Paranoia

Marxismus – Psychoanalyse – Paranoia

Eine Studie über Verfolgungswahn und Politik

Initiative Sozialistisches Forum

1.

Drei Bruchstücke aus Wilhelm Reichs Leben: 1953 schenken ihm Freunde einen Schäferhund. Ein Jahr später findet er ihn mit gebrochenem Hinterschenkel im Garten. Außerirdische hätten sich, so Reich, wütend darüber, daß er ihre Existenz entdeckte, an dem Tier vergriffen. Andere Erklärungen läßt er nicht gelten. – Nach seiner Herkunft befragt, antwortet er, ebenfalls in den Fünfziger Jahren, seiner damaligen Frau Ilse Ollendorf-Reich, er sei von einem Außerirdischen gezeugt. – Die Erde werde vom Weltraum her angegriffen, und nur er könne mit seinen Forschungen die Menschheit retten. Deshalb habe Präsident Eisenhower zu seinem Schutz angeordnet, daß die Luftwaffe ständig über seinem Forschungsinstitut patrouilliert. “Wir befinden uns mitten in einem kosmischen Krieg”, erklärt er 1955 seinem elfjährigen Sohn Peter; “du mußt sehr tapfer und sehr stolz sein, denn wir sind die ersten Menschen, die mit Raumschiffen einen Kampf auf Leben und Tod führen. Wir wissen jetzt, daß sie unsere Atmosphäre zerstören. (…) wir sind die einzigen, die begreifen, was sie in unserer Atmosphäre anrichten, und wir können sie mit unseren eigenen Waffen bekämpfen. Die Luftwaffe kann nur irreführende Berichte über die fliegenden Untertassen herausgeben und ohnmächtig hinter ihnen herjagen (…). Mir bekämpfen das Feuer mit dem [ 1 ]

2.

Der Paranoiker, schreibt Freud, baut sich die Welt, zu der er den Kontakt verloren hat, wieder auf, “nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, daß er wieder in ihr leben kann. Er baut sie auf [ 2 ]

3.

Nach dem ersten Weltkrieg studiert Reich in Wien Medizin. Dort lernt er die psychoanalytischen Theorien Freuds kennen und übernimmt sie begeistert. Schon Ende 1919 läßt er sich als praktizierender Psychoanalytiker in der österreichischen Hauptstadt nieder. 1926 Überwirft er sich erstmals mit Freud. Seine Theorie vom Charakterpanzer, in dem sich bestimmte Abwehrreaktionen zu starren Verhaltensmustern verhärten, findet ebensowenig Anklang wie seine durchaus anfechtbare Konstruktion des genitalen Charakters, der hinter Konventionen und Verdrängtem in der analytischen Therapie vorscheint und der seine Bedürfnisse (selbst in einer feindlichen Gesellschaft) in Harmonie mit sich und der Umwelt befriedigen könne. Noch spöttelt Freud in einem Brief an Lou Andreas-Salomé über “einen Doktor Reich, einen braven, aber impetuösen jungen passionierten Steckenpferdreiter, der jetzt im genitalen Orgasmus das Gegengift [ 3 ]. Doch die Auseinandersetzungen mit dem Altmeister und seinen Anhängern in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) nehmen an Schärfe zu, je mehr sich Reich – unter dem Eindruck seiner Erfahrungen in einer Wiener Psychoanalytischen Poliklinik – zum Marxismus bekennt und die soziale Frage auch in der Psychoanalyse behandelt wissen will. Seine Kollegen ziehen es vor, Freuds Dictum “Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben” zu folgen. Auf dem 13. Internationalen Kongreß der Psychoanalyse in Luzern schließen sie im August 1934 den unbequemen Kritiker aus der IPV aus. Seine Karriere als Psychoanalytiker endet damit, sein Werk verstaubt und gerät für lange Zeit in Vergessenheit.

4.

