Wolf-Dieter Narr – 1968. Vor Langweile werde ich unruhig

Wolf-Dieter Narr

1968 – Vor Langweile werde ich unruhig

1. Erinnerungen und Schindluder

Das ist nicht neu, daß mit Erinnerungen Schindluder getrieben wird. Insbesondere von denen, die “dabei” gewesen sind. Die größte Kunst des Menschen, Nietzsche wußte das besser als irgendjemand anderes moralgenealogisch, die von den meisten ausgeübte, von manchen bis zur Perfektion beherrschte Kunst besteht in den phantastischen Purzelbäumen der Rationalisierung, sprich: des Sich-die-Dinge-Zurechtrückens. So schustern sich an bestimmten Ereignisse Beteiligte oder auch interessiert Nichtbeteiligte diese Ereignisse und eigenes Verhalten/Nichtverhalten derart zurecht, daß sie in ihren Erinnerungsschuhen stolz, eitel und sei es auch nur rückwärtsgewandt besserwisserisch einherschreiten können.

Niemand entgeht solcher Rationalisierung ganz. Den Ausschlag geben die Grade. Am meisten selbstgerichtet stromlinienförmig konstruieren diejenigen, die Walter Boehlich die “aggressiven Hemdenwechsel” genannt hat. Solche sind gerade unter denen häufig, die pauschal und mit unklarem, nicht selten unlauteren Etikett “die Alt-68” genannt werden und/oder sich als solche zieren. Für diese “Alt-68er”, die nach 1989/90 geradezu sprunghaft zugenommen haben, gilt nicht primär die allemal zutreffende Goethesehe Einsicht, daß jede Generation die Geschichte von ihrer Perspektive aus neu- und umschreibe. “Tempora mutantur et nos mutamur in illis”, so lernte man früher gemäß dem Ludus Latinus I oder anderer lateinischer Trimm-Dich-Bücher. Was an den frischweiß Behemdeten so stört, ist ihre Art der damnatio memoriae, die geschichtsklitternde Züge trägt. Sie läßt im übertragenen Sinne aus den Gruppenphotos der Studentenbewegung, die eigene Person heraus- oder ummontieren.

Wenn sie doch schwiegen. Indes, mit ordentlich gebundener Krawatte der Biedermänner (und seltener der Biederfrauen) der 90er Jahre geben sie vor, die gültige Interpretation der sechziger Jahre zu bieten. Die indezent sich selbst überschätzende Prätention ist geblieben. Galt sie seinerzeit freilich der meist diffus beabsichtigten Veränderung, tritt sie heute mit feinem Schuh und ganzer Sohle auf dem auf, was seit den enttäuscht umgedrehten 1848er Liberalen “Realpolitik” genannt wird.

2. Nur mit Leidenschaft und Distanz geht”s

Es gibt nicht und nirgendwo die richtige Interpretation. Nur komparativ wird’s zutreffender oder verfehlt ‘die Sache’ eher. Eines ist allerdings ziemlich gewiß. Man kann ein Phänomenbündel wie die Studentenbewegung, deren Kontext, deren multivalente Wirkungen und Versandungen nur dann verstehen, wenn man zu verstehen ausgeht, wie Johannes Agnoli dies tut (und getan hat).

“Wer die Revolte von ‘1968’ mitgemacht hat, mitgetragen, mitgenossen und nicht nur in Form der Sympathie dabei war”, formuliert J.A. in der “Vorbemerkung in teils polemischer Absicht” zu seinen gesammelten, 1968 umkreisenden Aufsätzen, “sieht keinen Grund, sich von ihr zu distanzieren. Nicht nur alle Abwertung, alle Anschwärzung, alle Verleumdung, die inzwischen zum dreißigjährigen Jubiläum üblich geworden ist, lassen ihn vollkommen kalt. Die Revolte (übrigens eine europäische, und keine bloß deutsche, oder Berliner, oder Frankfurter) stellte einen gesellschaftlich-geschichtlich notwendigen Bruch in einer verfault gewordenen Lage dar” (Agnoli 1998, 7). “Ein sogenannter Protagonist kann Kritiker und Selbstkritiker sein, aber kann niemals distanziert sein, vor allem dann nicht, wenn er keine Notwendigkeit sieht, sich abzugrenzen und seine Geschichte zu verleugnen”, so J. A. in Überlegungen zu den Themata von 1968 zwanzig Jahre später (Agnoli 1998, 249).

Oder, man schreibt, verletzlicher noch im Zorn, schreibt ein Gutstück eigene Lebensgeschichte, hochgradig subjektiv und gerade dadurch der Chance nach objektiver, sprich dem Ereignissyndrom 68 gerechter werdend.

