Tilman Vogt – Protest als Projektion * Rezension von: Jens Benicke, Von Adrono zu Mao

Tilman Vogt

Protest als Projektion

2009 kam es in Hamburg zum Skandal, als eine antiimperialistische Gruppe die Vorführung des Filmes «Warum Israel» von Claude Lanzmann gewaltsam verhinderte, Besucher der bekämpften «prozionistischen Veranstaltung» wurden bespuckt und geschlagen. Ähnlich brachial geht es zu, wenn sich militante Linke verbal auf die Politik Israels einschießen und in der Blockade des Gazastreifens eine «faschistische Politik» am Werk sehen wollen. Mit der öligen Ermahnung, die Opfer von damals seien die Täter von heute, gipfeln derlei Tiraden schließlich in einem leiernden Bonmot, an dem nur Gutes finden kann, wer an der Relativierung des Holocausts seine Freude hat.

In den letzten Jahren wurde deshalb die Untersuchung eines «neuen Antisemitismus» von links immer mehr zum Thema: Ist es doch kaum verständlich, daß gerade vom Humanismus beseelte Aktivisten, die sich traditionellerweise besonders sensibel gegenüber rechten Tendenzen zeigen und für Solidarität mit deren Opfern einstehen, im Umgang mit Israel und auch der jüdischen Diaspora Ressentiments an den Tag legen, die denen ihrer politischen Gegner kaum nachstehen.

Einen ebenso schrillen wie peinlichen historischen Erklärungsversuch hierfür lieferte Götz Aly mit seinem Revolutionsschocker «1968. Unser Kampf», in dem er den revoltierenden Studenten der Sechziger Jahre unterschob, vom selben Geist getrieben worden zu sein wie ihre Nazieltern. Eine Art bedächtigen Gegenentwurf zu Alys kalkuliertem Aufreger hat nun Jens Benicke mit seiner Studie «Von Adorno zu Mao» vorgelegt. Ausgehend von der Studentenbewegung klopft auch Benicke die linke deutsche Nachkriegsgeschichte auf ihr Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit, zu totalitären Verhaltensweisen und schließlich zu Israel ab. Er verzichtet dabei jedoch gänzlich auf die Pose des dabeigewesenen Renegaten, der mit zitternder Stimme die erlebten Ungeheuerlichkeiten denunziert.

So geht es ihm erst einmal um die immanente Rekonstruktion der antiautoritären Revolte und ihrer Innovationen, die zur Bezeichnung «Neue Linke» führten. Das Neue bestand in Deutschland nicht zuletzt in der Wiederaufnahme der von den Nazis als «jüdisch» bekämpften und zur Emigration gezwungenen Denkschulen der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie. Während diese auch von der alten Arbeiterbewegung zumeist ignoriert worden waren, übten sie nun über Philosophen wie Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno großen Einfluß auf die Theoriebildung der Studenten aus. Auch die Bekämpfung der Kontinuitätslinien zwischen der Naziherrschaft und der jungen, wirtschaftwundernden Bundesrepublik attestiert den 68ern ein ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein. Äußerte sich der Antifaschismus zuerst im Anprangern von exponierten Altnazis in Wirtschaft und Staatsdienst, wandelte er sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einer Kritik der gesellschaftlichen Struktur, die den Triumph des Faschismus überhaupt möglich gemacht hatte und noch weiter ermöglichte: Denn wie die Studenten an dem ihnen entgegenschlagenden Hass feststellen konnten, prägte der autoritäre Charakter 1968 noch immer weite Teile der deutschen Bevölkerung. Neue Erziehungsmethoden, Mißtrauen gegenüber jedwedem Führertum und eine generelle Infragestellung der abstumpfenden Konsumgesellschaft sollten als Antiserum Wirksamkeit entfalten. Anhand von Benickes Darstellung lassen sich aber auch schon früh die Fallstricke dieser antifaschistischen Rigorosität erahnen: In der 1968 verabschiedeten Notstandsgesetzgebung meinte man «NS-Gesetze» zu erkennen. Von der richtigen Annahme ausgehend, der Faschismus kündige sich schon vor seiner Durchsetzung in kleinen Schritten an, geriet jeder gesellschaftliche Konflikt potentiell zum Kampf ums Ganze.

Da diesen Kampf außer den Studenten jedoch kaum jemand führen wollte, kam es schon bald zum Niedergang der Bewegung. Der Autor skizziert diesen als abrupten Bruch mit den antiautoritären Überzeugungen: Frustriert von der eigenen Ohnmacht wandte man sich nun maoistisch-stalinistischen Parteigründungen zu. Es kam es zur Entstehung der sogenannten K-Gruppen. Anstatt die Autorität zu kritisieren, paukten die Parteikader nun die Wahrheiten des «Großen Vorsitzenden». Innerhalb der Gruppen herrschte eiserne, «proletarische» Disziplin, lange Haare und lustbetontes Leben waren verboten, so daß ein jeder Spieß seine Freude daran gehabt hätte. Die Selbstkasteiung der oftmals aus wohlhabendem Hause stammenden Studenten gehört sicherlich zu den absurdester Phänomenen jener Zeit. Ganz so schlagartig, wie Benicke die Wende von dem libertären Aufbruch. zur maoistischen Kulturrevolution beschreibt, kann der Gesinnungswandel vermutlich jedoch nicht vostattengegangen sein. Sowohl in einem gewissen Avantgarde- und Aufklärungsbedürfnis als auch in der ausufernden Politisierung der Gesamtkultur finden sich zumindest formale Analogien beider Tendenzen, nicht von ungefähr wetterte Adorno mit ähnlichem Furor gegen Popmusik wie Mao Ze-dong.