Am 30.Januar 1927 schießen Kaisertreue in eine Versammlung der SPÖ; sie töten einen Kriegsinvaliden und verletzen mehrere Menschen schwer. Als am 15.Juli die Mörder freigesprochen werden, streiken die Arbeiter und ziehen durch die Straßen Wiens. Polizisten eröffnen das Feuer. “Die Polizei”, erinnert sich Reich 1942, “die an diesen zwei Tagen hundert Menschen erschoß, war sozialdemokratisch organisiert. Der Schutzbund war sozialdemokratisch organisiert. Die Menge war überwiegend sozialdemokratisch organisiert. Klassenkampf? Innerhalb derselben Klasse? In einer sozialistisch verwalteten Stadt? Hier, 1929, keimte zum ersten Male diejenige [ 4 ] Reich schließt sich einer Unterorganisation der KPÖ an; später, nach seinem Umzug nach Berlin, sympathisiert er mit der KPD und beteiligt sich rege an der Parteiarbeit. Er versucht, die Psychoanalyse als Therapie und Theorie in den Dienst der Arbeiterbewegung zu stellen: sie soll helfen, den “Irrationalismus in der Politik” begreifbar zu machen. Eines seiner Ergebnisse, die “Massenpsychologie des Faschismus” (erschienen im August 1933) zeigt, wie fruchtbar diese Synthese hätte sein können. Denn mit seiner These, wonach die Nazis geschickt die unbewußten Wünsche und Sehnsüchte der Massen in ihre Propaganda aufnehmen und sie so dauerhaft lenken können, kommt Reich der politischen Realität wesentlich näher als die KPD-Funktionäre mit ihrer Sozialfaschismus- und Zusammenbruchstheorie. Mit Einschränkungen: Da Reich wie die KPD dem Glauben nachhängt, die kapitalistische Ökonomie entwickle sich automatisch zum Sozialismus, vermag er den Faschismus nur ‚massenpsychologisch‘ zu erklären. Gelingt es, die Sexualität der Massen von den Schlacken des Kapitalismus zu reinigen und sie auf ihre rein biologische Natur zurückzuführen, so steht der Sozialismus vor der Tür. Was Reich hier betreibt, [ 5 ] Doch auch bei den Kommunisten findet Reich keine Heimat. Sie lehnen die Psychoanalyse als “bürgerliche Ketzerei” ab, verbieten seine Bücher und schließen ihn, der nach der Machtübernahme der Faschisten hatte ins Exil gehen müssen, aus der Partei aus (obwohl er nie eingeschriebenes Mitglied war). Die Begründung ist haarsträubend: Die Parteibürokraten werfen ihm u.a. den ersten Satz in der “Massenpsychologie des Faschismus” vor; dort heißt es: “Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten.” Diese Formulierung bezeichnet die Komintern als konterrevolutionär. Die deutsche Arbeiterklasse habe 1933 keine Niederlage erlitten, sondern erlebe, so der offizielle Sprachgebrauch, “nur eine [ 6 ]

5.

Im norwegischen und amerikanischen Exil zieht sich Reich ganz auf seine Forschertätigkeit zurück. Rastlos betreibt er bio-physikalische Experimente; er glaubt, der Lebensenergie auf der Spur zu sein. Mit seiner Orgon-Theorie meint er nicht nur die Ursache für die Krebskrankheit, sonder auch die von Gewitterstürmen und psychischen Störungen gefunden zu haben. Viele seiner früheren Freunde und Kollegen ziehen sich von ihm zurück sie können und wollen ihm nicht mehr folgen. Er vereinsamt immer mehr. Die Reaktionen auf sein Forschungsergebnisse, die immer phantastischer werden, reichen vom Verschweigen über Verleumdungen bis zu gezielten Hetzkampagnen. Schließlich macht auch noch die Staatsgewalt Jagd auf ihn. Seit 1940 therapierte Reich Patienten im sog. Orgon-Akkumulator. In metallbeschlagenen Kästen sammelt sich, so Reich, Orgon, wie er die Lebensenergie nannte. Er soll Therapieerfolge erziel haben. Die amerikanische Aufsichtsbehörde für Drogen und Arzneimittel ist da anderer Ansicht. Sie hält den Apparat für wirkungslos und ordnet seine Vernichtung an. Ebenso muß Reich alle Literatur, die damit in Verbindung steht, verbrennen. Dieser Verordnung widersetzt er sich, es kommt zum Prozeß und zu seiner Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis. Dort stirbt er am 3.11.1957.

6.

