Florian Ruttner – Die Aktualität der Kritischen Theorie

Florian Ruttner

Die Aktualität der Kritischen Theorie

Der Sammelband “Feindaufklärung und Reeducation” Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus- thematisiert die Notwendigkeit von Gesellschaftskritik im Zeitalter des “Suicide Bombings” und provoziert die deutsche Justiz.

In diesem vom Wiener Politikwissenschaftler Stephan Grigat herausgegebenen Sammelband werden Vorträge publiziert, die auf dem Symposium “Feindaufklärung und Reeducation. Über die Notwendigkeit Kritischer Theorie heute” im November 2004 in Wien gehalten wurden. Der unmittelbare Anlass für dieses Symposium war eine Veranstaltung rechtsradikaler Burschenschafter, die unter dem Titel “Frankfurter Schule – die 9. Todsünde” ihrem Hass auf gesellschaftskritisches Denken, auf die Psychoanalyse und das Individuum freien Lauf ließen – Themen, welche die Kritische Theorie, wie sie vom Frankfurter Institut für Sozialforschung konzipiert wurde, immer zu retten suchte.

Dieser Veranstaltung sollte ein Symposium entgegengesetzt werden, das die Aktualität und die Notwendigkeit Kritischer Theorie hervorheben und einen Überblick darüber geben sollte, was diese denn eigentlich ausmacht. Einige der Beiträge des Bandes haben daher auch einführenden Charakter: die gesellschaftlichen Probleme, mit denen sich die Kritischen Theorie auseinandersetzt (an erster Stelle ist hier der Antisemitismus zu nennen), werden dargestellt.

Die Kritische Theorie wird nicht, wie das gerade in akademischen Kreisen gerne geschieht, mit dem Hinweis auf “neuere Diskurse” ad acta gelegt, als ob mit dieser auch die Probleme verschwunden wären. “Feindaufklärung und Reeducation” ist ein Buch, das nicht nur einen Überblick über die Intentionen und Grundmotive der Kritischen Theorie und deren praktischen Interventionen gibt, sondern dessen Beiträge auch zu aktuellen Themen kontrovers und gut informiert Stellung beziehen.

Wie unbequem derartiges sein kann, zeigen die Reaktionen des deutschen Staates auf den Sammelband. Am 27. Mai 2006 beschlagnahmte die Polizei im bayrischen Mittenwald 150 Flyer, auf denen das Cover des Buches abgebildet war. Die Flyer bewarben eine Vortragsveranstaltung mit dem Herausgeber des Buches, der Lehrbeauftragter am Wiener Institut für Politikwissenschaft ist. Auf dem Cover ist ein Foto abgebildet, das arabische Islamisten zeigt, die den Hitlergruß zeigen. Aus Titel und Untertitel, sowie dem ebenfalls auf dem Flyer abgedruckten Text des Buchrückens, geht klar hervor, dass sich dieses Buch ausdrücklich gegen Islamismus und Neofaschismus richtet.

Die Person, der diese Flyer von der Polizei abgenommen wurden, hat einen Strafbefehl über 60 Tagessätze à 40 Euro vom Amtgericht Garmisch-Partenkirchen erhalten. Sie wird beschuldigt “Gegenstände die Kennzeichen einer der im §86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen darstellen oder enthalten, zur Verbreitung oder Verwendung im Inland vorrätig gehalten zu haben”. Dies sei “strafbar als Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen”.

Die beschuldigte Person hat gegen diesen Strafbefehl Widerspruch eingelegt. Der dadurch notwendig gewordene Prozess wird am 10. Januar in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Der Buchtitel “Feindaufklärung und Reeducation” verweist darauf, dass im Zentrum der Beiträge sowohl die Versuche des Instituts für Sozialforschung stehen, im Exil in den USA diese bei ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen, als auch die Rolle, die das Institut in den postnazistischen Nachfolgestaaten des Dritten Reiches spielte.

So beschäftigt sich eine Reihe von Beiträgen mit den Arbeiten von Theoretikern des Instituts wie Herbert Marcuse für das Office for Strategic Services, einen US-Nachrichtendienst. Die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnissen über den Nationalsozialismus und die Rolle der USA, die diese Betätigung der Kritischen Theoretiker erst ermöglichte, werden gewürdigt, aber es wird auch auf die Ambivalenzen und Problemen, die mit solcher praktischen Kritik einhergehen, eingegangen.

