Gespräch mit Gerhard Scheit und Philip Zahner in der »Versorgerin«

Philip Zahner führte mit Gerhard Scheit ein Gespräch zu seinem neuem Buch »Mit Marx. 12 zum Teil scholastische Versuche zur Kritik der politischen Ökonomie«, das vor wenigen Tagen bei uns erschienen ist. Das Gespräch erschien in der Versorgerin #135.

Philip Zahner: Horkheimer hatte 1946 ein Gespräch mit Adorno über eine mögliche Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung mit der Frage beendet: »Wieweit hat man an der Selbsterhaltung teilzunehmen und wieweit ist sie Wahnsinn?« Bei dieser Frage handelt es sich nicht nur um den zentralen Aufhänger deines neuen Buches. Sie sei, schreibst du, vielmehr gleichbedeutend mit der Frage, wie nach Auschwitz die Kritik der politischen Ökonomie als »Existentialurteil« zu entfalten wäre. So evident diese Engführung der Dialektik der Aufklärung mit der Kritik der politischen Ökonomie im Grunde auch ist, so irritierend unüblich scheint dieser Gedanke mit Blick nicht nur auf die, häufig auf eine bloße Historisierung von Marx hinauslaufenden, Rezeptionsgewohnheiten der Dialektik der Aufklärung, sondern auch mit Blick auf die geschichts- und erfahrungslosen Diskussionen innerhalb der Neuen Marx-Lektüre, doch gleichzeitig zu sein. Woher kommt diese merkwürdige Polarität, die sich zunehmend auch in ideologiekritischen Kreisen bemerkbar macht?

Gerhard Scheit: Ja, entweder man verwendet die Dialektik der Aufklärung dazu, von Marx Abschied zu nehmen und landet dann, wenn man irgendwie doch links und antikapitalistisch sein möchte, bei absurden Begriffen wie »postmodernem« oder »digitalem Kapitalismus«; oder man verwendet die Marxsche Kritik, um Adornos und Horkheimers Einsichten zu ignorieren und bleibt das, was Marx nie sein wollte: Marxist. Dabei, so meine Auffassung, hat Adorno die Negative Dialektik u. a. geschrieben, um das eine durch das andere neu zu bestimmen, die Dialektik der Aufklärung durch die Kritik der politischen Ökonomie und vice versa. Ihr erster Satz lautet: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« Es ist nicht zuletzt die Kritik der politischen Ökonomie, die in dieser Situation nach Philosophie verlangt. Du erwähnst kritisch die Neue Marx-Lektüre: sie hat aber hier immerhin auf konkrete Probleme hingewiesen, so vor allem Hans-Georg Backhaus, etwa darauf, an welchen Stellen Marx seine eigene Analyse um ihren philosophischen Sinn brachte, um sie populärer zu gestalten. Aber es stimmt: sie ist trotz vieler wichtiger Einsichten insofern gescheitert, als sie versäumt hat, am Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie die Konfrontation im deutschen Idealismus, insbesondere die der Hegelschen Dialektik durch die Kantische Transzendentalphilosophie freizulegen und fortzuführen, die bei Marx implizit stattfindet (das geschah dann eher bei Außenseitern wie etwa Peter Bulthaup). Ohne sich auf die Kritik der politischen Ökonomie in extenso einzulassen, hatte Adorno bedeutend mehr dafür getan, den Sinn für diese Konfrontation zu wecken, zunächst unter dem Einfluss Sohn-Rethels, später vermutlich angeregt von Karl Heinz Haag. Darin ging er dann auch über die Dialektik der Aufklärung hinaus.