Mit Recht nennt Franz Jung Reichs Leben eine “Tragödie” und “eine von Station zu Station durchgeführte systematische [ 7 ] Stückweise, nicht abrupt, haben Wissenschaftler und Politiker den unbequemen und umstrittenen Politiker und Forscher ausgestoßen. Er antwortet darauf mit der Errichtung einer Wahnwelt. So erscheint das Ga nze als eine logische Kette von Ereignissen, an deren Ende der Tod Reichs steht. Damit aber stellt sich die Frage, warum Reich diesen “Weg nach unten” durchleben mußte.

7.

Man macht es sich zu leicht, löst man das Problem Wilhelm Reich damit, daß man sein Leben in das des zwar kontroversen, dennoch aber brillanten Psychoanalytikers und Politikers und das des besessenen Paranoikers spaltet und ersteres begeistert feiert und letzteres schuldvoll verleugnet. Auch ist es zu einfach, führt man die Paranoia lediglich auf verdrängte Größen- und Vernichtungsphantasien oder homosexuelle Wünsche zurück. Und es geht nicht an, die vielfältigen Forschungsergebnisse des späten Reich als paranoide Wahnidee abzutun, solange man nicht weiß, was Reich tatsächlich entdeckt hat. Hier liegt noch zuviel im Dunkeln, und vermutlich wird sich erst Jahr 2007 das Erbe überblicken lassen, wenn das Reich-Archiv geöffnet werden kann (dessen Schließung für 50 Jahre hat Reich 1957 testamentarisch verfügt). Und die Paranoia schließlich einzig und allein auf den gesellschaftlichen Druck zurückzuführen, dem Reich ausgesetzt war, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluß.

8.

Im Zusammenspiel geben die Argumente jedoch Sinn. Ilse Ollendorf-Reich schildert die Persönlichkeit ihres Mannes so: Für ihn gab es “nur das Absolute (…). Dinge waren entweder weiß oder schwarz; man war für ihn oder gegen ihn; kein Kompromiß, kein grauer Zwischenton war erlaubt. Und diejenigen, die ihm nahe [ 8 ] Nicht nur in seinen persönlichen Beziehungen, auch in der Theorieentwicklung läßt sich diese Schwarz-Weiß-Malerei erkennen: • Unter dem Einfluß der Freudschen Triebtheorie setzt er der reifen, gesunden Sexualität die neurotische gegenüber; durch “Störungen” gerät das gesunde Empfinden aus dem Gleichgewicht, es treten Energiestauungen im Energiehaushalt auf, die schließlich psychische und physische Krankheiten verursachen; • Unter dem Einfluß des Marxismus begreift er dann, daß diese “Störungen” sozialökonomischen Ursprungs sind: “moralistische Regulierung der Sexualität” verhindert die “sexualökonomische Selbststeuerung”; • Unter dem Einfluß der Biophysik erscheint der Widerspruch auf anderer Ebene: der positiven Lebensenergie Orgon steht die negative Lebensenergie DOR entgegen, die nicht nur menschliches Leid verursacht, sondern die auch die Natur zerstört. Überall, in Theorie und Praxis, finden wir bei Reich ein Denken, das dem Gut-Böse-Schema verpflichtet ist. Dem Guten fühlt er sich verantwortlich. Sein Leben lang sieht er es in freier Sexualität und selbstbestimmtem Leben (er nennt es “Arbeitsdemokratie”). Psychoanalyse, Politik und wissenschaftliche Forschung sind ihm Hilfsmittel im Kampf gegen eine Welt, die solche Werte negiert.

9.

