Georg Koch – Rezension zu Gruber/Lenhard, Gegenaufklärung

Georg Koch

Rezension zu Gruber/Lenhard, Gegenaufklärung

Vielleicht haben sich kritische Zeitgenossen schon einmal gefragt, warum die angehende Adorno-Preisträgerin Judith Butler in der Burka nicht eine Form von Herrschaftsausübung und gesellschaftlichem Zwang, sondern ein Symbol der Würde der Frau erblickt, oder warum patriarchal strukturierte und homophobe islamistische Rackets von manchen als linke Bewegungen angesehen werden. Warum sind der in seinem Denken in den Nationalsozialismus verstrickte Philosoph Martin Heidegger und der als Kronjurist des Dritten Reichs bekannte Carl Schmitt Referenzen für Teile der gegenwärtigen Linken? Warum wird begrifflich vermitteltes, dialektisches Denken als “logozentrisch” und “totalitär” verworfen? Wie gelangt man zu einem Anti-Imperialismus, der die in der europäischen Aufklärung gründenden emanzipatorisch-revolutionären Potentiale als imperialistisch und kolonialistisch verwirft, aber Toleranz und Respekt gegenüber jedem noch so autoritären und regressiven, ethnisch-kulturalistischen Kollektiv einfordert? Könnte der proklamierte Tod des Subjekts nicht unreflektierter, krisenideologischer Ausdruck realer gesellschaftlicher Tendenzen und Herrschaftsverhältnisse im Spätkapitalismus sein? Was liegt einer zeitgenössischen Form der Judenfeindschaft zugrunde, die sich vom eliminatorischen Antisemitismus des NS distanziert, um gleichzeitig die Legitimität des aus der Verfolgung der Juden hervorgegangenen Staates Israel zu bestreiten?

Derartigen Phänomenen und ihrem philosophischen Kontext geht das hier besprochene Buch nach. Der programmatische Titel wirft die kritische Frage nach einem “Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie” (Adorno) auf, in dem die beiden Autoren nicht nur eine philosophische Strömung, sondern eine gesellschaftliche Tendenz sehen, die sich paradoxerweise als “progressiv” und “links” versteht.

Unter ,Postmoderne’ subsumieren die in dem Band versammelten Artikel eine hauptsächlich von französischen Denkern begründete philosophische Tradition, die vom Strukturalismus aus- und in den Poststrukturalismus übergeht und sich in ihrer heutigen Form als ein neuer Universalismus manifestiert. Das in dem Band entworfene Spektrum umfaßt nicht nur die bekannten französischen Meisterdenker, sondern bezieht ihren Vorläufer und Mitbegründer, den Psychoanalytiker Jacques Lacan ebenso mit ein wie zeitgenössische postmoderne Denker, etwa Judith Butler, Peter Sloterdijk, Giorgio Agamben und – durchaus begründet – den Vordenker des radikalen Islam, Sayyid Qutub. Ein derartig umfassendes Projekt, das sich über Einzelanalysen hinaus kritisch mit den Grundlagen des postmodernen Denkens auseinandersetzt, ist bisher rar und angesichts der breiten, meist affirmativen Rezeption dieser Strömung eine begrüßenswerte Intervention und Provokation.

Ist der gemeinsame Nenner des postmodernen “Programms einer Gegenmoderne auf der Basis der Moderne” (292) eine direkte oder indirekte Anknüpfung an die Philosophie Martin Heideggers, aber auch Carl Schmitts, so erscheint es plausibel, die Kritik daran in einem Begriff “Deutscher Ideologie” zu fundieren, der von Marx ausgeht, aber vor allem auf die Heidegger- und Ontologie-Kritik Theodor W. Adornos rekurriert. Von dort aus skizzieren die Herausgeber des Bandes einleitend die Entwicklung einer Ideologie, die von Stirner über Nietzsche und Heidegger bis hin zum Poststrukturalismus reicht. Verweist die systematische Auseinandersetzung bereits auf die historische Genese des postmodernen Denkens, stellen die Autoren ihre Kritik zudem auf ein materialistisches Fundament. Auf wert- und krisentheoretischer Basis zeigen sie, wie die realen Verhältnisse im Spätkapitalismus und deren Herrschaft über das Subjekt sich ideologisch affirmiert und mystifiziert in den Ansätzen Heideggers und der Postmoderne niederschlagen. Durch diesen komplexen Ansatz bringen die Autoren die kapitalismuskritische Substanz der Kritischen Theorie zur Geltung und bewahren deren dialektische Kategorien vor der Vereinnahmung durch das postmoderne Denken.

