Rezension – Johannes Agnoli, 1968 und die Folgen

Stefan Wirner

Über Agnolis “1968 und die Folgen”

erschienen in jungle world  Juli 1997

Kein schlechter Traum. Optimistische Essays aus den Sechzigern, pessimistische aus den Achtzigern. Mit der Zeit wurde Johannes Agnoli immer besser. Viel war im letzten Jahr die Rede von den “68ern”, und viele “68er” redeten auch. Wenn man Leuten wie Bernd Rabehl, Horst Mahler oder Rainer Langhans zuhörte, wurde man den Eindruck nicht los, “68” sei tatsächlich eine “nationalrevolutionäre” Bewegung gewesen und keine linke, emanzipatorische. Aber es gab Linke unter ihnen, einer ist z.B. Johannes Agnoli.

Im ça ira-Verlag ist eine Sammlung von Essays Agnolis erschienen: “1968 und die Folgen”. Sie beinhaltet Texte und Interviews aus drei Jahrzehnten. Jene aus den sechziger Jahren dokumentieren den Diskussionsstand der damaligen Zeit, jene aus den achtziger Jahren sind zum Teil visionären Charakters, was Agnolis Prognose der Entwicklung der Grünen anbelangt. Aus seinen frühen Texten sprechen manchmal ein unverhohlener Optimismus und ein gewisses Vertrauen in die als revolutionäres Subjekt so begehrte Arbeiterschaft. “Wenn man aber zufälligerweise mit einzelnen Arbeitern sich in der Kneipe unterhält, so erklären sie sich zwar als Antikommunisten, schicken uns in den Osten, sprechen sich aber gleichzeitig aus für die Verstaatlichung der Produktionsmittel und für die Abschaffung der Kapitalisten”, schreibt Agnoli, und man fragt sich, in welchen Kneipen er so verkehrte. Das Gros der Angestellten und Arbeiter sorgt sich heute eher um den “Standort Deutschland”, und wenn etwas abgeschafft werden soll, dann nicht die Kapitalisten, sondern die Ausländer, die dem deutschen Arbeiter angeblich die Arbeit wegnehmen. Agnoli aber erschienen die Leute nur “teilmanipuliert”, “sie haben noch unverschüttete Reste politischen Bewußtseins”. Wie man heute weiß, waren diese Reste zu gering, in Deutschland kam es zu keiner Zeit – anders als in Ansätzen in Frankreich oder Italien – zu einer Allianz von Arbeitern und Studenten. Agnoli weiß, warum: “Die Apo hat es in Deutschland schwer, weil der normale deutsche Bürger seine eigene Herrlichkeit und Macht findet, indem er sich mit der herrschenden Ordnung identifiziert.”

Die “sich anbahnende revolutionäre Periode” war schließlich doch nur eine postfaschistisch-restaurative, und in diesem Zusammenhang muß Agnolis “Versuch über Adornos historisches Ende” einer Revision unterzogen werden. Sein Vorwurf an Adorno lautete: “Dadurch, daß der Adornismus die Gewaltsamkeit des Aufstandes gegen ein gewaltätiges System in die zu kritisierenden Mißstände einbezog, verlor er seine praktische Qualität; gab nicht nur den Anspruch auf, die Wirklichkeit zu verändern, sondern wurde zu einem Bestandteil der Gesellschaft, aus der er ausbrechen wollte.” Womöglich hat Adorno aber schon damals Tendenzen der 68er-Bewegung gesehen, die erst jetzt, im Rückblick, entschieden kritisiert werden, z.B. die Haltung der 68er zum Staat Israel, der nicht selten als “imperialistisch” und “faschistisch” bezeichnet wurde. Wenn man die Entwicklung von Langhans, Rabehl und Mahler oder die Martin Walsers betrachtet, scheint Adornos Skepsis im nachhinein nicht unangebracht.

Agnoli wehrt sich im Vorwort seines Buches gegen die posthume Umdeutung der 68er-Revolte durch die “westlichen Wendehälse”: “Noch schlimmer allerdings als diese Abwerter sind die selbsternannten Nachlaßverwalter, vor allem der bekannteste B.R., der – damals eher eine Randfigur – sich nunmehr zu Berlin zum Hauptanführer der Bewegung (mit Dutschke) heraufspielt, um in erbärmlicher Weise die Revolte selbst auf das Geringe herunterzuspielen, das er selber war.”