Damit aber gerät er in Frontstellung zur kapitalistischen Gesellschaft, deren Grundlage gerade das Gegenteil ist: Sexualunterdrückung und Herrschaft. In diesem Kontext wird alles unterdrückt, was der herrschenden Rationalität entgegenarbeitet und sie infragestellt, auf den einzelnen Kritiker wird (unterschiedlich gearteter) Druck ausgeübt. Reich ist da kein Einzelfall. Gelder werden ihm verweigert, Forschungsergebnisse totgeschwiegen, sein Leben bedroht. Je mehr nun aber gesellschaftlicher Druck auf ihm lastet, umso stärker klaffen die zwei Pole auseinander. Der reale Druck eskaliert in seinen Phantasien. Das Böse nimmt überhand, das Gute läßt sich immer schwerer verteidigen. Deutlich wird dies in seiner Beziehung zu Ilse Ollendorf-Reich. Es war “für mich damals wirklich eine Frage von Leben oder Tod”, erinnert sie sich, “ob ich noch länger mit einem Menschen zusammenleben konnte, der mir bei der ersten besten Gelegenheit an den Kopf warf, ich sei eine Mörderin, und der mich anschrie, daß ich zu all denen gehöre, die das Leben töten, wo immer es auf gesunde Art zu [ 9 ] Hier überlagern Phantasien die Wirklichkeit und bestimmen sein Handeln. Leicht läßt sich auch erkennen, wie sich der Widerspruch von Gut und Böse in seiner Theoriearbeit auf immer größerer Stufenleiter reproduziert, realitätsferner und undurchschaubarer wird. Wenn am Ende nur noch Lebensenergien das Schicksal des einzelnen bestimmen, dann wird deutlich, wie stark Reich sich von der Wirklichkeit gelöst hat. Schließlich verliert er den Realitätsbezug, die Welt bricht zusammen. Bei Reich tritt dies spätestens im Krisenjahr 1950/51 ein, als er mit dem Oranur-Experiment (Strahlungsversuche) beginnt. Fast alle Kollegen und Freunde verlassen ihn, die Beziehung zu seiner Frau kriselt, er wird krank – und nicht zuletzt gelingen die Experimente nicht wie erwünscht.

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Um jedoch weiter leben zu können, baut er die Welt wieder auf – “durch die Arbeit seines Wahnes”. “Im Herbst 1953”, berichtet seine Frau, “las Reich mehrere Bücher über die fliegenden Untertassen. Er begann sofort, eine Verbindung der vielen Phänomene, die er in der Atmosphäre beobachtet hatte, mit den Raumschiffen herzustellen. Von dem Zeitpunkt an versuchte er, alle Berichte über Raumschiffe und ihre Phänomene auf eine orgonomische Grundlage zu stellen. Er war von der Existenz der Raunschiffe Überzeugt (…) und [ 10 ] Die Existenz der Außerirdischen gibt seinem Leben wieder einen Sinn, seine Forschungen vermag er unter diesen Bedingungen fortzusetzen. Insofern ist das, was wir für Krankheit halten, “die Wahnbildung, in Wirklichkeit der Heilungsvorgang, die [ 11 ] Der Paranoiker hat nicht den Bezug zur .Außenwelt verloren. Er nimmt sie wahr, allerdings .in einem veränderten Bezugssystem: die Fakten, die er durchaus erkennt, ‘ordnet er nicht mehr nach objekt-nachvollziehbaren Zusammenhängen, sondern nach wahnhaften. Und das ist die Tragödie des Dr. Reich: er mag noch so viele gelungene Theorien entwickelt und richtige Einzelerkenntnisse gefunden haben: weil der latent vorhandene Biologismus seines Denkens zu dessen alleinigem Inhalt wurde, steht er am Anfang des Psychobooms. Noch die Sannyasins können sich. [ 12 ]

11.

Sannyasins ebenso wie Marxisten-Reichisten glauben in der Tradition dieses Biologismus an den “guten Wilden” in jedermann. Die einen organisieren Ashrams, um ihn ans Licht zu bringen, die anderen gründen eine “Claude-Helvetius-Gesellschaft”, um die kirchliche Sexualmoral mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die französischen Aufklärer, namentlich Lamettrie, d’Holbach und der weniger originelle Adrien Helvetius (1715-1771) stimmten darin überein, daß sie an die Stelle des Descarteschen Dualismus zweier Substanzen einen materialistischen Monismus setzten. Es existiert nur die Materie. Ihre Kenntnis reicht aus, alles weitere zu erklären. Jede Metaphysik, die Religion vor allem, ist nichts als Täuschung, Irrtum, Hirngespinst, und zwar bewußte, absichtliche Täuschung: Priestererfindung, Priestertrug. Helvetius schrieb: “Der erste Schurke, der dem ersten Narren [ 13 ] Dieser mechanische Materialismus war fortschrittlich: 1755.