Erfreulicherweise wird dabei auch Jean Amery als erster deutscher Kritiker des (Post)-Strukturalismus wiederentdeckt. In ihrer vorzüglichen Darstellung erinnert Birte Hewera daran, welche Wirkung der ausgerufene “Tod des Subjekts” und dessen Unterordnung unter die Struktur gerade auf den in Auschwitz auf eine Nummer reduzieren Überlebenden Amery hatte, der in Sartres Existenzphilosophie das Subjekt wiedergefunden und den Sinn der Resistance erfahren hatte. Eine solche Verbindung der Kritik zentraler postmoderner Theoreme und ihrer politischen Wirkung ist charakteristisch für diesen Band.

Die elf Artikel des Sammelbands, die alle auf einem intensiven Studium der Primärquellen beruhen, lassen sich als ein zusammenhängendes, arbeitsteiliges Projekt lesen.

Martin Dornis erörtert in seinem Artikel “Zur Kritik der Ideologie des Todes” die zentralen Topoi des Todes und der Angst in Heideggers Ontologie. Mit Blick auf die spätkapitalistische Entwicklung reflektiert er die der Heideggerschen Philosophie auch nach ihrer Metamorphose in der “Kehre”. Dabei diskutiert Dornis auch Sartres Heideggerkritik. Den für den Begriff postmodernen Denkens als Gegenaufklärung wesentlichen inhärenten Regressionsprozeß der Dekonstruktionsphilosophie arbeitet Alex Gruber in seinen Beitrag “.Dekonstruktion und Regression” detailliert heraus. Die philosophischen Anknüpfungspunkte sieht et in Carl Schmitts Abschied von Hegels dialektischer Vermittlung von Identität und Nicht-Identität, von Wesen und Erscheinung, an deren Stelle Schmitt die unaufhebbare und unvermittelbare “zweigliedrige Antithese” setze, ähnlich wie in Heideggers Seinsphilosophie. Im Denken der Dekonstruktion, das der Autor insbesondere an Jacques Derrida, aber auch an Judith Butler festmacht, manifestiert sich dies in der Figur radikaler, eigenständiger, vorgängiger und sich zugleich entziehender Alterität und Differenz, die sich gegen die Herrschaft des Logos, des Allgemeinbegriffs wendet. Gruber zeigt nicht nur immanent die damit verbundenen Aporien, zirkulären Argumentationen und Immunisierungsstrategien auf, sondern auch die vitalistischen und dezisionistischen Konsequenzen eines Kults des Unmittelbaren, der zwischen radikalem Individualismus und Heteronomie changiert.

Eine weitere Quelle der von der Postmoderne anvisierten regressiven Aufhebung des Selbstwiderspruchs des modernen Subjekts ist die freudkritische Psychoanalyse Jacques Lacans. In seiner Kritik der Lacanschen Topologie, die in eine Analyse von Lacans Text über “Kant und Sade” mündet, die deren Weg vom Leiden des Subjekts zum Opfer des Subjekts beschreibt, differenziert Tjark Kunstreich zwischen Lacans psychoanalytischem Ansatz und dem philosophischen Lacanismus. So fragt er auch, woher die Anziehungskraft von Lacans Psychoanalyse auf Homosexuelle und Auschwitz-Überlebende in den 1950ern rührte.

Gerhard Scheits Beitrag zu einer “Vorgeschichte der Postmoderne” behandelt aus musikästhetischer und literaturtheoretischer Sicht den Strukturalismus insbesondere von Claude Levi-Strauss und fragt nach seinem Verhältnis zur “klassischen” Avantgarde. Ein Vergleich zwischen Georges Sorel, Syndikalismus-Theoretiker und Inspirator des Faschismus als Massenbewegung, dem Antifaschisten Georges Bataille und dem Poststrukturalisten Michel Foucault erscheint auf den ersten Blick fragwürdig. Das tertium comparationis sieht Florian Ruttner in einem Kult der Unmittelbarkeit politischer Praxis, der sich in einem “Mythos des Radikalen” hypostasiere. Der “Verrat an Aufklärung, Vernunft und Individuum”, dem der Autor auf der Spur ist, ist in Sorels mythischer und vitalistischer Konzeption einer “primitiven Demokratie”, in der die Masse als einheitliches Kollektiv den Souverän gegenüber dem bürgerlichen Staat bildet, und in Batailles Sakralsozi ologie mit ihrer mythischen Glorifizierung von Kollektiv, Opfer und Tod evidenter als bei Foucault. Den Vergleichspunkt erblickt der Autor in der Wiedereinführung des Subjekts in Foucaults Spätwerk, die aus dem Widerspruch zwischen einer “Ontologie der Macht” und der Frage nach der Möglichkeit von Widerstand resultiere. Ruttner macht die Konzeption des widerständigen Subjekts an Foucaults Texten zur iranischen Revolution fest, in deren Zentrum der Begriff einer die Moderne überwindenden “politischen Spiritualität” stehe, die die revolutionäre Bewegung an sich mystifiziere. Foucaults Denken, so resümiert der Autor, verfalle in eine Dialektik der Aufklärung, in der Aufklärung in Mythologie umschlägt. Philipp Lenhard zeigt in seinem Beitrag “Sein zum Tode” Parallelen zwischen dem Theoretiker des radikalen Islam, Sayyid Qutb, und Martin Heidegger auf. Manfred Dahlmann schließlich analysiert die zeitgenössische Variante deutscher Ideologie in Gestalt der Philosophie Peter Sloterdijks.