Die Form der Gesellschaftskritik, die um den Kreis von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno formuliert wurde, sperrt sich gegen “Anschlussfähigkeit”. Dem praktischen Mitmachen steht sie, wie das ein weiterer Mitarbeiter, Leo Löwenthal, in einem Interview auf den Punkt brachte, ablehnend gegenüber: “Mitmachen wollte ich nie”.

Was diese Nonkonformisten dann doch dazu brachte, in Staats- und Militärstellen zu arbeiten, war die Einsicht, dass die Bedingung der Möglichkeit für Kritik und Aufklärung selber von Faschismus und Nationalsozialismus bedroht wird, dass, wie es der Wiener Publizist Gerhard Scheit es in dem Band formuliert, “die Voraussetzungen, die unmittelbar nicht das Positive sind und als positiver Standpunkt nicht hypostasiert werden dürfen, allein um der unmittelbaren Möglichkeit der Kritik willen zu retten” sind.

Das Urteil darüber, welche Früchte die Versuche des Instituts trugen, nach dem Sieg der Alliierten in Deutschland und Österreich diese Basis der Aufklärung wiederherzustellen, fällt in dem Band ernüchternd aus. In Österreich wurde Adorno als “Ruhestörer” verachtet, ignoriert oder voll Ressentiment, aus dem aus allen Ecken und Enden die völkische Weltanschauung lugte, nur als abgehobener Musikphilosoph wahrgenommen.

In Deutschland, wo Adorno zwar mehr rezipiert wurde und seine Schriften auch in der Studentenbewegung immer wieder herangezogen wurden, wurde von Teilen dieser eine ähnliche Polemik gegen ihn geführt. Daran und an die Resultate und Wandlungen der Studentenbewegung knüpft ein weiterer Beitrag an, der die Zusammenhänge zwischen Freiheitsbewegung und autoritärem Staat untersucht.

Dabei wird auf den von der Kritischen Theorie formulierten Begriff der autoritären Rebellion Bezug genommen und so die ablehnende Haltung Adornos der Studentenbewegung gegenüber verständlich gemacht. Dabei geht es den Autoren und der Autorin keineswegs um pure Huldigung, um ein “Zu-Tode-Feiern” irgendwelcher Geistesgrößen, wie es bei Jubiläen und Sammelbänden immer droht, wenn die Intentionen der Gefeierten unter einem Schwulst von Lobhudelei begraben werden. Im Gegenteil, es geht um eine Aktualisierung der Intentionen der Kritischen Theorie, um eine Schärfung der Waffe der Kritik. Die Frage “Was könnte Feindaufklärung und Reeducation heute bedeuten?” wird konkret gestellt. So widmet sich der Band auch der Kritik einer Bewegung, die das Individuum dem Kollektiv unterordnet, und in der ein mal offener, mal als Antizionismus camouflierter Antisemitismus gang und gäbe ist: dem politischen Islam.

In diesem Zusammenhang wird gezeigt, dass die verbreitete Rede von einer “Islamophobie” nichts weiter als die Übernahme eines aus dem Islamismus kommenden Kampfbegriffs ist. Dabei wird auch das Verhältnis traditionslinker Gruppen zum Islamismus kritisiert, die in ihm nicht nur einen möglichen Partner sehen, sondern auch in Sachen Antiamerikanismus und Antizionismus inhaltliche Überschneidungen mit diesem aufweisen und dabei teilweise fast ununterscheidbar werden.

Gegen diese Tendenzen werden vom Herausgeber Stephan Grigat die Zusammenhänge von Kritischer Theorie und Zionismus analysiert, und es wird den Wurzeln des grassierenden Antiamerikanismus in Europa und anderswo nachgegangen.

“die jüdische” 31.10.2006

Spenden für die zu erwartenden Prozeßkosten können an folgendes Konto unter dem Stichwort “Prozeßkosten Garmisch-Partenkirchen” überwiesen werden: ISF e.V., Postbank Karlsruhe, Konto 2260 45-756, BLZ 660 100 75.

Rückfragen: info@isf-freiburg.org

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