“Dieses Buch ist im Zorn und gegen das Vergessen geschrieben”, so hebt Oskar Negt in seinem 95er Buch über “Achtundsechzig” an (O.N., 1995, 9). Zornig gegen den “Opportunismus” als der “eigentlichen Geisteskrankheit der Intellektuellen.” Später wiederholt Negt seinen Zorn: “Dieses Buch ist, wie ich am Anfang des Vorworts gesagt habe, im Zorn und gegen das Vergessen geschrieben; der Verfall linker politischer Identität, hat eine entscheidende Ursache in diesem Vergessen, das dem schändlichen Opportunismus Tür und Tor öffnet. Der innere Widerstand dagegen, daß sich besonders orthodox gebende 68er, die über privilegierte und einflußreiche Stellen verfügen, in einer schier unerträglichen Weise dazu hergeben, diese Zeit als unterhaltsamen Medienrohstoff zu verwerten, oder gegen andere, die daraus einen dem Spießer verständlichen Studentenulk in revolutionären Kostümen machen, hat mich dazu veranlaßt, um inhaltliche Fragen organisierte konzentrische Kreise zu bilden, die von den gegenwärtig dringenden Problemen ausgehen. Wer sich nur auf die Oberflächenphänomene der letzten fünfundzwanzig Jahre kapriziert und Erfolg nur dort zu erkennen vermag, wo Siege gefeiert werden, dem wird vieles verschlossen bleiben, was Maulwurfsarbeit in verwinkelten Gängen und eigens hergestellten Netzwerken geleistet hat, die vielleicht die Welt mehr veränderten als die spektakulären Haupt- und Staatsaktionen, deren geschichtliche Tragweite ja bereits in der großen Philosophie von Aristoteles bis Marx in Frage gestellt wurde” (1995, 47).

Wer sein Subjekt in graumelierten, wirklichkeitsgesinnten Attitüden der autoritativen Interpretation versteckt, wie dies in zahlreichen FAZ-Artikeln u.a. Bernd Rabehl getan hat, wer mit überlegen gedämpftem hohen Stil in der Geste des Allesbesserwissers zu urteilen ausgeht, wie dies neuerdings Wolfgang Kraushaar tut (Kraushaar 1998, 311-323), derjenige und die allzu vielen, die sich auf welch unterschiedlichen Niveau auch immer ähnlich subjektabstrakt und allenfalls als Interpretationssouveräne beteiligt verhalten, tragen nur zu einem bei: das, was rund um die Jahre 1967 und 1968 seinen Ausgang nahm, die kurzen Sommer und Winter der ‘Studentenbewegung’ in Langweile zu ersticken. Kein Funke mehr, der irgendwann einmal auf irgendjemand von den studentenbewegt Nachgeborenen überspringen könnte. Asche, Asche, Asche.

Johannes Agnoli

Sie zeigen nicht alle Seiten der 67- und 68-‘Bewegung’. Die Aufsätze, Vorträge, Interviews, die der nicht erst im Verlaufe der Studentenbewegung politisch getaufte J. A. während und lange nach der “Bewegungszeit” geschrieben, gehalten, gegeben hat. Indes: sie belegen das analytisch theoretische Niveau nicht nur, das die Studentenbewegung erst so nachhaltig wirksam werden ließ, diese Ausführungen zeigen zugleich die politisch radikale Flamme, die unter Studierenden, und selbst in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur unter ihnen züngelte, wenn nicht loderte. Diese Flamme erhitzte die Studierenden und die längst wieder etablierten Erwachsenen verschieden; und sie hetzt diese strittig gegeneinander. In diesen Einlassungen, die dreißig Jahre später gesammelt vorliegen, und darum auf den ersten Blick kaum noch stachelig, kaum noch brisant wirken, erweist sich J. A. nicht nur als einer, der zusammen mit Peter Brückner, dem unvergessenen, heute viel zu wenig rezipierten, der Studentenbewegung vorab in der “Transformation der Demokratie” wichtige Einsichten und Stichworte in den kapitalistisch betonierten ‘Geist’ parlamentarisch zentrierter Demokratie gegeben hat. Hanc illae lacrimae. Darum die bitteren, verspäteten Einsichten vieler zu spät und oft falsch, nämlich personenbezogen enttäuschter “Rot-Grüner”. Vielmehr belegt das Ensemble dieser agnolischen Äußerungen, daß derselbe weit mehr als ein blasser “Schreibtischtäter” gewesen ist, einer, der hier und jetzt präsent war, einer, der um die Grenzen aller Theorie wußte in der gelernten oppositionellen Praxis und um die Grenzen aller Praxis in der Orientierung an radikal auslotender Theorie.

Von den vielen Themen, die sich bei J.A. kreisend überschneiden, Themen nicht nur, aber auch, die die Studenten umtrieben (und in den 70er Jahren zerrieben), will ich nur einige kurz apostrophieren. Meist folge ich J.A., ohne zu erröten. Zuweilen deute ich m. E. nötiges kritisches Bespicken an. Themen, als da sind: Parlamentarismus; Faschismus; Gewalt; APO; Studentenbewegung; Arbeiterklasse; Theorie/Praxis; Politische Wissenschaft.

Parlamentarismus

Wenngleich spät könnte es gegenwärtig sein, also im Frühjahr 1999, da ich diese kleine Sammelrezension schreibe, daß sich manche von falschen Hoffnungen verklebten Augen öffnen. Hoffentlich werden die Eigner der Augen dann nicht nur herrschaftszynisch (statt herrschaftskritisch); hoffentlich werden sie nicht apathisch aller radikalen Reform selbst in der Vorstellung abhold. So günstigerweise Lernprozesse eintreten sollten, könnte J. A.’s “Transformation der Demokratie”, könnten etliche Aufsätze dieses Sammelbandes solches Selbstdenken unterstützen. Etwa ein Interview von 1983 zwischen Wolfgang Kraushaar und J. A. (J.A. 1998, 185-210). Ich komme unter dem Stichwort “APO” ausführlicher auf dieses Interview zurück. J.A’s Argumente sind dort und anderwärts nicht antiparlamentarisch gerichtet in dem Sinne, daß ihm die “ganze Richtung” nicht paßte. Sie sind analytisch informiert.

