Die Kritischen Theorie des Kapitalismus überdenken * (Vortrag, Juni 2004)

Die Kritische Theorie des Kapitalismus überdenken

Moishe Postone

Die grundlegenden historischen Veränderungen der jüngsten Vergangenheit: der Rückbau wohlfahrtstaatlicher Errungenschaften im kapitalistischen Westen, der Zusammenbruch des Kommunismus und der bürokratischen Einparteien Staaten im Osten, die anscheinend triumphale Entstehung einer neuen neoliberalen kapitalistischen Weltordnung, so wie die drohenden Rivalitäten zwischen konkurrierenden kapitalistischen Blöcken, haben die zentrale Bedeutung der historischen Dynamik und eines tiefgreifenden weltweiten Strukturwandels nochmals verstärkt.

Diese Entwicklungen stellen ein breites Spektrum kritischer Positionen in Frage, die in den 70er und 80er Jahren tonangebend waren, aber ebenso ältere kritische Ansätze, die nach 1917 entstanden waren.

Weil diese Änderungen mit dem dramatischen Zusammenbruch und der endgültigen Auflösung der Sowjetunion und des europäischen Kommunismus verbunden waren, wurden sie als Anzeichen des historischen Endes des Marxismus aufgefaßt, bzw. sogar als ein Anzeichen des Endes der Relevanz der Marxschen Gesellschaftskritik interpretiert.

Was aber die letzten Jahrzehnte deutlich machten, ist, daß die zugrundeliegende globale Dynamik des Kapitalismus (in sozial, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht) sowohl im Osten wie im Westen wirksam geblieben ist.

Die Auffassung, daß der Staat diese Dynamik steuern könnte, war bestenfalls vorübergehend gültig. Dadurch sind nicht nur Theorien vom Primat des Politischen in Frage gestellt, sondern auch das poststrukturalistische Verständnis von Geschichte als ein zufälliger Ablauf. Und darüber hinaus sind diese Veränderungen auch ein Anzeichen dafür, daß unser Verständnis von demokratischer Selbstbestimmung wie es von Theorien der Zivilgesellschaft und in der Öffentlichkeit verbreitet wird, neu überdacht werden muß.

Diese historischen Veränderungen verweisen auf die Wichtigkeit einer erneuten Auseinandersetzung mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts weist jedoch entschieden darauf hin, daß der traditionelle Marxismus nicht mehr historisch adäquat ist und daß eine angemessene kritische Theorie sich in grundlegender Weise von der traditionellen marxistischen Kritik des Kapitalismus unterscheiden muß.

Unter “traditionellem Marxismus” verstehe ich eine Analyse des Kapitalismus, die fokussiert auf die Klassenverhältnisse, die auf dem Privateigentum beruhen und durch den Markt vermittelt werden, während der Sozialismus primär als eine Gesellschaftsorganisation angesehen wird, die im industriellen Kontext durch Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln und durch zentrale Planung gekennzeichnet ist – mit anderen Worten: eine Gesellschaft der gerecht und bewußt regulierten Verteilung, die der industriellen Produktion angemessen ist.

Dieser Ansatz kann nicht mehr als adäquate Grundlage einer emanzipatorischen kritischen Theorie dienen. Er bot keine Grundlage für eine zutreffende historische Kritik des real existierenden Sozialismus und seines Zusammenbruchs.

Darüber hinaus ist der Kern dieser kritischen Analyse des Kapitalismus inadäquat. Die Behauptung, der Sozialismus sei die Lösung für die Probleme des Kapitalismus, ist nicht mehr überzeugend, wenn unter Sozialismus schlicht die zentrale Planung und Verstaatlichung des Privateigentums verstanden wird.

