Roman – Behemoth und Thanatos * Rezension von Gerhard Scheit, Jargon der Demokratie

Roman

Behemoth und Thanatos

Eine Kritik an Gerhard Scheits Buch “Jargon der Demokratie”

Behemoth. So lautet der Name jenes alttestamentarischen Ungeheuers, mit dem Hobbes den Zerfall von Staatlichkeit illustrierte. Als Verkörperung des Bürgerkriegs und Chaos im Machtgefüge des modernen Staates stellte er dieses Monster seinem Leviathan gegenüber – jenem staatlichen Ungeheuer, dem die Bürger sich unterwarfen und damit ihre Geschicke in die Hände eines weltlichen Herrschers legten. Chaos und Ordnung. Es ist der Kampf dieser beiden Ungeheuer, der die Geschichte des bürgerlichen Staates seit jeher bestimmte und auch heute noch in verwandelter Gestalt fortwirkt. Hinter ihm verbirgt sich die Dialektik von absoluter und reglementierter Gewalt: der Gewalt, die sich selbst zum Zweck wird, und jener, die einen außer ihr liegenden Zweck visiert, den staatlicher Ordnung.

In seinem auch heute noch kaum übertroffenen Buch über den nationalsozialistischen Staat benutzte Franz L. Neumann die Metapher des Behemoth, um Staatlichkeit in ihrem Zerfall darzustellen. Der NS-Staat, für Neumann kein Staat im herkömmlichen Sinne, lasse nicht mehr die bekannten Strukturen und Verbindlichkeiten erkennen. Statt liberaler Gewaltenteilung und Parlamentarismus offenbare dieser “Unstaat” die entfesselte Konkurrenz der nationalsozialistischen Rackets.

In Anlehnung an Neumann nennt Gerhard Scheit sein neues Buch im Untertitel “Über den neuen Behemoth” und meint damit jene Gebilde von UNO und EU, die heute abermals “in durchaus gewandelter Gestalt” auf eine “deutsch-europäische Entfesselung des Chaos” hinsteuern. Der neue Behemoth, so Scheit, sei “ein Ungeheuer, bei dessen Leib man nicht sieht, wo er anfängt oder wo er aufhört; das an einem Ende zutraulich ist wie ein sanftes Haustier und am anderen wütet wie eine Bestie. Denn das vollständige Monster konstituiert sich in der Zusammenarbeit mit islamistischen Rackets und Theokratien oder auch nur in deren Tolerierung.” (35) Seine Avantgarde sei die europäische Linke “von Habermas bis Baudrillard, von Derrida bis Agamben”. Sie sind es, die den demokratischen Jargon salonfähig machen – bis hinein in die Spitzengremien europäischer Politik. Wer daher die Stimme “Kerneuropas” (Habermas, Derrida) gegen die Politik der USA erhebt, spreche die Sprache einer “modernisierten deutschen Ideologie” (ebd.).