Zum einen: Parlamentsherrschaft heißt zuerst und vor allem ‘Herrschaft’ des Kapitals, sie befördert die möglichst ungehinderte kapitalistische Produktionsweise und ihrer wechselnden Bedingungen. Wer also die kapitalistischen Produktionsverhältnisse um ihres Ausbeutungscharakters und um ihrer ökologischen Folgen kritisiert, muß auch die politischen Produktionsverhältnisse, genannt Parlamentarische Demokratie kritisieren. Nota bene: diese Feststellung gehorcht bester liberaler Tradition seit John Locke. Sie besitzt bei J.A. nur einer kritischen, keinen affirmativen Akzent.

Zum zweiten: im Zuge der verstärkten und verschärften Durchkapitalisierung der Gesellschaft verschwinden die allemal schmalen politischen Manövrierspielräume. Darum J. A’s Begriff, die Transformation der Demokratie signalisierend: “Involution”; zu deutsch: Einwicklung oder Zurückentwicklung.

Im Verlaufe dieser Zurückentwicklung können faschistoide Techniken der Massenmobilisierung eingesetzt werden. Insofern ist die faschistische Gefahr, gegebenenfalls krisenhaft verstärkt, dauernd latent (und ab und an offen) präsent.

Zum dritten: die Institutionen parlamentarischer Demokratie, als eines liberaldemokratisch verfaßten STAATES sind immerhin so prägekräftig, daß sich keine Gruppe in Form einer Partei – mit bloß reformerischem Interesse und keinem zusätzlichen Machtmittel ausgestattet – in den Bauch dieser Institutionen begeben kann. Die Gruppe bzw. ihre politischen Absichten kämen denn um.

Faschismus

Dieses Thema umkreist J. A. dauernd. Nicht wie einen “uralten Turm”, frei nach Rilke. Vielmehr wie eine stets präsente Gefahr. Kapitalismus, Krise, Parlamentarisch-Politische Staatsverfassung. Hierbei achtet er sehr darauf – wenngleich mir manche Formulierung im Rückblick doch zu vage und der Faschismusbegriff zuweilen zu pauschal etikettenhaft bleibt -, daß das J. A. ohnehin eigene differendum est inter et inter gewährleistet bleibe. “Mit dem Hammer” zu philosophieren ist nicht seine Sache.

“Dabei habe ich selber große Bedenken”, formuliert J. A. im Mai 1968, einer Zeit und einem Kontext, die eher differenzierungswidrig waren, “die Bundesrepublik Deutschland als einen faschistischen Staat zu bezeichnen. Vielmehr ist zu analysieren, was sich in ihr als tendentiell faschistisch, was schon als faschistisch ausweist” (S. 15). Um die Qualifizierung “faschistisch” recht einzuordnen, muß bedacht werden, daß J. A. die allgemeinere faschistische Qualität – und dies jenseits ihrer engen zeitgeschichtlichen Begrenzung auf die zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre – nicht mit nationalsozialistischem Terror gleichsetzt. In dieser Gleichsetzung sieht er vielmehr einen Fehler der bundesdeutschen Diskussion, welch letztere dadurch die bundesrepublikanischen Zustände kritisch entlastet. “Die Möglichkeit eines parlamentarischen Faschismus, und das heißt die Möglichkeit eines antidemokratisch gewordenen Parlamentarismus, ist darin begründet, ob es gelingt, das Parlament soweit zu entmachten, daß die eigentlichen Entscheidungsgremien in, wie Pareto sagt, ‘nichtöffentlich tagende Eliten’ verlegt und die Entscheidungen von Masseneinflüssen freigehalten werden” (16 f.).

Gewalt

Sie ist es, die noch in neblichten Erinnerungsdämmerungen “die” Studentenbewegung vor allem anderen ausgemacht zu haben scheint. Die Gewalt der demonstrierenden Studenten versteht sich. Dabei ist deren Gewalt, so sie sich denn physisch und gegen Menschen äußerte, zwar nicht zu rechtfertigen, so doch allemal zu verstehen als ohnmächtige Gewalt gegen das System staatlicher und privater Gewalt, das die Studierenden und andere, die sich aufmüpfig zeigten, und sei es nur in den langen Haaren, in die etablierten Kanäle zwängte.