Ebenso haben sich die emanzipatorische Ziele des traditionellen Marxismus zunehmend von Themen und Ursprüngen sozialer Unzufriedenheit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften entfernt. Das stimmt insbesondere im Hinblick auf seine affirmative Haltung zur proletarischen Arbeit und zur spezifischen Form der Produktion und des technologischen Fortschritt, die den Kapitalismus kennzeichnen. In einer Zeit wachsender Kritik an “Fortschritt” und “Wachstum”, erhöhter Aufmerksamkeit für ökologische Probleme, der Abnahme sowohl der Größe als auch der Macht der Industriearbeiterklasse in den Industriegesellschaften, der weitverbreiteten Unzufriedenheit mit der bestehenden Arbeitsformen, der verstärkte Auseinandersetzung mit politische Freiheit und mit Formen sozialer Identität, die nicht auf Klassenzugehörigkeit beruhen, ist der traditionelle Marxismus zunehmend anachronistisch geworden. Sowohl im Osten wie im Westen wurden seine Mängel durch die historische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sichtbar.

Rückblickend wird deutlich, daß die Konfiguration von sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren sich unter der Kapitalherrschaft jeweils veränderte: vom Merkantilismus zum liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, zum staatszentrierten fordistischen Kapitalismus des 20. Jahrhunderts und schließlich zum gegenwärtigen neoliberalen globalen Kapitalismus. Jede dieser Konfigurationen hat eine Reihe tiefschürfender Kritik hervorgerufen, beispielsweise die Kritik an Ausbeutung und ungleichem Wachstum oder die Kritik an technokratischen, bürokratischen Herrschaftsformen. Jeder dieser Kritikansätze war unvollständig. Wie wir jetzt erkennen, kann der Kapitalismus mit keiner seiner historischen Konfigurationen ausschließlich identifiziert werden. Daraus entsteht die Frage nach dem Wesenskern dieser Gesellschaftsformation.

Ich versuche einen Beitrag zu einem kritischen Verständnis dieses Kerns des Kapitalismus zu leisten, das nicht auf eine der genannten Epochen begrenzt ist. Ich behaupte, daß der Kern des Kapitalismus ein historisch-dynamischer Prozeß ist, der in verschiedenen historischen Ausformungen erscheint. Diesen Prozeß suchte Marx mit dem Begriff Kapital zu fassen. Das kann nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau erfolgen. Ein solches Verständnis könnte dann Ausgangspunkt für die Untersuchung der Wandlungen des Kapitalismus in den einzelnen Epochen wie auch des historischen Wandels von Subjektivität sein, wie sie in historisch spezifischen sozialen Bewegungen zum Ausdruck kommt.

(Bei meinem Versuch die Grundbegriffe der Marxschen Kapitalanalyse neu zu überdenken, versuche ich den systematischen Charakter der Marxschen Begriffsbildung zu rekonstruieren, statt mich auf einzelne Aussagen von Marx zu stützen, ohne dabei deren spezifischen Kontext in seiner Darstellung zu berücksichtigen.)

Ich argumentiere, daß die Kategorien der Kritik die Marx in seinem späten Werk entwickelte, historisch spezifisch für die moderne kapitalistische Gesellschaft sind. Das impliziert die historische Spezifizität der Marxschen Theorie selbst. Das bedeutet die Relativierung aller überhistorischen Begriffe – eingeschlossen viele Begriffe in den Frühschriften von Marx. In seinem Spätwerk beschränkt Marx ihre Geltung auf die kapitalistische Gesellschaft. Gleichzeitig zeigt er, warum das historisch Spezifische überhistorisch aussieht.

Er macht dies, indem er die fundamentalste Form gesellschaftlicher Verhältnisse im Kapitalismus bestimmt, um die dieser Gesellschaft zugrunde liegende Wirkungsweise zu erklären. Diese fundamentale Form ist die Ware, eine historisch spezifische Form gesellschaftliche Verhältnisse – eine strukturierte Form sozialer Praxis die zugleich eine strukturierende Form der Handlungen, Deutungsmuster und der Dispositionen. Als eine Kategorie der Praxis ist sie zugleich eine Form gesellschaftlicher Subjektivität und Objektivität.

