Stephan Grigat

Krieg zwischen Freiheit und Gleichheit

Ende der 1980er-Jahre schickte Deutschland sich an, durch die Wiedervereinigung die letzten Reste seiner seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Souveränitätsbeschränkungen abzuschütteln. Damals besann sich ein zahlenmäßig noch relevanter Teil der Linken auf einen Ausspruch von Marlene Dietrich.

Auf die Frage, ob sie in das Land von Massenmord und Vernichtungskrieg zurückkehren werde, soll die Sängerin und Schauspielerin während einer Tour für US-Soldaten geantwortet haben: “Deutschland? Nie wieder!” Unter diesem Motto fand 1990 in Frankfurt mit rund 20.000 Teilnehmern eine der wenigen Gr0ßdemonstrationen gegen die Wiedervereinigung statt. Getragen wurde sie von einem reichlich heterogenen Haufen von maostalinistischen Kleingruppen und DDR-nostalgischen Sozialisten über Teile der Grünen und autonomen Haudraufs bis zu jenen Zirkeln, aus denen in den folgenden zwanzig Jahren eine Gesellschaftskritik formuliert werden sollte, die sich in Bezug auf die Kritische Theorie Adornos bei der Restlinken nachhaltig unbeliebt machen sollte.

Jan Gerber vom Leipziger Simon-Dubnow-Institut hat in einer akribisch recherchierten Studie die Geschichte der deutschen Linken und die Herausbildung einer “antideutschen Strömung” als einem eigenständigen gesellschaftskritischen Pol aufgeschrieben. Als Folie dient ihm der Bruch, den der Untergang des autoritären Staatssozialismus keineswegs nur für Honecker- und Breschnew-Fans, sondern für die gesamte Linke bedeutete. Vor dem Hintergrund der Metamorphosen, welche die radikale Linke in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat, stehen die organisatorischen Ausdifferenzierungen im Zentrum, die vor 20 Jahren in der deutschen Linken geführt wurden: zunächst anläßlich der Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs des Ostblocks, dann angesichts des Golfkriegs 1991 du der Bedrohung Israels mit irakischen Scud-Raketen.

Zu Recht weist Gerber darauf hin, daß kaum eine linke Gruppierung in den letzten Jahren von erbittert geführten Auseinandersetzungen über die Bedeutung des Zionismus, die Rolle der USA und die Einschätzung von regressiven Formen der Kapitalismuskritik verschont geblieben ist. Wer den Hintergrund dieser Debatten verstehen möchte, ist mit Gerbers Studie bestens bedient, in der überzeugend erklärt wird, aus welchen Quellen sich das mehrheitslinke Ressentiment gegenüber dem jüdischen Staat und die Parteinahme linker Staatskritiker für die Selbstverteidigung Israels andererseits speist.

Doch es geht keineswegs allein um die Linke in Deutschland. Gerber stellt sein Thema in den historischen Kontext eines “Weltbürgerkrieges” zwischen Freiheit und Gleichheit, der im kurzen 20. Jh. Von der Oktoberrevolution bis zum Kollaps der UdSSR die Auseinandersetzungen in und um die Linke geprägt habe. Er liefert eine präzise Darstellung jenes “antiimperialistischen Weltbildes”, das für Jahrzehnte für fast alle Fraktionen der Linken charakteristisch war.

Gerber kritisiert diese antiimperialistische Weltsicht, ohne die gravierenden Unterschiede zwischen dem Antiimperialismus ei9nes Schlächters wie Saddam Hussein auf der einen und jenen eines Ho Chi Minh auf der anderen Seite zu verwischen. Die Ignoranz gegenüber dem volksgemeinschaftlichen Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus, auf den schon deswegen nicht reflektiert werden durfte, um auch in den postnazistischen Staaten am Proletariat als revolutionärem Subjekt festhalten zu können, wird ebenso analysiert wie die Grundlagen jenes zum Dogma erstarrten “Nie wieder Krieg”, das bei fast jeder größeren Auseinandersetzung innerhalb der Linken mit dem Postulat “Nie wieder Auschwitz” in Konflikt geriet. Gerber formuliert eine Kritik am traditionellen Antifaschismus, der im “paradoxen Versuch” mündete, “den historischen Nationalsozialismus der dreißiger Jahre in den neunziger Jahren mit den Mitteln und der Ästhetik der zwanziger Jahre zu bekämpfen.”

Trotz seiner nüchternen Sprache ist der Band mehr als eine distanzierte Darstellung historischer Fakten: Er beinhaltet einer Kritik an einer Linken, die das Individuum immer wieder dem repressiven Kollektiv geopfert hat, und hält ein Plädoyer für eine “Synthese von Freiheit und Gleichheit auf kapitalismuskritischer Grundlage.” Publiziert wurde das Ganze von einem Verlag, der sich genau das zum Programm gemacht hat.

Aus: Der Standard (Wien) vom 30. April 2011

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