J. A. artikuliert sich, ohne sich länger aufzuhalten, in dreierlei Hinsicht zum immergrünen Gewaltthema. Zum ersten: Gewalt, immer zunächst als physische Gewalt verstanden, ist für ihn, um in der heute üblich gewordenen Sprache zu reden, kein “linkes Projekt”. Nicht nur um normativ-sozialistischer Ziele willen (darum hat Peter Brückner einmal davon gesprochen, daß sich jeder Linke durch eine Tötungs-, ja Gewalthemmung auszeichnen müsse). Weil ein erheblicher Zusammenhang zwischen Zielen und Mitteln besteht. Und weil allemal die Gefahr besteht, daß die Mittel das Kommando übernehmen und die Ziele fressen. Vielmehr, weil Gewaltmittel alle sozialen Bewegungen hierarchisieren und außerdem in der Regel ihr Scheitern programmieren. Allerdings warnt J. A., zum zweiten, davor, sich prinzipiell im Sinne purer Gewaltfreiheit festzulegen. “Wer auf Gewaltanwendung von vornherein verzichtet, rettet vorsorglich sein Gewissen vor möglichen Konflikten, ohne jedoch das Problem der Gewalt gesellschaftlich zu lösen. Auf den Begriff gebracht heißt dies: Was die Problematisierung der Gewalt bei den Linken zum eigentlichen Problem macht, ist genau der Umstand, daß für ihre Gegner Gewalt kein Problem ist” (44). Schließlich rechtfertigt J. A. genau aus diesem Grunde aktuelle Gewalttätigkeiten. In einem Aufsatz zur “Verfolgungsstrategie in Westdeutschland” heißt es in einer Klammerbemerkung beiläufig und doch bedeutsam: “(Es hat freilich lange gedauert, bis Demonstranten dahinter kamen, daß Diskussionsargumente keine Argumente gegen den gewalttätigen Staat sind; und daß Steine gegen Knüppel Denksubstanz haben und Rationalität wieder herstellen.)” (72). Im Argument zuvor lobte J. A. die eher anarchistisch ausgerichteten Gruppen im Rahmen der Studentenbewegung, “die Kunzelmänner”, dafür, daß sie nicht mehr abstrakt von Demokratie und Emanzipation gesprochen, sondern “emanzipatorisch gehandelt” hätten. Aller Ableitungs- und Prinzipienmechanik abhold gehört es zu J. A’s Theorie- und Praxisverständnis, daß der jeweilige historische Kontext spezifisch als ein definitionsmächtiger Faktor zu beachten ist.

APO

Darin war und ist J. A. nicht einen Moment lang unschlüssig. Will man radikale Demokratie – anarchistisch kommunistisch im alles andere als parteipolitischen Sinne motiviert -, dann kommt nur ein politisches Engagement in Frage, das sich gegen die etablierte Politik außerhalb von deren herrschenden Institutionen kehrt. Tertium non datur. Im schon erwähnten Gespräch mit Wolfgang Kraushaar, der als Fragesteller für die links-alternative Chance der Grünen wirbt, kommt diese Position J. A’s als aller Herrschaft widerstrebende Antiposition am ausführlichsten zum Ausdruck. “Das heißt also, das ist im Grunde genommen immer das gleiche Argument, eine alternative Bewegung, die sich von vornherein mit der Perspektive an den Wahlen beteiligt, eine Koalition mit einer der bestehenden Parteien einzugehen, hat zwar größere Wahlchancen, das ist ganz klar, aber sie zieht sich zugleich von ihrer eigentlichen gesellschaftlichen Aufgabe zurück. Und ihre eigene gesellschaftliche Aufgabe wäre, dann im Parlament oder in den Institutionen des bürgerlichen Staates, die Negation, diese gesellschaftliche Negation zu repräsentieren” (187 f.). “Präsenz in den politischen Institutionen” ist J. A. deshalb allenfalls in Form einer “Fundamentalopposition” denkbar. “Der ‘Lange Marsch’, verstanden als Präsenz in den Institutionen, ist etwas ganz anderes als der naive Glaube, es sei ein alternativer Gebrauch der Institutionen möglich” (200). Insgesamt gesehen kommt es J. A. antiherrschaftlich rundum nicht primär darauf an, die politischen Institutionen und sei es selbst, unwahrscheinlich genug, majoritär politisch einzunehmen. Vielmehr kommt es auf eine “größere Emanzipation” an und eine derselben entsprechende, kooptationsunwillige “Organisation des Dissenses.” “Das heißt also, die Gegenmacht, die ich meine, ist gar keine politische, sondern eine gesellschaftliche Gegenmacht, denn wenn immer weitere Teile der Bevölkerung, weitere Teile der Gesellschaft, der bürgerlichen Politik, der Staatspolitik den Konsens verweigern, dann stellt sich die Machtfrage ganz anders. Langfristig scheint mir für die Machtfrage eine außerinstitutionelle Ausbreitung des Dissenses sehr viel wichtiger zu sein – auch auf der Ebene der Organisation übrigens – als eine Partizipation an der Institution des Staates” (203).

Studentenbewegung – Arbeiterbewegung

Die Studenten sind es, auf die sich J. A. meist seinem eigenen akademischen Beruf entsprechend bezieht, auch weil sie es sind, die in der Bundesrepublik zunächst und primär “Zoff’ machen. Dort, wo deren Konzepte, Aktionen und Bestrebungen jedoch das “Herz des Staates” und der durchstaateten Gesellschaft betreffen, dort sieht J. A. die Studentenbewegung immer zugleich in ihrer Differenz und ihrem Zusammenhang zur Arbeiterklasse. Und dies nicht nur, weil er oftmals von italienischen Erfahrungen her bundesdeutsche Zustände beleuchtet. Oder, weil er von dem anscheinshaften kairos informiert argumentierte, der im Pariser Mai revolutionär im Doppelpaß von Studenten und Arbeitern Ereignis zu werden schien. J. A. ist vielmehr insofern guter, das heißt undogmatischer marxistischer Antikapitalist, als jede Form mittel- und langfristiger Umwälzung nur dann einen zureichenden Grund erhält, wenn sie die ökonomischen Produktionsverhältnisse mitumfasst. In diesem Zusammenhang äußert sich das zeitgenössisch aktuelle Kolorit der agnolischen Einlassungen am deutlichsten. Ohne je in Gefahr zu geraten, einer K-Gruppen-Sklerose vorzuarbeiten, gar an einer solchen mitzuwirken, schimmern bis hin zu den “Septemberstreiks” (1969) Hoffnungen durch die Beiträge, als könne eine ganz andere Große Koalition als die bundesdeutsche aus CDU/CSU und SPD gezimmert, eine Koalition aus Kopf- und Handarbeitern die Kapital-Herrschaftsfrage auch nur stellen.