Mit dieser Meinung steht Scheit nicht allein da. Seine Verdienste innerhalb der inzwischen zu Feuilleton-Ehren gekommenen Antideutschen sind umfangreich. Das 2004 veröffentlichte Buch “Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt” stellt eine Art theoretische Grundlegung der antideutschen Bewegung dar. Darin nimmt Scheit eine Aneignung der Kategorien von Staat und Recht vor, um, jenseits marxistischer Überbautheoreme und sonstiger Staatsableitungsversuche, die Rolle der Gewalt in der Kritik der politischen Ökonomie zu untersuchen. Die Begriffe des Rechts und des Souveräns sowie des Ausnahmezustands oder Selbstopfers werden dabei sowohl in ihrem Entstehungskontext der deutschen Staatsrechtslehre (Schmitt) und Philosophie (Heidegger) als auch in ihrer aktuellen Verschlüsselung in den Botschaften der islamistischen Selbstmordattentäter durchdekliniert. Scheits begriffliche Aneignung erfolgt gewissermaßen durch die Extreme, um die darin verborgene Gewalt zu kennzeichnen, die in der nationalsozialistischen Vernichtungstat zum Selbstzweck wurde. Vor diesem begrifflichen Hintergrund ist auch das Buch über den Jargon der Demokratie zu lesen, das wie eine Art Kür nach der Pflicht wirkt. Leicht und spielerisch gestaltet sich die Lektüre aber keineswegs, denn Scheit erspart seinen Lesern nicht, die Phänomene durch begriffliche Abstraktion zu erschließen. Neben den zum Teil bereits publizierten Teilen, in denen der demokratische Jargon von Sozialwissenschaft und engagierter Literatur denunziert wird und ihm mit Jean Améry und Karl Kraus zwei würdige Antipoden entgegengestellt werden, machen die beiden ersten Kapitel zum neuen Behemoth und zum Thanatos den Kern und die theoretische Basis des Buches aus. Der psychoanalytische Abschnitt zum Todestrieb wirkt dabei wie ein erneuter Versuch, das in “Suicide Attack” mehr Fragment gebliebene Verhältnis von Individuum und Staat zu fassen. Neu ist der Rekurs auf Herbert Marcuses Interpretation vom Freudschen Todestrieb. Scheit rät hier, die Explikationen Freuds zum Thanatos nur als Hypothese zu fassen: “Aus dem Todestrieb kann unmittelbar gar nichts abgeleitet werden, er selbst ist nur in äußerster Allgemeinheit faßbar und als Hypothese sinnvoll, nicht aber unmittelbar bezogen auf die einzelne Tat, das Handeln eines Individuums oder die politische Aktion einer Gruppe.” (155). Marcuse sei derjenige, der den Widerspruch zwischen Ursprung und Erscheinung des Todestriebs entwickeln konnte, ganz im Gegensatz zu Jacques Lacan, der von Scheit als der “eigentliche Apologet des Todestriebs” bezeichnet wird. Es sei entscheidend, ob man den Todestrieb ontologisch aufgreife und dessen Manifestationen als unmittelbare Äußerungen, oder – wie Marcuse in “Eros and Civilisation” – Wert darauf lege, die Abweichungen vom ursprünglichen Trieb als Ergebnisse der Triebarbeit zu begreifen, als “Arbeit des Eros”. So zeige Marcuse beispielsweise, wie im Ödipuskomplex der aggressive Impuls gegen den Vater durch Verbote und Identifikation zu zielgehemmter Liebe und Sublimierung im allgemeinen führen kann. An solch einem Prozess der Triebarbeit sei erkennbar, dass auch der angenommene Todestrieb nur durch individuelle Bearbeitung zur Erscheinung komme und nicht unmittelbar als ontologische Größe.

Marcuses Triebkonzeption scheint für Scheit darüber hinaus auch deswegen interessant, weil sein Konzept offen lässt, wie die Natur des Menschen jenseits von gesellschaftlichem Zwang beschaffen sein könnte. Wären Leid und Mangel nicht ständige Begleiter des Lebensprozesses – gäbe es also die Möglichkeit, beides weitgehend abzumildern, was einem wünschenswerten Leben entsprechen würde –, so verlöre auch der Todestrieb an Bedeutung: “Der Tod hörte auf, ein Triebziel zu sein” (Marcuse). Letztlich käme dies einer Widerlegung des Todestriebs gleich, wie Scheit konstatiert. Der Gedanke der Versöhnung, der in der Kritischen Theorie einen überaus hohen Stellenwert hat, wäre demnach in der Todestrieb-Auffassung von Marcuse enthalten, anders als bei Freud, der in “Jenseits des Lustprinzips” den Eros als im Dienste des Thanatos stehend degradiert, und anders auch als bei Lacan, der den Todestrieb als Triebziel sogar affirmiert. In Marcuses Triebtheorie bleibt der Tod dagegen eine “Tatsache”, gegen die die Menschheit sogar “entschiedensten Kampf aufnehmen” könne.

In gewohntem Stil dienen Scheit einige andere Autoren – Jacques Lacan, Alexander und Margarete Mitscherlich – zur Grenzziehung. “Psychoanalyse nach Auschwitz” heißt die Grenzlinie, an der sich nur als denkfähig erweist, wer den Trieb in seiner regressivsten Ausformung zu fassen vermag, ohne ihm gedankenlos zu verfallen. Ansonsten attestiert Scheit “Unfähigkeit zu denken”, die wahlweise auf deutsch (Mitscherlich) oder französisch (Lacan) zu haben ist. Warum dabei gerade die Mitscherlich-Kritik kommentarlos mit “Habermas als Psychoanalytiker” betitelt ist, bleibt so uneinsichtig wie unvermittelt. Der Eindruck lässt sich nicht vertreiben. – Es gleicht ein wenig der Axt im Walde, wenn Scheit in psychoanalytische Gefilde vordringt.