Was die Warenform gesellschaftlichen Verhältnisse nach Marx kennzeichnet, ist, daß sie durch Arbeit konstituiert ist, sie existiert in objektivierter Form, und besitzt einem dualistischen Charakter. Marx behauptet, daß Arbeit im Kapitalismus “Doppelcharakter” hat: sie ist beides “konkrete Arbeit” und “abstrakte Arbeit”. “Konkrete Arbeit” bezieht sich auf die Tatsache, daß das, was wir als Arbeit betrachten, in allen Gesellschaftsformen die Interaktion des Menschen mit der Natur vermittelt. “Abstrakte Arbeit” meint nicht einfach konkrete Ar beit im Allgemeinen (Arbeit ohne bestimmten Inhalt), sondern ist eine ganz andere Kategorie. Das heißt, daß Arbeit im Kapitalismus eine einzigartige soziale Funktion besitzt, die nicht mit der Arbeitsaktivität als solcher zusammenfällt. Abstrakte Arbeit vermittelt eine neue Form der gegenseitigen gesellschaftlichen Abhängigkeit.

Ich will das ausführen. In einer Gesellschaft, in der die Ware die Basisstruktur des Ganzen ist, wird Arbeit und ihre Erzeugnisse nicht durch traditionelle Bindungen, Normen oder offensichtliche Macht – und Herrschaftsbeziehungen verteilt, also durch durchschaubare soziale Beziehungen, wie in nichtkapitalistischen Gesellschaften. Im Gegenteil, Arbeit selbst ersetzt diese Beziehungen durch Bereitstellung einer Art quasi objektiver Mittel, mit denen die Produkte anderer erworben werden. Eine neue Form von gegenseitiger Abhängigkeit entsteht, bei der niemand konsumiert, was er produziert, sondern bei der die eigene Arbeit oder das eigene Arbeitsprodukt als das quasi objektive, notwendige Mittel fungiert, die Arbeitsprodukte anderer zu erwerben. Indem Arbeit zum Erwerbsmittel wird, erhält sie und ihre Produkte von vornherein die Funktion einer sozialen Vermittlung.

In Marx’ Spätwerk ist der Begriff Arbeit als Mittelpunkt des sozialen Lebens gesetzt, aber nicht als überhistorische Aussage gemeint. Der Arbeitsbegriff als die zentrale gesellschaftliche Kategorie meint nicht den Sachverhalt, daß materielle Produktion immer eine Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens ist, noch meint er, daß materielle Produktion die wichtigste Determination gesellschaftlichen Lebens sei. Vielmehr rückt Marx den Arbeitsbegriff ins Zentrum, um eine ganz spezifische historisch entstandene Form der gesellschaftlichen Vermittlung zu erhellen. Auf dieser Basis, versucht Marx die grundlegenden Eigenschaften der Moderne gesellschaftskritisch zu begründen.

Nach Marx ist Arbeit im Kapitalismus nicht Arbeit, wie der Begriff überhistorisch und alltagssprachlich gebraucht wird. Er zielt auf eine historisch spezifische gesellschaftlich vermittelnde Aktivität. Die Vergegenständlichungen der Arbeit – Ware und Kapital – sind daher zugleich konkrete Arbeitsprodukte und objektivierte Formen gesellschaftlicher Vermittlung. So kann man die Verhältnisse, die die kapitalistischen Gesellschaften grundlegend charakterisieren, abheben von qualitativ anderen, partikularen unmittelbare sozialen Verhältnisse, wie zum Beispiel Verwandtschaftsbeziehungen oder unmittelbare persönliche Herrschaft, die für vorkapitalistische Gesellschaften charakteristisch sind. Obschon diese früheren Sozialbeziehungen unter dem Kapitalismus fortbestehen, ist das, was letztendlich die kapitalistische Gesellschaft ausmacht, eine alle partikulare Elemente untergründig strukturierend Synthese, die durch Arbeit konstituiert ist. Diese neuen gesellschaftlichen Verhältnisse haben einen besonderen, quasi objektiven formalen Charakter und sind dualistisch: sie sind durch den Gegensatz einerseits einer abstrakten, allgemeinen, homogenen Dimension mit andererseits einer konkreten, materiellen Dimension gekennzeichnet. Beide Dimensionen scheinen “natürlich” und nicht gesellschaftlich zu sein.