Theorie und Praxis

Objektiv-subjektiv, konkret-abstrakt. Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno (51 ff.) kehrt sich J. A. gegen eine Theorie, die sich analytisch aus der Realität zurückzieht, indem sie dieselbe jenseits aller Möglichkeiten von Klassenkämpfen gleichsam sich selber überläßt. Der später von Habermas, Honneth und tutti quanti beklagte (und “positiv” überwundene) “Negativismus” Adornos ist nicht J. A’s Problem. Soweit derselbe radikale Kritik des Bestehenden atmet, teilt er ihn. J. A. distanziert sich dort von der Frankfurter Schule, wo diese ‘lebendige Wirklichkeit’ außer Acht läßt und alle mögliche, aktuell sogar sichtliche Praxis der Klassenkämpfe ausblendet. Kritische Theorie, so macht es J. A. den Anschein, bleibe auf diese Weise hinter der “Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse” zurück. Daraus erkläre sich, daß die kritische Theorie “gegenüber dem von ihr freigesetzten Potential zu einem Verhältnis geworden” sei, “das sich, obzwar mühsam, in die Produktionsverhältnisse des Spätkapitalismus eingefügt” habe (59). Diese wie immer zeitgebundene Kritik am zeitgebundenen Adorno kennzeichnet insofern A’s eigene analytisch theoretische Mühen, als dieselben durchgehend unvergleichlich praktisch gerichtet waren bzw. sind. Und sei es nur im Sinne einer utopischen, die ferne leuchtet. Dieser Praxisbezug erklärt auch, warum sich J. A. selber ohne alle theoretisch abstrakten Stöckelschuhe um konkrete Situationen, um Chancen hier und heute kümmert und deswegen die Akteure, auch dort, wo sie nur studentische oder industriearbeiterschaftliche Reakteure sind, nie aus dem Blick verliert.

3. Politische Wissenschaft

Dieselbe ist im Zusammenhang von 1967/68, der Vorgeschichte, der Geschichte und der Nachgeschichte dieser Bruchjahre eine Fußnote wert. Darum, weil J. A. am “OSI”, dem Fachbereich Politische Wissenschaft der FU lehrte; darum, weil es zuweilen unter “OSI”-Perspektive so erscheinen konnte, als spiele sich rund um die Ihnestraße in Dahlem und den nah gelegenen Fordbau der FU Berlin so etwas wie “Weltinnenpolitik” ab. Ohne Frage ließen sich Hoffnungen, Chancen und hybride Perversionen der Studentenbewegung in nuce OSI fassen. Die Politische Wissenschaft ist indes auch insofern über Berlin und die Idiosynkrasien des OSI hinaus von Interesse, als sich an diesem Fach exemplarisch zeigen läßt, wie rasch die sozialwissenschaftlichen Königskinder (und die vielen positionellen Profiteure) der Studentenbewegung wieder so rasch auf ihrem normalen Hund gekommen sind, genauer sich nur kurz und weitgehend nur postulativ von ihm erhoben haben. Als hätte J. A. seine 1969 formulierte Kritik 30 Jahre später geschrieben, so sehr trifft seine seinerzeitige Kritik ins Schwarze, genauer in die Langweile eines akademisch gehalfterten, analytisch schier beißunfähigen und in seiner gesellschaftlichen Vorstellungskraft (und Kant gemäß seiner Urteilskraft) Status quo-stumpfen Fachs. Zentrale Begriffe (und die mit ihnen korrespondierenden Sachverhalte) à la Staat oder Kapital werden undiskutiert in den Prämissen stillgestellt. Die Spanne der Kritik bleibt entsprechend knapp bemessen. Ein wenig immanent versuchter Anspruchs-Wirklichkeits-Vergleich. “Die Scheu vor der Theorie” ist das auffälligste Kennzeichen. “Bei jüngeren Politologen könnte das Desinteresse am Grundsatzproblem mit dem Desinteresse an Strukturänderungen des politischen Systems zusammenhängen. Wichtiger ist – für die Ergebnisse – die fraglos politisch als sinnvoll erscheinende, weil konservative, beinahe durchgänge Identifikation der Wissenschaft mit ihrem institutionell vorgegebenen Gegenstand der ‘freiheitlich-demokratischen Grundordnung’, das ist konkret: mit dem konstituierten (und konstitutionellen) Herrschaftsapparat” (62 f.).

4. Erstaunliche Lücken, das 68er Phänomen in seiner Entwicklung und in seinem angemessenen herrschaftsstarken Kontext wahrzunehmen und zu analysieren

Das ist nicht alles von J. A. Und das ist vor allem nicht alles über 1967/68. Es sind nur Brisen von beidem. Viele Themen, die die Studentenbewegung zur Studentenbewegung machten und die die unruhig gewordenen Studenten als Bewegung zugleich über sich selbst hinausweisen ließen, werden von J. A. nur gestreift, zuweilen kaum erwähnt. Etwa die blockiert obsoleten Innenverhältnisse des Bildungssystems allgemein und der Universitäten insbesondere. Etwa die motivationale Schubwirkung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die von allen einflußreichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen beschweigend, verschweigend, Täter neu kooptierend aufgehoben worden war. Gerade noch hatte der 2. Bundeskanzler, der erste hatte seine Politik dementsprechend ausgerichtet, das diesbezügliche “Ende der Nachkriegszeit” verkündet und war auch deswegen gegenüber allen als “Pintscher” bezeichneten, vor allem literarischen Intellektuellen allergisch.