Problematischer als die Kritik deutscher und französischer Freudrevision erscheint jedoch das erste Kapitel zum neuen Behemoth. – Das “vollständige Monster erwächst aus dem Dialog mit dem Islam wie aus der Toleranz gegenüber islamistischen Rackets”, heißt es im Klappentext. Würde Scheit die biblische Metapher des Chaos hervorbringenden Ungeheuers auf heutige Staatengebilde wie die EU anw enden, ohne sich explizit auf Franz L. Neumanns Analyse des NS zu beziehen, die Probleme wären weniger offensichtlich, die Grundthese dafür aber weniger zugkräftig und kontrovers. Implizit ist der These die Feststellung, dass der Rechtsstaat durch die Herrschaft der Rackets ersetzt wird (16). Das trifft zu für die staatlichen Strukturen im Nahen und Mittleren Osten, wo “Demokratie auf der Grundlage der Bandenherrschaft” nichts außergewöhnliches darstellt und an bürgerliches Recht noch nie zu denken war. Falsch wird die Behauptung solch unmittelbarer Herrschaft, wenn man damit die demokratischen Staaten Europas meint. Das aber legt Scheit nahe, wenn er den Racketbegriff auf die EU und die UNO ausdehnt. Zwar ist es richtig, dem kerneuropäischen Mainstream “Einfühlung” gegenüber dem Islam zu attestieren; richtig, den demokratischen Jargon in seiner politischen Funktion bloßzustellen, die alle Differenzen zum Verschwinden bringt, z.B. zwischen dem demokratischen Israel und der demokratisch gewählten Hamas-Regierung. Ob aber daher der europäische und insbesondere der deutsche Rechtsstaat, auf den Scheit sich in seiner Darstellung kerneuropäischen Appeasements bezieht, darauf verfällt, alle institutionellen Vermittlungen abzustreifen, ist doch sehr in Zweifel zu ziehen. Ist hier nicht vielmehr noch der alte abendländische Leviathan im Spiel? Vielleicht mehr als Scheit zuzugeben bereit ist? Die Ausgangsfrage war schließlich, wie er selbst formuliert, “inwieweit das Recht, als Inbegriff aller in der bürgerlichen Gesellschaft möglichen Vermittlungen, ‚eigene Natur und Resistenzkraft` (Horkheimer) gegenüber den Rackets behaupten kann, und das bedeutet, inwieweit das Individuum durch die Allgemeinheit der Gesetze vor den äußersten Konsequenzen personaler Herrschaft Schutz findet.” (16). Droht den deutschen Staatsbürgern nun der Rückfall in personale Herrschaft? Und wenn ja, wo oder von wem geht diese aus? Plausibel erscheint diese Bedrohung angesichts der islamistischen Umtriebe in Deutschland oder Großbritannien. Doch hier ist es jeweils nicht der Staatsapparat, der die Bürger in die Bluts-, Volks- oder Religionsgemeinschaft zurücktreiben will, sondern die Agitatoren und Gesinnungsgenossen der Selbstmordattentäter im Namen Allahs. Die Frage der “Resistenzkraft” scheint Scheit indessen schon zu Ungunsten des Rechtsstaates entschieden zu haben. Dem Chaos weicht die Ordnung und in der EU verwirklicht sich der neue “Unstaat”, wie Scheit mit Hobbes, Hegel und eben auch Neumann zu begründen meint. Allein die Dissoziation der Souveränität, nicht in der traditionellen Gewaltenteilung nach innen, sondern in der wenig sichtbaren Gemeinsamkeit der Einzelstaaten nach außen (also auf europäischer oder internationaler Ebene) soll hier belegen, dass der staatliche Ernstfall droht, der sich zum Exzess der Rackets auswächst. – Das alles machte Sinn innerhalb von Neumanns Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, das die Suspendierung der Rechtsform zur Voraussetzung hatte. Überzeugend klingt es, wenn man damit – wie noch in “Suicide Attack” – die islamistischen Selbstmordbanden von Al Quaida oder die Palästinenser von PLO bis Hamas kennzeichnen möchte. Aber Scheit begeht genau den Fehler, den er andernorts immer reflexiv auszuschließen vermochte: Vernachlässigung des Inhalts zugunsten der Form. Er übernimmt die Strukturelemente, die Neumann am NS-Staat konstatierte – einen nach innen und außen polykratisch organisierten Staatsapparat, der als Vernichtungsmaschine arbeitet – und überträgt diese auf die heutigen Strukturen von EU und UNO. Aber Formgleichheit macht den neuen Behemoth noch nicht zum nationalsozialistischen Behemoth. Trotz struktureller Konvergenzen ist doch zumindest darauf zu beharren, dass die UNO eine ganz andere Form von “United Rackets” sind als die Mordagenturen der Nazis. Es geht hier um nicht weniger als die Wahrung der Differenz, die im Inhalt der Projektion liegt. Es ist sicher der Fall, dass Israel auf der Abschussliste nicht weniger in der UNO versammelter Staaten steht. Das heißt aber nicht, dass die Auslöschung Israels als Verhandlungsgrundlage in der Generalversammlung oder dem Sicherheitsrat vorliegt. Es macht daher einen Unterschied, ob ein Racket auf der Projektion von Judenmord oder dem “Fetischismus des Völkerrechts” gebaut ist.