Der abstrakte Charakter der gesellschaftlichen Vermittlung, die dem Kapitalismus zugrunde liegt, findet auch in der vorherrschenden Form des Reichtums dieser Gesellschaft Ausdruck. Die “Arbeitswerttheorie” von Marx ist keine Arbeitstheorie des Reichtums im übergreifenden Sinne, also eine Theorie, die die Marktgesetze und die gesellschaftliche Ausbeutung dadurch zu erklären sucht, nämlich, daß Arbeit zu allen Zeiten und überall die einzige gesellschaftliche Quelle des Reichtums sei. Marx’ Analyse betrifft nicht den Reichtum im Allgemeinen, noch die Arbeit im Allgemeinen. Er untersucht den Wert vielmehr als eine spezifische Form des Reichtums, die an die historisch einmalige Rolle der Arbeit im Kapitalismus gebunden ist.

Marx unterscheidet ausdrücklich zwischen Wert und materiellen Reichtum und bezieht diese beiden unterschiedlichen Formen von Reichtum auf den Doppelcharakter der Arbeit im Kapitalismus. Materieller Reichtum wird durch die Menge von Produkten gemessen und ist unverzichtbar darüber hinaus von einer Reihe von Faktoren abhängig: Wissenschaft, soziale Organisation und Naturbedingungen wie auch Arbeit. Wert dagegen entsteht allein durch Verausgabung menschlicher Arbeitszeit und ist nach Marx die vorherrschende Form des Reichtums im Kapitalismus. Während materieller Reichtum, solange er die vorherrschende Form des Reichtums ist, durch manifest gesellschaftliche Verhältnisse vermittelt wird, ist der Wert eine selbstvermittelnde Form des Reichtums.

Ich will herausarbeiten, daß die Marxsche Analyse auf den Begriff der Ware fokussiert ist, was eine zweifache Perspektive beinhaltet, nämlich die historische Möglichkeit der Ablösung der soziale Synthese des Wertes durch eine soziale Ordnung die auf materiellen Reichtums sich gründet, als auch ihre Einschränkung. Im Rahmen dieser Interpretation ist das fundamentale Charakteristikum des Kapitalismus eine historisch spezifische Form gesellschaftlicher Vermittlung die durch Arbeit konstituiert wird.

Das Ergebnis ist eine neue Form gesellschaftlicher Herrschaft, eine, die die Menschen unpersönlichen, zunehmend rationalisierten strukturellen Imperativen unterwirft. Sie kann nicht mit Begriffen der Klassenherrschaft oder allgemeiner mit Begriffen der Herrschaft von sozialen Gruppen oder Institutionen des Staates und /oder der Wirtschaft angemessen verstanden werden. Sie hat keinen bestimmten Ort und erscheint nicht als gesellschaftliches Verhältnis, obwohl sie durch bestimmte Formen gesellschaftlicher Praxis hervorgebracht wird.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Zeit als Bestimmungsgrund der Wertgröße. Marx betont bei seiner Diskussion der Wertgröße die Besonderheit des Werts als eine Form des Reichtums, der zeitlich gemessen wird. Wachsende Produktivität vermehrt die Menge von Gebrauchswerten, die pro Zeiteinheit geschaffen werden. Aber dieses Wachstum schafft nur kurzfristig höheren Wert pro Zeiteinheit. Sobald der Produktivitätsfortschritt allgemein wird, fällt die Wertgröße auf seine vorherige Höhe zurück. Das Ergebnis ist ein Tretmühleneffekt. Einerseits resultiert Erhöhung der Produktivität im erheblichen Wachstum von Gebrauchswerten. Aber die erhöhte Produktivität ergibt nicht ein proportionales Wachstum des Werts.

Zu beachten ist, daß diese spezielle Tretmühlendynamik in der Zeitdimension des Werts wurzelt und nicht in der Weise, wie sich dieses Muster allgemein durchsetzt, d.h. in der Konkurrenz. Die historisch spezifische soziale Herrschaft, innerlich verknüpft mit der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung, ist die Herrschaft der Zeit über die Menschen. Diese Herrschaftsform ist an eine spezifisch historische abstrakte Form der Zeitlichkeit gebunden, die abstrakte Newtonsche Zeit, die historisch zusammen mit der Warenform entstanden ist.

Ich betrachte diese Dynamik als den Kern des Marxschen Kapitalbegriffs. Dieser Kapitalbegriff beinhaltet einen rastlosen Prozeß der Selbstausdehnung des Werts, eine expansive Bewegung ohne ein von außen gesetztes Ziel, die in langfristigen Zyklen der Produktion und Konsumtion der Wertschöpfung und Wertvernichtung verläuft.