Solche Themen und andere sind ergänzend im anders temperierten, indes mit J. A. in Sachen Studentenbewegung sympathetischen Buch Oskar Negts nachzulesen. Dasselbe stelle ich hier nicht noch einmal eigens vor, obgleich es mir insgesamt viel zu wenig ‘angekommen’ zu sein scheint. Bei O.N’s durchkomponiertem, mit zeitgenössischen 68er-Splittern durchsetzten Buch ist die Anstrengung des studentenbewegten Begriffs umfangs- und rückblicksgemäß ungleich größer als bei J.A. Indes: weder J.A. noch O.N. streben auch nur so etwas an wie eine einigermaßen zufrieden stellende, den gesellschaftlichen Kontext, Institutionen, Aktionen und Reaktionen angemessen berücksichtigtende Gesamtdarstellung. Beide verteidigen das, was unter Studentenbewegung teils zutreffend, teils kraus und quer subsumiert wird, trotz seiner Ambivalenz, ja z.T. auch wegen seiner Ambivalenz. Wie kommt es nur, daß über die Studentenbewegung vor allem Viel-Geschwätziges erschienen ist?

5. Was sonst an diesem Ort vorzustellen ist, oszilliert zwischen der Qualifikation belanglos und ärgerlich oberflächlich

a.) Wolfgang Kraushaar: 1968. Das Jahr, das alles verändert hat, München/Zürich 1998

Das ist ein Buch, das auf Käuferinnen und Käufer im “Geschenkbuch” rechnet. Dort kramt man, um rasch irgendetwas zu finden, das man passend einem Neffen oder einer Nichte über irgendeine Zeit “damals” schenken könnte. Hardcover ist hierfür nützlich.

In der “Vorbemerkung” verkündet W.K.: “Gegen die Dominanz von Bilderwelten, die das Geschehen verzerren, hilft nur eines: Zu den Ereignissen selbst zurückzukehren und sie ebenso schnörkel- wie schonungslos darzustellen. Der Blick muß auf jene Handlungs- und Ereignisabläufe gelenkt werden, die den Bildern zugrunde liegen.” Demgemäß gilt: “Die Ereignisse müssen in den Mittelpunkt gerückt werden, wenn nicht im fortwährenden Streit um die gesellschaftspolitische Bedeutung des ominösen Jahres weiter aneinander vorbeigeredet werden soll” (7).

Also eingeläutet hebt die Ereignisgeschichte am 3. Januar 1968 in München auf Seite 9 an und hört am 31. Dezember 1968 in Versilia (Italien) auf S. 309/310 auf. Was für eine Un-Geschichte. Als sprächen Ereignisblumen kunterbunt in einem Jahr aufeinandergestappelt für sich selber. Bestenfalls verwirrte und betörte ihr zusammenströmender Duft, wenn es denn Blumen wären. Handelte es sich um solche, wären freilich die Januar weltweit mit germanischem Bodenzentrum gesammelten Blumen Ende Dezember schon wieder zu Boden geworden. Sie könnten düngend neues Blumengesprieß befördern. Das ist jedoch bei diesem Ereigniskunterbunt nicht der Fall. Gewiß: blättert man in dieser Ereignischronik, findet sich der eine oder andere Kurzbericht, wo ein assoziationsreiches Heureka, ich hab’s (wieder) gefunden, aufstößt, wo sich einer (oder eine), der seinerzeit schon erlebnis-, teilnahme- und in gewissem Umfange urteilsfähig gewesen ist, korrigierend erinnern und den seinerzeitigen Reim auf die Ereignisse unter heutiger Perspektive neu formulieren kann. Ansonsten ist dieses zusammenhangslose Kunterbunt eine arrogant oberflächliche Zumutung. Arrogant ist die Weigerung des Autors, sich und anderen eine sinnvolle Rekonstruktion der Ereignisse und das heißt ihrer Indifferenz und ihres Zusammenhangs zu ermöglichen. Oder soll gerade im Potpourri einjährig passierter Ereignisse mit irgendeiner Art Bezug auf das, was Studentenbewegung heißt, die unmögliche Sinngebung des Sinnlosen, die Unerklärlichkeit des ewigen, einjährig gefaßten Ereignisstroms demonstriert werden?

Das wäre irgendwie verständlich. Die Buchkäufer könnten sich entsprechend ironisch listig getäuscht auf die Schippe genommen fühlen und nach diesem Ereigniscocktail kaum besoffen von derselben herunterspringen. Indes, die informationelle und die analytisch interpretatorische Verweigerung des Autors wenn schon nicht der Ereignisse, so doch ihrer nicht erläuterten Auswahl und ihrer Darstellung en detail -, diese irritierende Verweigerung, eines Mannes, der’s besser können müßte, der’s in jedem Fall vor Zeiten besser konnte, diese ärmlich gezielte Verweigerung wird plötzlich “positiv” überwunden.