Das Subjekt, seine Existenz oder Nicht-Existenz und, damit verbunden, die Bestimmung des Politischen sind die entscheidenden Themen Alain Badious, mit dessen neuem Universalismus sich Niklas Machunsky auseinandersetzt. Machunsky zeigt, daß Badious antiindividualistische Vorstellung eines revolutionären Subjekts, das sich im revolutionären Ereignis von der “inkonsistenten” zur “konsistenten” Masse entwickelt, dabei die Kluft zwischen Sein und Dasein zeitweise überwindet (227) und dem Ereignis deshalb unbedingte Treue und Glauben schuldet, auf eine existenziale, von allen konkreten Bestimmungen abstrahierende Uminterpretation des Rousseauschen Begriffs der Volkssouveränität zurückgeht. Indem er das Politische als Ausdruck “wirklicher Konsistenz” und das Volk als “wirklichen Souverän” faßt, um der Konsensdemokratie des bürgerlichen Staates eine vermeintlich wahre Demokratie entgegenzustellen, nähert sich Badiou, obwohl er dies bestreitet, Carl Schmitt an. Auch für Schmitt ist die Bestimmung des Souveräns keineswegs an einen Staat gebunden. So verwundert es nicht, daß Badiou in islamistischen Rackets Vorbilder für homogene revolutionäre Volkskollektive erblickt, obwohl er deren religiösen Partikularismus kritisiert. In den sich mit dem Ereignis identifizierenden, von revolutionärer Wahrheit und existenzieller Intensität ergriffenen Kollektivsubjektcn sieht Badiou die marxistische (!) Lösung der Krise des Politischen, des Auseinanderfallens von revolutionärer Theorie und Bewegung. Marxisten müßten wieder lernen, sich den Impulsen der Massen zu unterwerfen, sprich: dem Volk zu dienen. Wie Machunsky treffend bemerkt, läuft Badious Revolutionstheorie auf einen philosophischen Maoismus hinaus.

Der Verzicht auf begriffliche Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse läßt an dessen Stelle bloße Feindbilder treten: das Finanzkapital und – wie könnte es anders sein – den Staat Israel.

Wer sich mit Wesen und Geschichte des Antisemitismus befaßt hat, weiß, daß sich dieser mal als partikularistisch, mal als universalistisch begründetes Stereotyp präsentiert. Vom Standpunkt einer sich konkretistisch verstehenden, organisch-homogenen Einheit als Volk, Rasse oder Kultur gilt das Judentum als abstrakt-zersetzend und gleichermaßen als Ursache von Kapitalismus, Liberalismus wie revolutionärem Universalismus. Vom Standpunkt eines wie auch immer begründeten Universalismus dagegen erscheint das Judentum als rückständiger Partikularismus, als dessen Ursache seine religiösen Wurzeln gelten. Dies gilt auch für die anti-rassistisch begründete Israelfeindschaft bestimmter postmoderner Denker, die Philipp Lenhard zufolge in einem “negativen Universalismus” wurzelt. In diesem Begriff des “negativen Universalismus” verbindet sich – grob skizziert – nach Lenhard eine ontologisch gedachte “Heimatlosigkeit mit der Figur des Flüchtlings und Staatenlosen”, die schon Hannah Arendt thematisiert hat. Die bei Arendt angelegte Relativierung wird, wie der Autor kritisch vermerkt, manifest bei Denkern wie Etienne Balibar, aber auch, wenngleich sehr abstrakt, bei Giorgio Agamben, die jene Heimatlosigkeit allen voran auf die Palästinenser projizieren.

Mit Blick auf das Beispiel der “Sans papiers” oder der Jugendlichen in den Banlieus entwickelt Balibar den Begriff einer “europäischen Staatsbürgerschaft” als einer anti-etatistischen neuen Form der den unmittelbaren Volkswillen formulierenden politischen Gemeinschaft, die weder national noch imperialistisch sein soll (207). Lenhard weist auf die Tücken dieses direkten Demokratieverständnisses hin, dessen ideologische Fallstricke aber erst in ihrer Projektion auf die Palästinenser und den Staat Israel evident werden.

Aus: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie N° 55 (2012), S. 72 – 76

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