Bezeichnenderweise verwendet Marx bei der Einführung der Kategorie des Kapitals dieselbe Sprache, die Hegel in der Phänomenologie im Bezug auf “Geist” verwendete, eine sich selbst bewegende Substanz, die das Subjekt ihrer eigenen Entwicklung ist. Marx legt damit nahe, daß ein historisches Subjekt im hegelschen Sinne tatsächlich im Kapitalismus existiert. Und – das ist eminent wichtig – er identifiziert dieses Subjekt nicht mit dem Proletariat oder mit der Menschheit. Er identifiziert es vielmehr mit dem Kapital.

Die marxsche Kritik an Hegel unterstellt, daß die kapitalistischen Verhältnisse dem Subjekt nicht äußerlich sind, als etwas, was seine volle Verwirklichung behindern würde. Im Ge genteil, er begreift diese Verhältnisse als konstituierend für das Subjekt. Marx geht nicht von einem historischen Metasubjekt aus, z.B. dem Proletariat, das sich in einer künftigen Gesellschaft verwirklichen könnte, sondern er bereitet den Boden für eine Kritik des Subjektbegriffs. Bei Lukács ist die durch Arbeit zustande gekommene Totalität der Standpunkt der Kritik am Kapitalismus, eine Totalität, die im Sozialismus real wird. Völlig anders bei Marx: In seinem Hauptwerk, Das Kapital sind Totalität und die sie begründende Arbeit Gegenstand der Kritik. Das historische Subjekt ist die entfremdete Struktur gesellschaftlicher Vermittlung. Die im Kapital innewohnenden Widersprüche zielen auf die Abschaffung des historischen Subjekts, nicht auf seine Verwirklichung.

Im marxschen Kapital wurzelt die historische Dynamik letztlich im Doppelcharakter der Ware und des Kapitals. Die Tretmühlendynamik ist wie beschrieben das Herz dieser Dynamik. Sie kann nicht begriffen werden, wenn Mehrwert nur in Begriffen der Ausbeutung, nur als Mehr – wert statt ebenso also Mehr – wert, als Surplus der Zeitform des Reichtums verstanden wird. Die Dialektik von Wert und Gebrauchswert, die entscheidende Bedeutung erst mit der entfalteten relativen Mehrwertproduktion gewinnt, führt zu der wachsenden, komplexen, nicht linearen historischen Dynamik als Grundlage der Moderne. Auf der einen Seite ist diese Dynamik durch eine fortlaufende Veränderung der Produktion oder allgemeiner des gesellschaftlichen Lebens geprägt. Auf der anderen Seite beinhaltet diese historische Dynamik die andauernde Wiederherstellung der eigenen Grundbedingung als ein unwandelbares Muster gesellschaftlichen Lebens. Unabhängig vom Entwicklungsstand der Produktivität konstituiert Arbeit in Kapitalismus gesellschaftliche Vermittlung und die lebendige Arbeit bleibt (im Blick auf die Gesamtgesellschaft) ein unverzichtbares Element der Produktion Die historische Dynamik des Kapitalismus erzeugt rastlos das “Neue” und stellt gleichzeitig das “Gleiche” immer wieder her. Diese Dynamik erzeugt die Möglichkeit eine neue Form gesellschaftlichen Lebens und hindert gleichzeitig diese an ihrer Verwirklichung.

Marx begreift diese historische Dynamik mit dem Kapitalbegriff. Mit der reellen Subsumption der Arbeit unter das Kapital stellt sich eine neue Konstellation zwischen Kapital und lebendige Arbeit her. Kapital wird immer weniger die mystifizierte Form der Macht, die “eigentlich” die der Arbeiter ist. Die Produktivkräfte des Kapitals werden zunehmend gesellschaftlich allgemeine Produktivkräfte, die nicht mehr von den unmittelbare Produzenten ausgehen. Die Akkumulation gesellschaftlichen Wissens macht proletarische Arbeit zunehmend anachronistisch. Aber gleichzeitig stellt die Dialektik von Wert und Gebrauchswert die Notwendigkeit solcher Arbeit immer wieder her.