Andernorts, nämlich in der Kritik des Terrorismus-Begriffs, bleibt die Differenz von Scheit jedoch gewahrt: “Die Rede vom Terror kann und will nicht unterscheiden zwischen jakobinischer Schreckensherrschaft, stalinistischer ‚Säuberung` und nationalsozialistischer Vernichtung, RAF-Aktion und al-Qaida-Massaker, Attentat und Selbstmordattentat als Prinzip. Dabei ist von größter Wichtigkeit, wirkliche Übergänge zwischen diesen verschiedenen Formen der Gewalt zu erkennen, aber gerade zu diesem Zweck wäre das Wissen unabdingbar, was worst case jeweils bedeutet.” (41). Hierin und in der Kritik des Opfers – da ist Scheit unumwunden zuzustimmen – geht es darum, eine Unterscheidung “zwischen Gewalt als politischem Mittel und Gewalt als Selbstzweck” zu treffen, die im Terrorismus-Begriff und der Rede vom Selbstmordattentat als “Verzweiflung” unsichtbar wird.

Die “Übergänge sichtbar zu machen und zu denunzieren”, darauf kommt es Gerhard Scheit an. Was ihm in der Kritik des Opfers und des Terrorismus-Begriffs durchaus gelingt, verschwimmt ihm aber andererseits wieder im Begriff des Rackets, den er von Horkheimer und Neumann übernimmt. Gerade die Überdehnung des Racketbegriffs, die er an anderer Stelle Wolfgang Pohrt zu Recht vorwirft, wird ihm zum Hindernis bei der Beurteilung zwischenstaatlicher Verhältnisse. Dabei muss man nicht einmal leugnen, was Hobbes und Hegel als unmittelbaren Zwang zwischen den Staaten kenntlich machen wollten, um trotzdem zu erkennen, dass sich in der internationalen Konstellation der Staaten sehr wohl etwas getan hat. Dass es internationale Staatenbündnisse überhaupt gibt, konnte Hobbes sich sicher kaum vorstellen. Und auch nach Auschwitz muss man nicht gleich einen “Weltsouverän” beschwören, der bei reflektierteren Völkerrechtlern (und ja – auch bei Habermas) ohnehin nicht zur Debatte steht, um festzustellen, dass ohne zwischenstaatliche Konventionen die Welt schlechter aussähe als sie de facto ist. Es wirkt so, als würde Scheit internationaler Politik generell ihre Legitimation entziehen wollen, wenn er darauf beharrt, dass sich “auch im Zeitalter der United Nations und der multinationalen Konzerne nichts geändert” (88) hätte.

Die Kennzeichnung der UNO und der EU als Rackets, die der Vernichtungsmission der islamistischen Rackets und Theokratien zuarbeiten, bleibt aber das hauptsächliche Problem. Der neue Behemoth – “das vollständige Monster” – konstituiere sich nur durch die europäische Vision vom ewigen Frieden, die sich bei genauerem Hinschauen als “deutsch-europäische Entfesselung des Chaos” entpuppe. Es ist diese eine Umdrehung mehr, die das Fass zum Überlaufen bringt und letzten Endes die ganze Metapher vom neuen Behemoth fragwürdig werden lässt. Dabei war doch mit der Kritik der Selbstmordattentäter und Islamisten unter Zuhilfenahme des Racketbegriffs schon viel gewonnen. Ist daran nicht fruchtbar anzuschließen, wenn man eingesteht, dass es dank der einzelnen westlichen Leviathane zur Herrschaft des neuen Behemoth noch nicht gekommen ist?

Aus: Conne Island Newsflyer N° 143 (Mai 2007)

Trennmarker