Bewahrheitet hat sich Agnolis Analyse hinsichtlich der Grünen. In einem Gespräch mit Wolfgang Kraushaar aus dem Jahre 1983 sagt er vieles von dem voraus, was heute grüner Alptraum geworden ist. Die Frage, ob sich die Grünen an Wahlen beteiligen sollten, die Anfang der Achtziger noch ernsthaft diskutiert wurde, beantwortet Agnoli mit der Forderung, daß die Beziehung einer Emanzipationsbewegung zur Politik keine partizipative, sondern eine destruktive sein solle. Bereits im Jahre 1968 warnt er die Apo vor einem Weg ins Parlament: “Eine außerparlamentarische Opposition, die ins Parlament will, verliert ihre eigene Qualität und wird eine systemadäquate Kraft, die vielleicht durch die 5-Prozent-Klausel, nicht aber durch eine theoretisch begründete Strategie sich genötigt sieht, außerparlamentarische Opposition zu betreiben”. Erinnert sich noch jemand an das “außerparlamentarische Standbein” der Grünen? Agnoli geht es um eine Kritik der Politik. Sehr treffend kennzeichnet er “Realpolitik” als “einen ganz weiten und langfristigen Prozeß der Anpassung an und der Integration in den Staat”. Er prognostiziert, daß die grüne Partei “eine neue FDP wird, eine für Koalitionen verfügbare Partei” und daß sie dabei die politische Schizophrenie leben werde, “zur Hälfte Regierung und zur Hälfte Opposition” zu sein. Agnoli beschreibt das “Ströbele-Syndrom”: Mitglied einer Partei zu sein, die auf dem Balkan Krieg führte mit Toten unter der Zivilbevölkerung, immensen Zerstörungen und allem, was so dazugehört zu einem “gerechten Krieg”, und gleichzeitig gegen diesen Krieg zu protestieren.

Er widerspricht vehement der Annahme, ein alternativer Gebrauch der Institutionen sei möglich. Vielmehr bescheinigt er den bürgerlichen Institutionen eine gewisse “Klebrigkeit”: “Wenn man hineingeraten ist, dann wird man einfach aufgesogen, in die Klebmasse eingebaut.” Anhand des Begriffes der “Kompromißbereitschaft” zeigt er, wie die Grünen Schritt für Schritt hineingezogen wurden und sich hineinziehen ließen. Erst mit einem Bein ins Parlament, dann mit einem Bein in die Regierung und schließlich mit einem Bein in den Krieg. Aber immer voll da. (Und die Abstimmungen auf den Parteitagen 60 zu 40 für die Realos).

Scharf kritisiert Agnoli Bestrebungen innerhalb der Grünen, sich in die Mitte der Gesellschaft zu bewegen: “Die Sprengung der Links-Rechts-Achse ist seit jeher ein Programm der Rechten gewesen. Wer glaubt, über der Links-Rechts-Achse zu stehen, steht rechts über der Links-Rechts-Achse. Oder er steht in der Mitte, und die Mitte ist die schlimmste Form der Rechten, die es bekanntlich gibt.” Diese Sprengung der Links-Rechts-Achse ist aber gerade zum Markenzeichen von Rot-Grün geworden. Für Schröder gibt es keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur eine moderne, der grüne Außenminister kennt keine grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche: die Neue Mitte eben. Mit dem Schlagwort “Die Neue Linke” hätte die SPD die Bundestagswahl kaum gewonnen, die PDS aber brachte es wieder in den Bundestag.

Mancher Satz Agnolis klingt denn auch wie den Demokratischen Sozialisten, die jedes Zehntel hinter der Fünf wie die Oktoberrevolution feiern, ins Stammbuch geschrieben: “Die Parlamentspartei will nicht desintegrieren, sondern legislative Arbeit machen. Es liegt nicht in ihrem Interesse noch in der Verbesserung ihrer Funktionalität, Massen durch Bewußtmachung ihrer Situation aktiv zu radikalisieren. Vielmehr muß sie eine passive Radikalisierung zu erreichen versuchen; das heißt: sie wird aus ihr eine passive Wahlkonsumentenmasse machen, die sich für radikale Kandidaten entscheidet.” Wenn die PDS zur Demo ruft, kommen eben die Leute. Und wenn sie nicht ruft, kommen sie eben nicht.

Der Anpassung an das herrschende System setzt Agnoli “die Möglichkeit, Maulwurfarbeit zu betreiben” entgegen: in autonomen Organisationsformen, vom Wahlboykott bis hin zum wilden Streik. Sein Pessimismus (oder Realismus) der achtziger Jahre beschreibt treffender die gesellschaftliche Wirklichkeit, als es sein Optimismus, sein idealistischer Soziali smus der sechziger Jahre vermochte. Aber er glaubt an die Möglichkeit der Veränderung: “Dennoch war die Revolte nicht nur notwendig, sondern überdies, obzwar kein Erfolg, geschichtlich wirksam. Die gescheiterte Revolte indessen greift in die Geschichte ein, sie setzt Zeichen, die teils verschwinden, um später wieder aufzutauchen, sie verändern doch die Welt.” Man ist versucht, das zu hoffen, bevor die “Schnelligkeit des realen Prozesses” (Agnoli) wieder alles zunichte macht und am Ende doch Adornos pessimistische Geschichtsauffassung obsiegt: “Die Logik der Geschichte ist so destruktiv wie die Menschen, die sie zeitigt: wo immer ihre Schwerkraft hin tendiert, reproduziert sie das Äquivalent des vergangenen Unheils.”

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