Eine Implikation dieser Analyse ist, daß das Kapital keine einheitlich widerspruchslose Totalität ist und daß der marxsche dialektische Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht einen Widerspruch bezeichnet, der zwischen den zugeschriebenen kapitalistischen Verhältnissen (wie Markt und Privateigentum) und dem Kapital scheinbar äußerlichen Produktivkräften bestünde. Der dialektische Widerspruch besteht vielmehr zwischen den beiden Dimensionen des Kapitals. Als eine widersprüchliche Totalität erzeugt das Kapital die oben skizzierte Dynamik, die auf die Möglichkeit ihres Endes zielt.

Beiläufig sei bemerkt, daß Marx mit der Begründung des widersprüchlichen Charakters der gegenwärtigen Gesellschaftsform in den dualistischen Formen von Ware und Kapital zugleich festhält, daß dieser strukturelle gesellschaftliche Widerspruch Kapital spezifisch ist. Die Behauptung, die Realität, oder Geschichte im Allgemeinen seien ihrem Wesen nach widersprüchlich und dialektisch, ist im Lichte dieser Interpretation nur eine metaphysische Annahme. Das heißt auch, daß jede Theorie, die eine Entwicklungslogik postuliert, sei es dialektische oder evolutionäre, das auf die gesamte Geschichte projiziert, was nur dem Kapitalismus inne ist,

Diese komplexe Dynamik des Kapitalismus ermöglicht eine kritische Analyse der Wachstumstendenzen kapitalistischer Gesellschaften. Marx’ Schlüsselbegriff des Mehrwerts bedeutet nicht nur, wie traditionelle Interpretationen das wollen, daß der Überschuß von der Arbeiterklasse produziert wird, sondern zeigt, daß der Kapitalismus durch eine bestimmte Verlaufsform des Wachstums charakterisiert ist. Das ökonomischen Wachstums des Kapitalismus ist nach dieser Begrifflichkeit nicht nur krisengeschüttelt, wie das traditionelle marxistische Ansätzen häufig herausgestellt haben. Um die Form des Wachstums geht es auch, wie die immer rascher zunehmende Umweltzerstörung zeigt. Gemäß diesem Ansatz wäre der Verlauf des Wachstums anders, wenn Ziel der Produktion materieller Reichtum und nicht Mehrwert ist.

Dieser Ansatz bildet auch eine geeignete Basis für eine kritische Analyse der Struktur gesellschaftlicher Arbeit und des Wesens der Produktion im Kapitalismus. Er zeigt, daß der industrielle Produktionsprozeß nicht als technischer Prozeß verstanden werden darf. Der Prozeß ist seinem inneren Wesen nach kapitalistisch. Der dem Kapital innewohnende Antrieb zur ständige Steigerung der Produktivität läßt einen Produktionsapparat entstehen, der ein beachtliches technischen Entwicklungsniveau hat und der die Herstellung von materiellem Reichtums zunehmend unabhängig von der Verausgabung menschlicher Arbeitszeit macht. Dies wiederum eröffnet die Möglichkeit von weitreichenden und verallgemeinerten Arbeitszeitverkürzungen und grundlegenden Änderungen der Arbeitstechnik und Arbeitsbedingungen. Aber diese Möglichkeiten werden im Kapitalismus nicht verwirklicht. Obschon eine wachsende Abkehr von manuellen Arbeit sichtbar ist, befreit die Entwicklung ausgeklügelter Technik die meisten Menschen nicht von zerstückelten und ständig wiederholten gleichen Arbeitsvorgängen. Entsprechend ist die Arbeitszeit nicht auf das gesellschaftlich mögliche allgemeine Maß verkürzt, sondern ist ungleich verteilt und wächst für viele noch an. Die aktuelle Arbeitsstruktur und Organisation der Produktion können also mit technischen Begriffen nicht angemessen verstanden werden. Auch die Produktionsentwicklung muß mit Kategorien erfaßt werden, die der sozialen Konstituiertheit von Produktion Rechnung tragen.