Gegen Jesuiten helfen Jakobiner. Es ist kein Widerspruch, wenn sich die Jakobiner als Marxisten mißverstehen. Das “marxistische” an den Reichisten besteht in der Identität der Auffassung des menschlichen Bewußtseins: Helvetius und Lenin begreifen Ideologie als die reinste Manipulation und möchten dem Bewußtsein zur “richtigen Widerspiegelung” des guten Wilden, der Produktivkräfte oder der natürlichen Sexualenergie verhelfen. Nur daraus erklärt sich der penetrante Moralismus der MRI: Wer das Gute, obwohl es “an sich” längst vorhanden ist, nicht einsehen will, ist entweder verführt oder schlicht böswillig. Der Psycho-Stalinismus organisiert Gewaltkuren gegen Halsstarrigkeit. An dieser Konstruktion ist nichts spezifisch Stalinistisches. Hier west nur der kautskyanische Marxismus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung fort, dessen [ 14 ]

Den Standpunkt der bürgerlichen Aufklärung mit den Mitteln des Bolschewismus durchsetzen zu wollen, bezeichnet das Dilemma und das aparte Unglück der MRI. Aus den Bornierungen beider ziehen sie noch die Summe und haben im Ergebnis einen “Abklatsch des bürgerlichen Zentralismus und der Gehorsamspflicht der [ 15 ] Der Endkampf der Reichisten gegen die Sozialdemokratie ist da nur ein Mißverständnis mehr. Die besondere Energie, mit der sie diesen Kampf führen, erklärt sich mit jener Gehässigkeit, wie sie unter Zwillingsbrüdern gängig sein soll. SPD und SPD/ML liegen heillos im Streit. Wie in jeder Familie: Wer sich am besten kennt, der haßt sich am ärgsten.

12.

Das letzte Spektakel im Freiburger Gemeinderat offenbarte denn auch die völlig untypische Schwäche des regierenden OBersozialdemokraten Böhme. Ihm als ehemaligem Staatssekretär im Bundesfinanzministerium hätte man nicht zugetraut, es könne ihm plötzlich fehlen, was Sozialdemokraten sonst im Überfluß besitzen: Verständnis und unbegrenzte Fähigkeit zum Dialog. Über alles folgenlos mit jedermann reden zu können, war die Kunst, die die SPD 1969 an die Regierung brachte. Wie sagte glaubhaft doch Helmut Schmidt – und packte damit die halbe Friedensbewegung ein – “Ich wehre mich dagegen, mangelndes Verständnis für [ 16 ] Es zeigt einen erschreckenden Mangel an Sensibilität, ein Verständnis für die großen Katastrophen aufzubringen, bei einer kleinen wie Gottfried Niemitz aber gleich die Polizei zu rufen. Therapeutisch richtig wäre es gewesen, Verständnis aufzubringen, und nicht, dem Verfolgungswahn noch Futter zu geben. Wie die Geschichte der Sozialdemokratie seit 1918 zeigt, wird sich so die Regierungsfähigkeit der SPD kaum wiederherstellen lassen.

13.

Ulrich Homann und die BZ leisten der SPD einen Bärendienst und verschlimmern noch Böhmes Mißgeschick. Daß Journalisten, die zu Häuserkampfzeiten Dialogbereitschaft im Hunde führten, heute unfähig sein sollen, ihren damaligen Wortbrei erneut zu erbrechen, überrascht und läßt sich nur mit der besonderen Debilität der deutschen Journaille erklären, von der Karl Kraus schon wußte, daß sie [ 17 ] Damals: “Die Betroffenen müssen zu Formen finden, die ihre [ 18 ] Heute bezeichnet er Fritz Erik Hoevels als einen “in eine [ 19 ] Ob man gleich Student sein muß, um sich in den schönen Schein zu flüchten, sei dem journalistischen Gefühl für Logik anheimgestellt, aber was bräuchte solch ein armer Kerl, Student oder nicht, mehr als eben: tiefes menschliches Mitgefühl.

An diesem Widerspruch wird deutlich, was man zu Dreisameck-Zeiten schon ahnte. Ein mit persönlichen Meinungen nur notdürftig getarntes Anzeigenblatt wie die BZ kann auch einmal recht haben, ohne schon die Wahrheit zu sagen. Es ist das Geschäft der Journaille. [ 20 ]

14.

