Felix Klopotek – Purer Akademismus

Felix Klopotek

Purer Akademismus

Moishe Postone bleibt hinter Karl Marx zurück und verzichtet auf eine kritische Dialektik von Integration und Negation

Wenn Manfred Dahlmann am Ende seiner Einführung in die Postone-Debatte dazu auffordert, »kontrovers zu diskutieren, allerdings immer unter dem Vorbehalt, sich dazu auf den Gegenstand in der gleichen Intensität einlassen zu müssen, wie Postone dies vorgegeben hat«, dann meint man den gütigen Professor zu hören, der seinen Doktoranden gegen misstrauische Kollegen abschirmen will.

Nun ist Dahlmann kein Professor, aber Postones Buch »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« eine Promotionsschrift. Und was für eine! Sie ist so durch und durch akademisch, daß derjenige, der sich dem Buch wohlwollend nähert, gar nicht anders zu können scheint, als einen professoralen Ton, mal lobend, mal mahnend und immer weihevoll, anzuschlagen. Was Dahlmann sehr höflich als Postones »immer wieder erneuerte Kreisbewegungen« bezeichnet, sind quälende Wiederholungen, unzählige Redundanzen und permanente Verweise darauf, daß man dieses jetzt nicht genauer ausführen könne und jenes nur als Vorstudie zu einer Rekonstruktion von Elementen einer kritischen Theorie verstehen solle.

Man merkt dem Buch deutlich das Bestreben an, nicht den Anschluss an einen von Bourdieu, Weber oder Giddens dominierten wissenschaftlichen Diskurs verpassen zu wollen und dabei einen Bogen um die durchaus militanten Implikationen des Gedankenganges zu machen: Nicht einmal kritisch bezieht sich Postone auf den italienischen Operaismus, obwohl er einige Prämissen mit Mario Tronti oder Antonio Negri teilt.

An einem Beispiel soll demonstriert werden, wie Postone – darin ganz akademisch – seiner Argumentation die Spitze abbricht und die kritische Dialektik sausen lässt.

Sein Ausgangspunkt, den er so oft benennt, daß er kaum darüber hinauskommt, ist, daß der Widerspruch des Kapitalismus nicht zwischen Distributionsweise und Produktionsweise (der alte leninistisch-sozialdemokratische Hit: private Aneignung vs. gesellschaftliche Produktion) anzusiedeln ist, sondern in der Produktionsweise selbst. In den Worten von Marx: »Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch dadurch, daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht, während es andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.« Es geht also nicht allein darum, den Markt abzuschaffen und die Kapitalisten zu verjagen, sondern die Produktionsweise selbst zu verändern, die Herrschaft des Werts und der den Wert konstituierenden abstrakten Arbeit zu brechen. Ansteht nicht die Befreiung der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit.

Was heißt das nun für diejenigen, die die Arbeit leisten, die also ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und somit lohnabhängig sind? Sie müssen, um aus der Tretmühle herauszukommen, nicht für ihre Selbstverwirklichung als Proletarier kämpfen, sondern für ihre eigene Abschaffung in Form der kommunistischen Emanzipation. Das Problem ist, daß das Proletariat als Proletariat in das Kapitalverhältnis integriert ist – reelle Subsumtion heißt das bei Marx. Das bedeutet, daß die Kämpfe der Arbeiterklasse integraler Bestandteil des kapitalistischen Systems sind und das Bewußtsein, zu dem die Klasse (während ihrer Kämpfe) kommt, folglich auch nicht über das Kapitalverhältnis hinausweist. Das Proletariat würde also als revolutionäres Subjekt ausscheiden.

Die Situation ist perfide: Der Kapitalismus ist erst dann ein totales System, wenn, so Postone, »die Arbeitskraft zur Ware geworden ist«. Vorher sind die Arbeiter eben keine Arbeiter, sondern Sklaven oder Leibeigene, und diese sozialen Existenzformen gibt es im »reinen« Kapitalismus nicht (Natürlich gibt es heutzutage Sklaverei! Aber nicht als Überbleibsel eines ancien régime, sondern als dem Kapitalismus immanente Anomalie.)

Weiter: Der Kapitalist möchte, um in der Konkurrenz bestehen zu können, die Kosten für diese Ware besonders niedrig halten. Das droht die Ware Arbeitskraft zu vernichten und zwingt die Arbeiter, die Konkurrenz, die auf dem Arbeitsmarkt zwischen ihnen herrscht, zumindest partiell aufzugeben. Arbeitskraftkartelle entstehen: die Gewerkschaften. Arbeiter können »im Allgemeinen nur durch kollektives Handeln – in den Auseinandersetzungen etwa um Arbeitsbedingungen, -stunden und -löhne – tatsächlich ein Mindestmaß an Kontrolle über die Verkaufsbedingungen ihrer Ware gewinnen«, führt Postone aus. »Arbeiter können demnach nur kollektiv bürgerliche Subjekte sein. Mit anderen Worten, die Warennatur der Arbeitskraft bringt es mit sich, daß kollektives Handeln dem Warenbesitz nicht entgegensteht, sondern zu dessen Realisierung notwendig ist« (Hervorhebung im Original). Erst das Handeln der Arbeiterklasse erzeugt die verallgemeinerte Durchsetzung der Warenform. Klappe zu, Affe tot.