Der differenzierte Blick auf die Verstrickungen der Bevölkerung in den Nationalsozialismus wurde bald von einer muffigen Verherrlichung des einfachen Mannes abgelöst. Nicht nur das: Der Rekurs auf den Stalinismus machte die Heroisierung ehrlicher Arbeit ebenso zur Pflicht, wie Intellektuellenfeindschaft und unverhohlener Nationalismus fröhliche Urständ feiern konnten und antisemitischer Argumentationsfiguren Raum gaben.

Auf der internationalen Ebene wurde solch ein manichäisches Weltbild durch die Ideologie des Antiimperialismus vorangetrieben. Ausgehend vor den antikolonialen Befreiungsbewegungen und dem Protest gegen den Vietnamkrieg halluzinierte man sich in eine Reihe mit den Kämpfen in der Dritten Welt, so daß irgendwann selbst Deutschland zum Kolonialopfer der Imperialisten mutierte. Die Flaute an der revolutionären Heimatfront führte so nicht selten zu einer wahnhaften Denkakrobatik, die auch brutalste Despotien – stellten sie sich nur konsequent gegen den Westen – zum Objekt ungebremster Idealisierung erkor. Verlierer dieses Schablonendenkens war Israel, dessen Aktionen man nach dem Sechstagekrieg konsequent dämonisierte.

Übergeordnetes Merkmal dieser doktrinären Realitätsverweigerung war die Bekämpfung aller nicht dem ideologischen Raster sich fügen wollenden Positionen und Partikularitäten. Das Mustersubjekt bildete die Marschkolonne, statthafte Einheiten waren Nationen und Völker; individuelle Schicksale, die dem propagierten Deutungsschema widersprachen, wurden gar als Provokation gesehen. Dies betraf in besonderem Maße die Judenvernichtung im Dritten Reich: Da diese sich nicht so einfach in die Triumpherzählung der kämpfenden Arbeiterklasse eingliedern ließ, mußte der Holocaust verharmlost oder als «zionistische Propaganda» etikettiert werden. Benicke ruft dem Leser grausige Ereignisse in Erinnerung, etwa einen von linken Terroristen just für den 9. November geplanten Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin. Solche Aktionen, wie auch Parolen, es gelte den Faschismus im «Parasiten»-Staat Israel zu bekämpfen, zeigen, mit welcher Vehemenz sich Teile der Linken von dem «Judenknacks» (so der Kommunarde Dieter Kunzelmann) loszuzerren versuchten und so puren Antisemitismus gebaren.

In welchem Maße Schuldabwehr und Judenhass die politische Positionsbildung der Linken beeinflußten, bleibt allerdings trotz der in dem Buch minutiös betriebenen Rekonstruktion im Unklaren. Etwas zu schnell ist das Urteil des Ressentiments bei der Hand, ohne daß erkennbar wäre, ob Schmähungen durch originär antijüdische Einstellungen motiviert waren oder einem gröberen ideologisierten Deutungsraster entsprangen, das allen imaginierten Gegnern mit unterschiedsloser Aggressivität entgegentrat. So hätte sich bei vielen antiisraelischen Äußerungen wohl der Vergleich mit der rhetorischen Behandlung anderer erklärter «Feinde der freiheitsliebenden Völker » als aufschlußreich erwiesen. Ebenso wäre im Bezug auf den scheinbar deutschen Reflex der Schuldumkehr ein kontrastierender Blick auf die europäische Linke hilfreich gewesen, wenngleich dies den Rahmen der ansonsten vorzüglichen Studie wohl gesprengt hätte.

Das Thema des Antisemitismus von links bleibt also weiter brisant, umso mehr, als sich durch die Inflationierung des Faschismusvorwurfes wenig erklären läßt. Aus Benickes Studie erfahren wir, daß der Nazivorwurf auch in den sechziger Jahren ein beliebtes Spiel war: Adorno und Habermas als auch die Bild-Zeitung meinten unter den Studenten linken Faschismus wirken zu sehen, diese gaben die Anschuldigung einfach zurück. Auch auf der internationalen Ebene gab es wohl kaum einen Staat, der nicht als Widergänger des «Dritten Reiches» adressiert worden wäre, bei den USA und Israel schien man sich nur schneller einig zu werden.

Eine weitere interessante Erkenntnis: Bis ins Jahr 1967 dominierte in der deutschen Linken ein durch latente Schuldgefühle gespeister Philozionismus. Daß nach einer starken Idealisierung, die die kraftstrotzende Aufbauleistung der Avoda Ivrit und die Tsahal ebenso heroisierte, wie sie das Leid der Palästinenser ignorierte, unmittelbar dazu übergegangen werden konnte, den jungen Staat in Bausch und Bogen zu verdammen, läßt tief blicken: Ähnlich wie bei den antikolonialen Kämpfen schien man die entfernten Konflikte vor allem als Projektionsfläche für die eigenen moralischen Reinheitsbedürfnisse zu gebrauchen. Enttäuscht wandte man sich von den Opfern des Holocaust ab und stempelt sie zu Tätern des Imperialismus, als sie aus den eigenen Idealisierungsvorgaben ausscherten. Wo es aber immer nur Täter und Opfer geben soll, verschwinden die realen, vielschichtigen Subjekte. Der Antisemitismus ist wohl die Entsubjektivierungsideologie par excellence, egal ob von rechts oder links. Benickes Schilderung des Niedergangs der antiautoritären Bewegung bietet dafür reichhaltiges Anschauungsmaterial und stellt uns für heute die Aufgabe, mit dem Fortwirken ihrer «schlechten Aufhebung» zu brechen.

Aus: Jüdische Zeitung Nr. 5 / 2011

Trennmarker