Der chronique banale ist nämlich ein Nachwort beigefügt. Dicklettrig, autoritativ, um nicht studentenbewegt autoritär zu sagen. “1968 – Ein revolutionäres Selbstverständnis und seine nicht ganz unproduktiven Folgen”

Und dieses Nachwort erst läßt darüber froh werden, daß der Autor ansonsten den analytischen Hungerpastor mimte. In festen Schritt des Indikativs formuliert beginnt es klar und deutlich: “Das Jahr 1968 hat nichts verändert”(311). So ist der geneigte Leser 300 Seiten gefoppt worden? Aber nein. Zwei Seiten ließt sich’s anders: “Ohne Übertreibung läßt sich konstatieren, daß die DDR eine deutsche Geschichte minus 1968 war”(313). Also hat das Jahr 1968, und sei’s nur “kulturrevolutionär” doch Erhebliches verändert? Den Leserinnen und Leser werden, nun nicht mehr ereignisungeschichtlich borniert, allenfalls durch den statuierenden Autor begrenzt, alle möglichen Einsichten en passant vermittelt. Beispielsweise, wenngleich in Frageform suggeriert, daß die Parlamentarismuskritik, “die eine radikalere Form der Demokratie wollte”, “auch antidemokratische Elemente” enthalten haben könnte. Nach dem Fragezeichen, dann aber sogleich in eindeutigem Plattdeutsch: “Zweifellos lassen sich in ihren damaligen Forderungen (“der 68er”, WDN) solche Gefahren erkennen: eine unreflektierte Idee der Volkssouveränität; die in ihrem Kern totalitäre Vorstellung von einer Identität von Regierenden und Regierten; der idealistische und in nicht geringerem Maße zum Totalitarismus tendierende Glaube an eine Aufhebung der Gewaltenteilung; das naive Vertrauen in eine fortwährend als gegeben unterstellte hohe Mobilisierungsbereitschaft aller Beteiligten sowie die Gefahr eines diktatorischen Attentismus im Prinzip der Versammlungsdemokratie”(317). Nach diesen unbelegten und undifferenzierten Schlagsätzen hagelt es noch dichter. Zuerst mit Bedeutungsgeraune. “Der Fall der Berliner Mauer 1989 und seine Folgen haben dazu gezwungen, die gesellschaftspolitische Bedeutung von 1968 zu überdenken (erst der Fall der Mauer und warum just derselbe? Verwundert reibt man sich die Augen, WDN). Beide Jahre”, so pathetisiert W.K. weiter, “markieren zweifelsohne tiefe Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik, vermutlich die tiefsten, die es nach 1945 hierzulande gegeben hat.”

Unmittelbar danach wird erkenntlich, warum 1989 die studentenbewegten Ereignisse qualitativ anders interpretieren läßt – folgt man W.K. “Die politischen Veränderungen 1989/90 haben zu einer rasanten Entwertung der Linken und ihrer Positionen geführt.” Wer wollte, wer könnte ob dieses schicksalhaften Gezeitenwechselns “links” zurückbleiben? “Nach den Verabschiedungen vom Proletariat … gibt es höchstens noch Außenseiter, die sich nicht gezwungen sehen, den Sozialismus als Grundorientierung aufzugeben. Und in der Tat: Wer keine plausible Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft zu formulieren in der Lage ist, der sollte darauf verzichten, länger an einem Gesellschaftsmodell festzuhalten, das einer entsprechenden ökonomischen Grundlage entbehrt” (317 f.). Niemand kann von W.K., dem eine Welt zusammengebrochen ist, verlangen, sich als “Außenseiter” zu behaupten. Mittendrin in der “Neuen Mitte” “jenseits von links und Rechts” ist’s, wenn nicht wohliger, so doch profitabler. Nur: kann er nicht anderen ihre eigenen Begriffe und ihr eigenes Denken überlassen, wenn er schon selbst begriffslos geworden (und gewesen?) ist. Ach, die Gezeiten.

Und so geht es noch sechs Seiten weiter. Mit mancher rich tiger, mancher sehr bestreitbarer Behauptung. Durchgehend stört freilich der “erhobene Zeigefinger” des Argumentierens, auch wenn im vorletzten Absatz die Kunst argumentativer Komposition erkenntlich wird. Dort heißt es nun (323): “Das Jahr 1968 hat in der Bundesrepublik alles verändert.” Alles oder nichts? Dem Lesenden bleibt mehr als die bange Wahl. Er kann dieses Buch vorgewarnt gar nicht erst in die Hand nehmen. Es ist seinen Preis in keiner Hinsicht wert.

b) Lutz Schulenburg (Hrsg.): Das Leben ändern, die Welt verändern! 1968.
Dokumente und Berichte, 1998

Das Ende der Anzeige des Kraushaarschen Machwerks genügt für die Schulenburgsche Kompilation. Irgendein Dokument findet in diesem bald 500 Seiten umfassenden Schinken jede und jeder, das sie oder ihn erinnern oder neu anregen mag. Mir ging’s beispielsweise so mit dem, meinem Gedächtnis entfallenen Brief von Elisabeth Lenk an Theodor W. Adorno mitten aus dem mailichen Paris von 1968. Ein solcher Fund oder andere dergleichen rechtfertigen jedoch nicht diesen lieblos zusammengemanschten Dokumentenband. Damit ist niemand gedient. Ich fürchte nicht einmal Lutz Schulenburg, der vorwortend auf seinen Zeitmangel hinweist. Wer aber zu solch einem Unternehmen keine Zeit hat, soll’s bleiben lassen. Das haben weder “die 68er” noch “die 98er” verdient. Und niemandem ist damit gedient.

6. Was bleibt?

a.) Der Mangel an Augenmaß.