Für Postone erschöpft sich – zumindest an dieser zentralen Stelle – die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise in der Integration ihrer Subjekte. Er wundert sich über die Verkehrung des sonst immer so positiv besetzten »kollektiven Handelns«, geht aber den eigenen Implikationen nicht weiter nach: Die Ware Arbeitskraft ist keine x-beliebige Ware, sondern eine, die sich nur im kollektiven Handeln gegen ihre permanent drohende Zerstörung erhält und reproduziert. Das heißt aber, daß Arbeitskämpfe nicht nur zur Integration ins System führen, sondern jedes Mal auch ein Ausdruck der Behauptung sind – das Proletariat muß kämpfen, um nicht unterzugehen. Damit besteht aber auch in jedem Arbeitskampf die Möglichkeit, den grundlegenden Antagonismus zu reflektieren, daß es nur einen Frieden gegen das Kapital geben kann, aber nicht mit dem Kapital. Schon der »reformistische« Kampf um den Lohn macht dies deutlich: Die einen müssen von etwas leben, was die anderen konstant einzusparen gedenken. Mit Marx gesprochen: »Da Kapitalist und Arbeiter nur diesen begrenzten Wert zu teilen haben, das heißt den durch die Gesamtarbeit des Arbeiters gemessenen Wert, so erhält der eine desto mehr, je weniger dem anderen zufällt, und umgekehrt. Sobald ein Quantum gegeben ist, wird der eine Teil davon zunehmen, wie umgekehrt der andere abnimmt. Wenn der Arbeitslohn sich ändert, wird der Profit sich in die entgegen gesetzte Richtung ändern. Wenn der Arbeitslohn fällt, so steigt der Profit; und wenn der Arbeitslohn steigt, so fällt der Profit.«

Anstatt also das Proletariat entweder zur Negation oder zum Bestandteil des Kapitalverhältnisses zu erklären, ginge es um die Bestimmung der Dialektik von Integration und Negation. Oder ganz banal gefragt: Ist es nicht Voraussetzung der Negation, Bestandteil von etwas zu sein? So wie man der spießigen Kleinbürgerfamilie in der Provinz entflieht, um nach Berlin zu gehen und dort, sagen wir, Wertkritiker zu werden?

Marx schreibt im »Kapital«: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und die Arbeit.« Er bringt hier exemplarisch diese Spannung aus Integration (die geleistete Arbeit als Maß und Quelle des Reichtums) und Negation (Vernichtung von Arbeitskraft, Zerstörung natürlicher Ressourcen) auf den Punkt.

Gemünzt auf den Klassenkampf heißt das, daß »von den ersten Formen dieses Kampfes an die Arbeiter als Klasse sich innerhalb des Kapitals finden und es aus seinem Inneren heraus bekämpfen müssen. (…) Die Arbeiter betreten die Fabrik der Kapitalisten schon als Klasse: Nur so nämlich kann ihre gesellschaftliche Produktivkraft ausgebeutet werden. Gezwungen, nicht von juristischen, sondern von ökonomischen Gesetzen, Arbeitskraft zu verkaufen, also sich selbst als Ware auf dem Markt zu verkaufen, finden sie sich bereits individuell vereint gegen den Kapitaliste n, noch bevor sie anfangen, Kapital zu produzieren«, schreibt Mario Tronti in seiner klassischen Untersuchung »Arbeiter und Kapital« (Hervorhebungen im Original).

Die Schwäche der Arbeiterklasse, die vollständige Integration in das Kapitalverhältnis, produziert gleichzeitig ihre Potenz, in dieser Integration sich als Klasse zu erfahren und in der Abhängigkeit, die die Form der systematischen Erpressung und Ausbeutung annimmt, sich der Notwendigkeit ihrer Selbstabschaffung bewusst zu werden.

Hier ist der Punkt gekommen, um über die Probleme dieser Bestimmung zu sprechen: zum Beispiel ob die Arbeiterklasse nicht eine Partei braucht, die die Erfahrungsprozesse bündelt und vermittelt (was Tronti in einer gewissen Borniertheit bejaht hat). Man müßte etwas tun, was für Postone, der zu diesem Problem erst gar nicht vorstößt, allenfalls mittlere Reichweite hätte: sich über die Klassenzusammensetzung unterhalten oder über das Scheitern des Operaismus.

Postones Verteidiger mögen einwenden, daß diese historischen oder »soziologischen« Fragestellungen nicht an seine kategoriale Rekonstruktion heranreichen. Eine radikale Wertkritik, deren Grundlage Postone vorzulegen beabsichtigte, die nur unfreiwillig historisch und sozial vermittelt ist – unfreiwillig deshalb, weil man diesem abstrakten Text doch immer wieder anmerkt, wie sehr er in gewissen Diskussionen der siebziger und achtziger Jahren verwurzelt ist –, ist in der Tat: Akademismus. Die wirklich spannende Frage lautet, wieso Postones Buch in einem dezidiert anti-akademischen Verlag wie ça ira erscheinen konnte.

Aus: Jungle World N° 25 vom 9. Juni 2004

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