Ilse Bindseil – Glückstechnik und Lebensnot * Rezension

Ilse Bindseil

Glückstechnik und Lebensnot

Mit Leben und Werk Franz Jungs hat sich der Freiburger Literaturwissenschaftler Wolfgang Rieger einem exemplarischen deutschen Literatenschicksal zugewandt, das in seiner offenen Widersprüchlichkeit und unverhohlenen Modernität den linken Intellektuellen von heute wohl zu rotierender Selbstreflexion veranlassen könnte. Rieger hat dieser Versuchung widerstanden, oder er hat sie dank seines erzählerischen Talents und geballten Methodenbewußtseins überwunden, wenn Selbstreflexion, aktuelle Standortbestimmung, auch zweifellos das Motiv der von ihm vorgelegten Untersuchung ist. Stellt man die Jahre in Rechnung, die er seinem Gegenstand widmete, dann muß man konstatieren, daß dieser nur immer moderner geworden ist: “Bleiern” sind die “Zustände”, und immer weniger marxistisch orientiert sind die, die gegen sie “rebellieren”. Fast könnte man sich in Jungs Zeit versetzt fühlen, die übrigens an die Gegenwart heranreicht, war seine 1961 veröffentlichte Autobiografie Der Weg nach unten mit 335 im ersten Jahr verkauften Exemplaren doch ein echter bundesrepublikanischer ‘Flop‘, und so hat er, ehe er 1963 starb, auch von unserer Zeit noch einen zweifelhaften Eindruck bekommen und nicht nur wir, dank Riegers Untersuchung, von seiner.

“Seine Biografie hält dem Vergleich mit einem Abenteuerroman stand.” 1888 in Oberschlesien geboren, nacheinander Expressionist, Dadaist, Kommunist, abwechselnd Anarchist, Lebensphilosoph und Freudianer, schließlich Evolutionist, Existentialist und Theologe hat er, wie man es heute zynisch nennen würde, ‘alle Moden mitgemacht‘ und dabei seinen bürgerlichen Ansatz, seine manipulative Absicht nie verleugnen können. Immer hat er nach Techniken gesucht, mit denen er die Gesellschaft, den einzelnen, das Glück zwingen konnte, und nach quasi anthropologischen Gesetzen, mit denen er, stets leidenschaftliches Individuum, sich die epoché der materialistischen Geschichtsbetrachtung ersparen und die gesellschaftlichen Widersprüche im Kurzschluß auflösen konnte.

Kommunismus als “Glückstechnik”: Nicht zufällig landet Jung, als die “KPD ihren Kurs bereinigte und sich im Oktober 1919 von allen ‚kleinbürgerlich-individualistisch-anarchistischen Elementen‘ trennte”, bei der KAPD, in deren “Umfeld wir nahezu die gesamte linke literarische Prominenz finden”. In deren Grundhypothese, die deutsche Revolution habe vor allem ein subjektives Problem, das mangelnde Selbstbewußtsein des Proletariats, konnte er seinen “individualanarchistischen Ansatz” wiedererkennen. Für ein paar Jahre entsteht so etwas wie eine Synthese. Jung lernt auf allen – politischen, literarischen, praktisch-ökonomischen – Ebenen. Sein Individualismus bewährt sich als gesellschaftliche Kraft, und ebenso scheinen die gesellschaftlichen Kräfte sich als eine ungeheure Erweiterung seines Individualismus zu bewähren. Es ist fraglos der Höhepunkt seines Lebens und auch der Darstellung oder jedenfalls der Punkt der größten Identifikation des Autors mit seinem Helden, einer höchst prekären Identifikation freilich, ist die praktisch-politische Perspektive des Linkskommunismus am Vorabend des Nationalsozialismus und in der Aufbruchsphase der Sowjetunion doch nur bitterer Schein. Am Ende wird die vorgespielte Synthese mit der nachhaltigsten Dissoziation des Individuums, das sich ungebührlich vorgewagt hat, bezahlt.

Aus: Zitty. Illustrierte Stadtzeitung Berlin N° 17 (1987)

Trennmarker