Meine Reinterpretation zeigt, daß Marx weit über die traditionelle Kritik an den bürgerlichen Verteilungsverhältnisse von Markt und Privateigentum hinausgeht. Seine Theorie beinhaltet keineswegs nur eine Kritik der Ausbeutung und der ungleichen Verteilung von Reichtum und Macht. Sie begreift vielmehr die moderne Industriegesellschaft als kapitalistisch und untersucht kritisch den Kapitalismus in Hinblick auf Formen von abstrakter Herrschaft, auf die wachsenden Zerstückelung individueller Arbeit, auf die Atomisierung von menschlicher Existenz und auf eine blind galoppierenden Entwicklungslogik. Marx Theorie begreift die Arbeiterklasse eher als ein grundlegendes Element des Kapitalismus, anstatt als die Verkörperung seiner Negation. Die marxsche Theorie interpretiert Sozialismus nicht als eine Form der Realisierung der Arbeit und von industriellen Produktion, sondern als der mögliche Abschaffung des Proletariats, der proletarischen Arbeitsorganisation sowie der Überwindung eines Systems abstrakter Zwänge, die durch Arbeit als Vermittlungsmedium konstituiert werden.

Meine Reinterpretation der marxschen Theorie eröffnet die Grundlage für eine kritische Theorie postliberaler Gesellschaften als kapitalistische und kann auch die Grundlage einer kritischen Theorie der sogenannten real existierenden sozialistischen Länder sein. Sie sind in meiner Sicht eine alternative – und gescheiterte Form der Kapitalakkumulation und nicht eine Form der historischen Negation des Kapitalismus.

Mein Ansatz rekonzipiert die post–kapitalistisch e Gesellschaft als eine die das Proletariat und die Arbeit die es verrichtet überwindet, und fokussiert auf die Transformation der allgemeinen Struktur von Arbeit und Zeit. In diesem Sinne unterscheidet sich mein Ansatz vom dem traditionellen marxistischen Ideal der Verwirklichung des Proletariats. Er distanziert sich auch von der kapitalistischen Abschaffung von nationalen Arbeiterklassen, welche durch die Schaffung einer Unterklasse in einem Kontext vonstatten geht, der durch eine ungleicher Verteilung von Arbeit und Zeit — auf nationale und globale Ebene charakterisiert ist.

Da dieser Ansatz das Wesen der Produktion, der Arbeit und der kapitalistischen Wachstumserfordernisse kritisiert, stellt er einen vielversprechenden Ausgangspunkt dar, um die neuen sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte analytisch zu fassen.

Schließlich hat dieser Ansatz Implikationen für die Analyse der sozialen Vorbedingungen von Demokratie, da er nicht nur die für eine demokratische Politik schädlichen Ungleichheiten der realen Machtverhältnisse erfaßt. Ebenso enthüllt er als sozial konstituiert – und damit als einen legitimen Gegenstand von politischen Debatten – die systemischen Grenzen, die der demokratischen Selbstbestimmung durch die globale Kapitaldynamik auferlegt werden.

Der strukturellen Umbrüche der jüngsten Vergangenheit weisen darauf hin, daß eine angemessene kritische Theorie der Gegenwart eine passendere kritische Theorie des Kapitalismus benötigt. Theorien der Demokratie, der Identität, die die Dynamik der kapitalistischen Globalisierung nicht berücksichtigen, reichen nicht mehr aus.

Ohne eine adäquate Analyse des Kapitalismus, die sich mit der strukturellen Krise beschäftigt, die das Leben der meisten Menschen auf der Welt, wenn auch in unterschiedlicher Weise prägt, wird die Linke das politische Feld vollständig den Rechten überlassen müssen oder sie wird in Richtung von neopopulistischen Formen abdriften, die nur scheinbar fortschrittlich sind.

Aus dem Amerikanischen von Michael Berger und Kai Woodfin (Freiburg)

(Vortrag auf der Veranstaltungsreihe “Zeit, Arbeit, gesellschaftliche Herrschaft. Moishe Postone erläutert und diskutiert die kritische Theorie von Marx” vom 7. bis 11. Juni 2004 in Frankfurt, Freiburg, Berlin, Hamburg und Bochum, organisiert von jungle World und Ça ira.)

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