Ein solcher ist üblich, befindet man sich distanzlos kurzsichtig im Ereignisstrom. Darum können auch “Zeitzeugen” meist so wenig bezeugen (außer ihre eigene, später rationalisierte Kurzsichtigkeit). Noch selbstverständlicher ist ein solcher Mangel an Augenmaß bei denen, die in einer Bewegung mitschwimmen, in sozialen Stromschnellen vor allem, die die gegebenen Zeiten und ihre Sichtigkeiten allemal über Gebühr verkürzen. Jeder Tag platzt vor Ereignissen. Und der nächste Tag strudelt die des Vortages ein. Alles rennt und alles brennt. Also fehlen Atem und Distanz. Das jeweils aktuelle Nahereignis aber, schier unmittelbar und bewegt identifikatorisch erfahren, erhält übermäßige Dimensionen. Sie verleiten zur Hybris. Zu allen möglichen Fehleinschätzungen, zum revolutionären Taumel, zur indezenten Selbstüberschätzung und grotesken Fehleinschätzung eigenen oder fremden Vermögens.

Von all dem handelt auch die Studentenbewegung. Diese umfaßte freilich viel weniger Studenten als bewegende Bewegte, als seinerzeit und vor allem hinterher festgestellt wurde. Wie viele promovierten sich selbst oder wurden später bis hin zu den Schröders u.a. zu “Alt-68ern” promoviert. Selbst bei J. A., dem anarchistischen Kantianer, der seinen Verstand nie delegiert und das sapere aude in jeder Situation zu praktizieren vermag, jenen raren Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, selbst bei J. A. finden sich manche Augenmaßlosigkeiten, wenngleich alles in allem in einem immer räsonierend gebändigten Umfang. Das, war gewiß auch ein Altersvorzug, den J. A. oder in anderer Weise O. N. genoß. Daß er nie in Gefahr geriet, mitten in der emphatisch begrüßten und sua sponte verstärkten Bewegung den Kopf zu verlieren, wie dies für die studierenden Frischlinge vielfach gegolten hat. Deren kurze, oft kopfraubende “Bewegungssozialisation” sorgte bei den meisten bald dafür, daß die studentenbewegten Erlebnisse nie zur Erfahrung gerannen. Sie wurden abgetan. Sie wurden je nach Temperament und Gelegenheit heroisiert oder disqualifiziert, wenn nicht in rückwärtsgewandter Hybris für alles anormal Böse verantwortlich geziehen.

Wenn vom Mangel an Augenmaß im Zusammenhang “der 68er” die Rede ist, muß freilich zuerst und vor allem, prius und primär, von der augenmaßlosen Panik bundesdeutscher Normalitäten und ihrer Vertreter, von der Sicherheitspanik des “Establishment” die Rede sein. O. N. spricht zutreffend von einem “angstbesetzten Institutionalismus” (59). Diese Panik in Form etablierter “Angst vor dem Chaos” verbunden mit einer heute noch staunenswerten Sprachlosigkeit reichte von den Professoren (“Ordinarien”) über die “verantwortlichen” Politiker bis hin zu den medialen und nichtmedialen Repräsentanten der ach so trefflich erneuerten bundesdeutschen Gesellschaft. Augenmaßlos waren deswegen auch die Reaktionen primär in Form von Repressionen. Wer dieses etablierte System des Mangels an Augenmaß bis tief hinein in den Deutschen Herbst nicht beachtet, ist nicht in der Lage die Studentenbewegung einschließlich ihres Auswuchses, der RAF gerade dort zu erklären, wo ihre Konzeptionen und halbstarken Taten alles andere, als verteidigungswert waren und sind. Die sogenannte Mescalero-Affäre, 1978, kann heute noch als später Nachhall dieser schlechthinnigen Augenmaßlosigkeit betrachtet werden. J. A’s ironisch-humorvolle Ausführungen lohnen schon um ihrer kritischen Distanz und distanzierenden Kritik willen nachgelesen zu werden (165 ff): “Versuch, Strafkammer und Staatsanwaltschaft über Faschistoides und Form des Staates aufzuklären.”

b) J. A. mag denn auch das letzte Wort haben, um den Ertrag “der 68er” zu resümieren.

“’68 hat die Gesellschaft also grundlegend verändert: sicher nicht die Produktionsweise (hier liegen die Grenzen einer reinen Kulturrevolution), aber ein gesamtes System von Werten und Verhaltensnormen. Es hat es so tiefgehend verändert, daß die bürgerliche Gesellschaft und die Anhänger des ökonomischen, sozialen und politischen Konservativismus es inzwischen für notwendig halten, zur ideologischen Gegenoffensive überzugehen. ‘Schluß mit ’68’- und wie viel Reumütige erkennen sich in diesem an Metternich erinnernden Satz? Und wenn heute in Westdeutschland davon gesprochen wird, daß die 1968 und von ’68 zerstörten Werte wiederhergestellt werden müßten, so heißt das, daß ’68 diese Werte tatsächlich zerstört hatte.

Es ist aber eine Wendung, eine politische Organisation, die ohne Erfolg bleiben wird. Die 1968 untergegangenen Werte sind keineswegs von der Revolte zerstört worden. Der Verlust ihrer Substanz und ihrer historischen Konsistenz ist nicht die Schuld irgendwelcher Wünsche nach Negation; die Negation entsprach der Tatsache, daß es keine Werte waren, die das soziale Leben hätten tragen und bestimmen können. Sie waren nicht länger glaubhaft und werden es wahrscheinlich in Zukunft nicht sein” (270, geschrieben 1989).

Aus: Kalaschnikow. Die Waffe der Kritik N° 12 / Sommer 1999, S. 119 – 125

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