Michael Reich – Die Waffen der Kritik und die Kritik der Waffen * Rezension zu Kettner/Mentz (Hg.), Theorie als Kritik

Michael Reich

Die Waffen der Kritik und die Kritik der Waffen

1. Das Titelbild

Ein junger Mann, akzidentell langhaarig, ein Luftgewehr in den Händen, zu mehr reicht es im friedfertigen Deutschland nicht, liegt auf der Lauer. Der Blick folgt dem Lauf des Gewehrs, oder ist es umgekehrt? Beide sind nach oben gerichtet. Sollen wir schon hier dezent an die Existenz des Klassenverhältnisses erinnert werden? Oder ist der studentische, wenn nicht gar gymnasiale, Habitus unseres Jägers die dialektische Zurücknahme dieser Eindeutigkeit? Der Jäger wartet. Worauf? Stutzig macht schon, dass er nicht liest. Die gesammelten Bände von Marx und Engels – 32 sind sichtbar – sind einer anderen Verwendung zugeführt. Sie sind die Schutzwand gegen feindliche Kugeln, eingeschlagen ist aber noch keine. Nur wenige der Bände sind neu, doch keiner scheint gelesen, insbesondere die Grundrisse glänzen in einer Pracht, die einem Juweliergeschäft Ehre machen würde.

2. Der Arbeitskreis “Die Rote Ruhr Uni” stellt sich vor

“Hört auf zu studieren – fangt an zu begreifen!” Ist es das, was unser Student auf dem Titelbild tut? Begreift er? Zumindest studiert er nicht. Kritisiert er, theoretisiert er? Wir lernen: Die Verhältnisse sind kompliziert. Immerhin: Vorm “Elfenbeinturm” hat man “keine Scheu”. Die Mitglieder des Arbeitskreises treiben sich aus “Schwäche im Theoretischen” herum und haben mit “Akademismus” nichts “am Hut”, sondern sehen sich als “Intellektuelle in freier Wildbahn”. (8) Was der Sammelband möchte, wird nicht verraten. Ist er die praktische Affirmation des Titels des Buches? Ist er “Theorie als Kritik”? Reicht dies hin, einen Gebrauchswert für den Lesenden zu generieren? Wollen sich die einzelnen Autoren in aktuellen Diskussionen positionieren? Ist er eine Einführung in wesentliche Aspekte der Marxschen Gesellschaftstheorie und ihrer Weiterentwicklung durch die Kritische Theorie? Letzteres scheint der Fall. Aber warum dann diese sechs Aufsätze und nicht andere?

3. Fabian Kettner über Theorie und Praxis

Dieses elende Verhältnis. Man möchte und man kann nicht und dann fragt man sich warum. Dann weiß man warum und man kann immer noch nicht. Dabei ist der Text eine gute Einführung in das Verhältnis linker Theorie und linker Praxis. Kettner beleuchtet es in seiner Vielschichtigkeit. Er richtet sich gegen das Postulat der Einheit von “Theorie und Praxis”, gegen das Primat der praktischen Intervention vor der theoretischen Durchdringung der Verhältnisse. Er wehrt sich gegen die Indienstnahme der Theorie durch eine Bewegungslinke. Gegner ist damit der unreflektierte “Praktiker”. Theorie ist dabei keine “Abbildung” des Unrechts der Welt. Das Unrecht und Leiden existiert, kann immer nur der Ausgangspunkt sein für die Frage, warum es existiert. Es muss allerdings der Ausgangspunkt sein. Der Rassist wird an Barack Obama leiden, andere an anderem. Warum man leidet, wenn man an Obama leidet, wird einem das Leiden selber nicht verraten. Schließlich erschöpft sich das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht in sich selbst. Kettners Bekenntnis zum Glauben am Schluss des Textes gerät leider sehr kurz. Da hätte ich gern mehr erfahren.

