Georg Weigel – Wolfgang Rieger. Glückstechnik und Lebensnot * Rezension

Georg Weigel

Wolfgang Rieger. Glückstechnik und Lebensnot

“Anprall, Sturz, Kriechen am Boden, sich zurückbewegen zum Ausgangspunkt, zum Stehplatz”. Mit diesem Bild, das die Bewegung des Torpedokäfers beschreibt, unterlegt der Literat Franz Jung die Matrix des eigenen Lebenslaufs. Wolfgang Rieger nimmt zu Anfang und Ende seines Buches “Glückstechnik und Lebensnot” diese Motive auf, um die schillernde und facettenreiche Person Jungs zu beschreiben (siehe Besprechung LISTEN Heft 6).

In Relation zu seinen wechselnden Aufenthaltsorten und Tätigkeiten bewegt sich sein schriftstellerisches Schaffen, das historisch dem Expressionismus, Dadaismus, der proletarisch-revolutionären Literatur und dem Mystizismus zugeordnet wird. Rieger versucht nun die bisher vorherrschende Einseitigkeit in der Betrachtung und Beurteilung des Jungschen Gesamtwerks zu durchbrechen. Mit der Überlegung, daß Literatur als Produkt von Subjektivität zweifach, nämlich individuell und gesellschaftlich begründet ist, versucht er mit den Mitteln des “Marxis­mus, verstanden als Kritik der politischen Ökonomie … und der Psychoanalyse, verstanden als Kritik der vergesellschafteten Subjekte …”, Person und literarischem Werk gerecht zu werden.

Im Verlauf des Buches bewegt sich Rieger auf verschiedenen Ebenen. Vom literarischen Material bezieht er sich auf die Biographie Jungs, von der Zeitgeschichte auf das Werk, Annahmen über Jungs Familiengeschichte werden rückbezogen auf Verhaltensweisen undsofort. So vielseitig der Wechsel der Betrachtungsweisen ist, so starr bewegt sich Rieger innerhalb der Einzelaspekte. Seine Analogie zur Psychoanalyse wirkt klischeehaft. Er entwickelt kein spezifisches Verständnis einzelner Szenen und Konstellationen, sondern sucht nach Belegen der anfänglich “diagnostizierten” Jungschen Grundkonflikte. Wirkliches Analysieren bedeutet den unterschiedlichen Konflikt-Codierungen nachzuspüren und ihren Bedeutungsgehalt zu erfassen. In der jeweiligen Szene, literarisch durchaus im Doppelsinn, entschlüsselt sich die Vielschichtigkeit literarischer Produktion.

So bleibt Rieger der Person Jungs gegenüber ambivalent: ist er nun ein Opfer seiner inneren Konflikte und konnte trotzdem literarisch arbeiten oder hat er in der Literatur eine hervorragende Verarbeitungsform für diese gefunden? Das Bild des Torpedokäfers findet in der Codierung die vielschichtige Wirkung und nicht umgekehrt, denn existentiell sind wir doch alle in diesem Bild aufgehoben.

Aus: Listen. Zeitschrift für Leser und Leserinnen N° 8 (Sommer 1987)

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