Karl Klöckner – Tjark Kunstreich. Ein deutscher Krieg. Über die Befreiung der Deutschen von Auschwitz

Karl Klöckner

Tjark Kunstreich. Ein deutscher Krieg

“Kritik von Volk, Staat, Nation und Kapital ist jedoch ohne die Anmaßung, die Begriff und Sache der Befreiung implizieren, nicht zu haben; sie regrediert zur konstruktiven Kritik in dem Moment, da Auschwitz in dem Sinne relativiert wird, daß aus dem industriellen Massenmord keine universellen gesellschaftlichen, sondern höchstens noch individuelle Konsequenzen zu ziehen seien”, so lautet der letzte Satz des hier anzuzeigenden Buches. Der schmale Band, der sich im Untertitel nicht entscheiden mag, ob von der “Befreiung der Deutschen” oder der “Befreiung der Nation” (so die CIP-Einheitsaufnahme für die Deutsche Bibliothek) die Rede sein soll, befaßt sich mit eben dieser Regression zur aktuellen, “kommunitaristisch aufgebürstete(n) Volksgemeinschaft”. Grundlage dieser Befindlichkeit des kleinen Großdeutschland bildet das Unterfangen, aus den Tätern Opfer zu machen, die “Einopferung der Täter”. Der Autor sieht im Rückblick eine aufsteigende Linie demokratischer Verwertung deutscher Verbrechen, die mit Bitburg 1985 begann und mit der Bombardierung Belgrads 1999 ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.

In den hier versammelten sieben Artikeln werden verschiedene Zugänge zum Selbstverständnis des “neuen” Deutschland gesucht, dem “nach 1989 Schlußstrichmentalität und Rassismus gleichbedeutend mit Normalisierung” wurden. Die Etappen, die Kunstreich aufzählt, damit schließlich Deutschland “Krieg führen mußte, um mit der Vergangenheit abrechnen zu können” sind: Historikerdebatte 1986, Wiedervereinigung 1989, Golfkrieg 1991, ‘Umgestaltung‘ der KZ-Gedenkstätten 1991/92, Neue Wache 1993, Holocaust-Mahnmal 1989-1999, Wehrmachtsausstellung 1996-1999, Streit um Goldhagen 1996/97, Walser 1998. “In diesen Auseinandersetzungen wurde jeweils dafür gesorgt, daß Verdrängung und Verleugnung dort überflüssig werden, wo Auschwitz es den Deutschen ermöglicht, sich als Opfer darzustellen. Das “Schweigen der postfaschistischen Gesellschaft” wurde so zum “ohrenbetäubenden Geschwätz” von “Erinnerungsarbeitern” und Gedenkindustrie. Die von Henryk M. Broder vor Jahren mitgeteilte Wahrheit, daß die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden, hat zuletzt in den Anwürfen Martin Walsers gegen Ignaz Bubis Gestalt angenommen; für Kunstreich ein “Kulturbündnis zwischen Mob und Elite”, in dem Walser “der Wiedergänger der Tragödie als volkstümliche Komödie ist – was ihn keineswegs harmlos macht”. Anhand der Mahnmaldebatte wird ihm deutlich, “daß nach Auschwitz eine halbwegs widerspruchsfreie deutsche Identität nur möglich ist, wenn die deutschen Verbrechen zur Legitimation der Interessen des heutigen Deutschland dienen können”. Den großen Wurf in diese Richtung sieht er in der Subjektivierung der Verbrechen; diese nämlich “kennt nur noch die Moral, und so kann sich eben ein SS-Aufseher anständig verhalten haben, ein inhaftierter Kommunist hingegen ganz und gar nicht”. Der Kosovo-Krieg schließlich bringt die Befreiung der Deutschen von Auschwitz zu einem vorläufigen Abschluß. Die Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg basiert auf der Erfindung eines Völkermordes: Deutschland ist endlich Teil der Koalition gegen die ‘Hitler‘ der Peripherie geworden”. Das alles geht durch und fundiert das aktuelle Selbstbewußtsein Deutschlands. Das mittlerweile neue Staatspersonal hat sich nicht zuletzt durch sein Kriegsgeschäft in der Republik ebenso eingerichtet wie die Gewehr bei Fuß stehenden Intellektuellen, die sich in Sorge um ihren Staat, nationale Identität und Weltpolizei schier überschlagen und ihre jeweiligen Sinnstiftungen im Kollektiv ansiedeln. Eine vom Autor konstatierte “völkische Sehnsucht, die sich zugleich rational und naturhaft” gibt, ist nämlich inzwischen wieder Konsens: Hauptstadtdebatte, die Stellung Deutschlands innerhalb der neuen Weltordnung, Standortfrage sollen die sozialen, politischen und zunehmend militärischen Vorgaben bestimmen – frei von alten Schuldfragen, Emanzipationsbestrebungen oder gar Klassenkampfallüren. Trotz Kritik am Antifaschismus, am geerbten Antisemitismus der deutschen Linken und der fehlenden Opposition zum Kosovo-Krieg, wird der Leser das Gefühl nicht los, die Linke komme zu gut weg bei Kunstreich. Deutliche Konturen gewinnt auf jeden Fall eine Entwicklung, in der Gesellschaftskritik und Begriff und Sache der Befreiung” einem fast allseitigen Mitmachen und Zuständigsein für Deutschland gewichen sind. Schlechte Zeiten also.

Aus: Archiv für die Geschichte der Arbeit und des Widerstandes N° 16 (2001), S. 784 f.

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