4. Dirk Braunstein übt Kritik

Braunsteins Position findet sich in folgenden Sätzen wieder: “Kritik und ihr Gegenstand sind derart vermittelt, dass eine umfassende Theorie der Gesellschaft aufgrund ihres Gegenstandes eine Kritik derselben erzwingt. … Eine Gesellschaftstheorie, die aufs Ganze der Gesellschaft geht, muss notwendigerweise Gesellschaftskritik sein.” (32) Was heißt hier “muss notwendigerweise”? Wenn es so einfach wäre, wären (fast) alle KritikerInnen KritikerInnen der Gesellschaft. Gerade der Ausgangspunkt aller Kritik im eigenen Leiden und am Leiden der Welt wie auch der (durchaus) naive Glaube an ihre Besserung, verschwinden in solchen dramatischen Formulierungen. Darüber hinaus klingt es natürlich toll, wenn man schreibt, dass Kritik sich keines äußerlichen Maßstabes bedienen dürfe, sondern zutiefst mit ihrem Gegenstand vermittelt sei, es ist nur die Frage, was das bedeutet. Gelungen sind die Passagen zum kritischen Rationalismus und zur Verteidigung der destruktiven Kritik.

5. Sven Ellmers zu Korporation und Sittlichkeit

Ein wenig drängt sich einem bei einem Text, der die Hegelsche Rechtsphilosophie zum Thema hat, das Wörtchen “Akademismus” auf, aber sei‘s drum. Ellmers geht es im Wesentlichen um einen Vergleich der Marxschen und der Hegelschen Position zum Staat. Marx‘ Herangehensweise interpretiert er dabei in den Begriffen von Althusser und versucht damit das Basis-Überbau-Schema zu vermeiden. (61) Die Bedeutung des Staates für die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie sieht er in der Rechtsform als Voraussetzung des Austauschprozesses gegeben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses eine Moment ausreicht, um der Komplexität des Verhältnisses von Staat und ökonomischen Prozess gerecht zu werden. Gerade Hegels Sichtweise auf den Staat als integrierendes Moment der bürgerlichen Gesellschaft verweist m.E. auf die Bedeutung des Staates als Krisenlösungsagent (im Guten wie im Schlechten). Die Frage, die sich an dieser Stelle ergibt, ist, ob Marx das unterschätzt. Leider diskutiert Ellmers dieses Problem nicht. Er legt den Fokus mehr auf die Anachronismen in der Hegelschen Argumentation (Stände, Kooperationen).

6. Ingo Elbe und die Revolutionstheorie bei Marx

Elbe knüpft in gewissem Sinn an die Ausführungen von Kettner an und weist nach, dass die Arbeiterklasse als notwendig revolutionäres Subjekt bereits im Marxschen Spätwerk nicht mehr vorhanden ist. Marx Werk hat zwar geschichtsphilosophische Züge, diese sind aber der eigentlichen Kritik der politischen Ökonomie äußerlich. Marx Theorie sei “negative Theorie des Kapitals in praktischer Absicht”. (95) Für die kommunistische Gesellschaft gilt ein “Bilderverbot”. (111)

7. Christoph Hesse vergleicht Warenfetisch und Kulturindustrie

und ich habe nicht ganz verstanden, warum er das macht. Hesse hält am Begriff der Kulturindustrie fest und will diese als das Wesensmoment der modernen Kultur verstanden wissen. Sein Text argumentiert damit gegen die Rede von der Vielfalt der Kultur. Im Versuch der Ausbuchstabierung dessen, was die Kulturindustrie sei, sieht Hesse jedoch verschiedene Probleme. Insbesondere hat Adorno Schwierigkeiten den Begriff des Fetischismus auf die Kulturindustrie anzuwenden. Er sei da am besten, wo er “intuitiv ins Dunkle schießt” (136). Vielleicht also ist unser Student auf dem Coverbild Adorno vor dem Schuss? Wichtig und richtig aber ist die Verteidigung Adornos vor dem Vorwurf der Kulturkritik.

8. Paul Mentz hat von der Antisemitismuskritik bei Adorno und Horkheimer gehört

Nein, sorry, so geht das nicht. Der Text ist eine einzige Ansammlung von Vokabeln der kritischen Theorie, die sich – immerhin, das wird durchgeführt – bestens als Phrasen eignen. Das Schwierige wird zum Dunklen und es ist nicht einmal gewollt. Wer einen Eindruck haben will, lese Seite 150.

Aus: Conne Island News Flyer (Leipzig) N° 160 (Dezember 2008)

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