Daß sich die Badische Zeitung im Augenblick mit jener heil- und trostlosen Mischung aus AZ‘lern, Sannyasins und ausgebufften Werbemanagern (alias NLB) ganz gut versteht, das kommt nur daher: die einen lügen mit der Wahrheit, die anderen machen sich aus der Wahrheit, daß es bei der Kommunalwahl um wenig mehr als die Alternative “Pepsi- oder Coca-Cola” geht, ein tolles Spaßvergnügen. Nur selbstgestrickte Borniertheit hindert NLB daran, gemeinsam mit der BL, die für sie “eher Folklore [ 21 ] ist, einen Trachtenverein aufzumachen. Damit liegt NLB noch unter dem Niveau der einer “Studie über Marxismus, Psychoanalyse, Paranoia” noch möglichen Kritik: Die Gründe ihrer Nicht-Kooperation fallen in die Zuständigkeit von Zoologie und Volkskunde. Die einen tanzen den Adolf Hitler, die anderen …

15.

Im Bermuda–Dreieck aus reichistischer Paranoia, sozialdemokratischer Journaille und spontaneistischer Folklore noch einen politischen Standpunkt einnehmen zu wollen, ist das, was im Volksmund “vergebliche Liebesmüh1” genannt wird. Das Volk, die Kinder und die Narren sagen die Wahrheit – aber es wissen, das tun sie nicht. Unschuldig spielen sie im Sandkasten: Dem OB Böhme reißt die Geduld, die BL fühlt sich verfolgt, und NLB hat einen Gegner. – Der MRI reißt die Geduld, NLB fühlt sich verfolgt und OB Böhme hat einen Gegner. – Der NLB reißt die Geduld, die MRI hat einen Gegner und OB Böhme wird verfolgt usw. usf.: Hasch mich, ich bin die Paranoia.

Anmerkungen

[ 1 ] Peter Reich, Der Traumvater. Erinnerungen an Wilhelm Reich, Wien 1975, S. 47.

[ 2 ] Sigmund Freud, Studienausgabe 7: Zwang, Paranoia und Perversionen, Ffm. 1973, S.193 (Psychoanalytische Bemerkungen zu einem autobiografisch beschriebenen Fall von Paranoia)

[ 3 ] Sigmund Freud / Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, Frankfurt 1966, S.191.

[ 4 ] Wilhelm Reich, Menschen im Staat, Frankfurt 1982, S. 20.

[ 5 ] Vgl. Wilhelm Burian, Psychoanalyse und Marxismus. Eine intellektuelle Biographie Wilhelm Reichs, Ffm. 1972.

[ 6 ] Reich, Menschen im Staat, S.178.

[ 7 ] Franz Jung, Schriften und Briefe l, Ffm. 1981, S. 876 u. 890 (Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich. Aus der Krankengeschichte unserer Zeit).

[ 8 ] Ilse Ollendorf-Reich, Wilhelm Reich, München 1975, S. 76.

[ 9 ] Ebd., S.159.

[ 10 ] Ebd., S. 157

[ 11 ] Freud, a.a.O., S.193.

[ 12 ] Vgl. hierzu demnächst: ISF (Hrsg.), Diktatur der Freundlichkeit. Lieferanteneingänge zum alltäglichen Wahnsinn, Freiburg: ca ira Verlag 1984.

[ 13 ] Adrien Helvetius, Zitiert nach H.-J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Ffm. 1971, Bd. 2, S. 41.

[ 14 ] Heinrich Brinkmann, Zur Kritik der Widerspiegelungstheorie. Ein Beitrag gegen den abstrakt-ontologischen Marxismus, Gießen 1978.

[ 15 ] B. Rabehl, W. Spohn, U. Wolter, Der Einfluß der jakobinischen und sozialdemokratischen Tradition auf das leninistische Organisationskonzept, in: ProKla Heft 17/18 (1975), S.99-146, hier S 103

[ 16 ] Die Zeit von 22.8. 1980.

[ 17 ] Karl Kraus, Über die Sprache, München 1962, S 72

[ 18 ] Ulrich Homann, Gewisse Entspannung, in: BZ vom 14.3.81. Ulrich Homann, Gewisse Entspannung, in: BZ vom 14.3.81.

[ 19 ] Ulrich Homann, Wirklichkeit einer Sekte, in: BZ vom 4.8.84.

[ 20 ] Vgl. O. Negt, A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, FfM 1972

[ 21 ] NLB, Paranoia der Speerspitze, Flugblatt vom 25.7.84 NLB, Paranoia der Speerspitze, Flugblatt vom 25.7.84

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