysiert ihre künstlerische Umsetzung über die Jahrhunderte. Seine materialistische Betrachtungsweise holt die (für Unkundige, oder zumindest so unmusikalische Menschen wie den Autor dieser Zeilen) mitunter bis ins erschlagende Detail reichende Analyse dabei immer wieder auf den Boden der herrschenden Verhältnisse zurück und stellt die besprochenen kulturellen Ergüsse in einen Kontext mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Es gehe nämlich nicht darum, eine ’fehlerhafte‘ oder ’fehlgeleitete‘ Widerspiegelung zu korrigieren und ’Vorurteile‘ zu widerlegen, stellt Scheit seiner Arbeit voran, sondern die Wünsche und Interessen auszumachen, die der negativen Mythisierung des Judentums zu Grunde liegen.

Shakespeare, Schiller, Wagner, Bach, Abraham a Sancta Clara, Grillparzer und Rainer Werner Fassbinder sind dabei nur wahllos herausgegriffene Namen, deren Werke eine eingehende Untersuchung erfahren. Und selbst wenn die Betrachtung an manchen Stellen bis in die Analyse von Notenblättern, die Abfolge von “gleichbleibenden Achtelfiguren (z.B.: d-d-b-c)” oder die Bedeutung für den antisemitischen Gehalt der Abhängigkeit der C-Dur von h-Moll-Nebentönen (in diesem Fall bei Wagner; Anm.) reicht, soll dies für Leserinnen, die dergleichen nicht im Ohr haben, kein Hindernis sein,

Scheit trotzdem zu folgen, der im rettenden Augenblick doch die erklärenden Worte spricht (“Und das ist das eigentlich Schockierende dieser Partitur, daß sie die Tötung durch Mitleid, die der Text vorgibt, in Musik umzusetzen weiß – in eine leise, gleichwohl schmerzhaft tönende”, schreibt er über den “Vernichtungsklang” Wagners, der “in der Musik völlig neue Techniken antisemitischer Projektion entwickelt hat”.)

“Der Jude” als Wucherer, die “Judensau” (im Fastnachtspiel), Jüdinnen als tragische oder komische Figuren, Juden als sexuell Besessene, oder die Figur der “schönen Jüdin” und die des “ewigen Juden” wären andere zu nennende Etappen auf dem Weg durch‘s abendländische Kulturgeschehen. Aber auch die andere Seite erfährt Würdigung und Kritik: Heine, Marx, Kraus, Brecht, Weigel, Schö nberg, Eisler lauten da Namen, über Peter Weiss bis Bernhard, Qualtinger und George Tabori erstreckt sich die Betrachtung von Bemühungen, andere Wege zu beschreiten. Leider wirken diese letzten Kapitel des Buches etwas zusammengestoppelt, zumal im Vergleich zu den ausgedehnten Analysen musikalischer Zwischentöne. Aber das ist wohl auch Frage des Geschmacks, wie auch von einschlägiger Vorbildung, die für die Lektüre des Buches bestimmt kein Nachteil ist.

Daß die Untersuchungen zur Dramaturgie des Antisemitismus trotzdem nicht nur für Kunstgeschichte-Verbissene und Opernfreundinnen bestimmt ist, dafür sorgen zum Beispiel der Vergleich von Wagners Aufsatz “Das Judentum in der Musik” und der frühen Schrift von Marx, “Zur Judenfrage”, eine Auseinandersetzung mit Nietzsches “blonder Bestie” sowie eine kurze Abhandlung über die Erfindung der “Rassen” im Kontext der Kolonialisierungen und der Bestimmung des Werts der Menschen als Arbeitskräfte.

Alles in allem ein Buch von beeindruckender Fülle übersichtlicher Gliederung. Keine Lektüre für die Straßenbahn, nichtsdestoweniger eine echte Empfehlung für Menschen, die ihren Horizont erweitern wollen.

Aus: TATblatt (Wien) N° 131 v. 3. Februar 2000

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