Eine Jugend’

Ruth Klüger, weiter leben – Eine Jugend

Eine Buchbesprechung

Monika Noll

In vier Teilen und einem Epilog erzählt das Buch die Wiener Kindheit der Autorin, ihre Zeit in drei Konzentrationslagern (Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt), Flucht und Nachkrieg in Deutschland, das Leben in den USA und einen späteren schweren Unfall in Göttingen. Aber Klüger erzählt ganz anders als andere Überlebende, anders als Richard Glazar aus Treblinka, anders als Primo Levi oder Tibor Wohl aus Auschwitz. Und zwar nicht nur, weil sie “die Lager” mit einem ausführlichen Vorher und Nachher versieht, sie einbettet in die Kontinuität des “weiter lebens”; sondern auch weil es ihr allem Anschein nach weniger auf Erzählen, auf das Beisteuern von Material, als vielmehr auf das heutige Beurteilen und Analysieren des Geschehenen ankommt.

Beides ist legitim und eröffnet auch eine neue Darstellungsdimension: nämlich jenen vergleichenden Blick, der das ‘Leben’ in den KZ als integralen Bestandteil des gewöhnlichen Lebens wahrnimmt. Was die Leser bei den meisten Berichten der Opfer aus dem Material ‘herauslesen’ müssen, hier könnte es zum Gegenstand der Darstellung selber werden. Hier könnte zusammengedacht werden, was wir sonst systematisch auseinanderdenken; hier könnte die durch das schiere “weiter leben” faktisch (also gegen alle ideologische Aufspaltung) geleistete Synthetisierung von KZ-Dasein und gesellschaftlicher Existenz einmal Thema sein.

Aber das Unternehmen ist auch heikel. Muß man doch der Versuchung widerstehen, den Zusammenhang zwischen dem Leben in der Gesellschaft und dem Überleben im Konzentrationslager zu entmaterialisieren, das heißt das beide Verbindende nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern etwa in der Psychologie zu suchen und letzten Endes das eine zur Interpretation oder Sinngebung für das andere zu mißbrauchen. Ruth Klüger widersteht dieser Versuchung nicht. Sie verklärt die Konzentrationslager durch die Geschichte der “Mutter-Tochter-Neurose” (57), und umgekehrt. Noch bevor sie Opfer antisemitischer Verfolgung und Gewalt wird, ist sie schon Opfer der “Älteren”, die sie von Anfang an “im Stich gelassen haben” (10). Noch bevor sie, elfjährig, der Willkür von Deportation und Selektion ausgeliefert ist, sieht sie sich der Willkür ihrer Mutter, ihrem rücksichtslosen Besitzanspruch ausgesetzt. Tochter dieser Mutter zu sein, das ist ihr Schicksal, dieser Mutter, die sie, obwohl es die letzte Chance war, aus Wien nicht mit einem Kindertransport nach Palästina hat entkommen lassen. “Ich glaube, das habe ich ihr nie verziehen. Der andere Mensch, der ich geworden wär, wenn ich nur ein Wort hätte mitreden können, wenn sie mich nicht einfach als ihr Eigentum behandelt hätte.” (62) Bis zum Ende ihres Abschnitts über die Wiener Kindheit hat die Autorin sich bereits mit jener Aura des bürgerlichen Subjekts, mit jener Freiheitsperspektive ausgestattet, die ihren ganzen Lebensbericht und mehr noch ihren Bericht über die Konzentrationslager verfälscht. Daß sie ‘eigentlich’ immer ein “anderer Mensch” ist, daß sie von Kindheit an in ein ‘uneigentliches’ Leben hineingezwungen wird, – diese Lebenslüge macht den ressentimentgeladenen Ton gegen ihre Mutter, den unaufrichtigen Ton in Sachen KZ und den beschönigenden Ton ihrer Urteile und Reflexionen. Statt vorbehaltlos Unfreiheit und Determination zu schildern, ist Klüger damit beschäftigt, mit allen Mitteln Spielraum vorzutäuschen, moralische, dichterische, reflektierende Distanz, eine beständige reservatio anzumelden, die aus dem determinierten eigenen Leben die bösen (oder guten) Taten der anderen macht: Was mit dem ‘Im-Stich-lassen’ und den “Grausamkeiten der Erwachsenen” (61) beginnt, das endet mit “Verrat” (267). Hätten die anderen nicht … – diesem Paradigma folgt die Autorin, wenn sie auf ihr Leben zurückblickt und sich noch als erwachsene Frau hinter der Kinderperspektive, hinter der Perspektive des vorpubertären Mädchens verschanzt, in der die Mutter ebenso übermächtig erscheint wie die für Hunger, Durst und Tod verantwortlichen KZ-Aufseher.

Natürlich hat Klügers Versuch, noch aus dem KZ-Dasein Freiheit herauszuschlagen, auch seinen Preis. Wenn jedes Opfer seine unverwechselbare Individualität bewahrte, wenn es “für jeden … einmalig” war, dann läßt sich das Überleben kaum dem “Zufall” zuschreiben (73). Wenn es jenseits der Statistik auf “Furcht und Freude” ankommt, dann hält es schwer, zugleich auf jedes “Hoffnungskonto” zu verzichten (107). Wenn – wie im Fall ihrer Rettung durch eine Mitgefangene – eine “freie, spontane Tat” die “Kette der Ursachen durchbrach” (134), wenn “gerade in diesem perversen Auschwitz das Gute schlechthin als Möglichkeit bestand” (135), dann ist das KZ gegen alle Absicht von der “moralischen Anstalt” des Bürgers nicht mehr zu unterscheiden. So liefern sich die Opfer all denen aus, die das Überleben mit dem Maßstab der Moral messen und die Menschen, die überlebt haben, wahlweise zu den “Besten” oder den “Schlechtesten” erklären wollen (73). So müssen sie noch dem Tod in der Gaskammer die Ungleichheit abringen: “Wer erstickt, hat die Grenzen der Freiheit erreicht und trampelt dann doch auf andere? Oder gibt es auch da Unterschiede, Ausnahmen?” (33)

Ruth Klügers Buch ist ein Erfolg, weil es heute dringend gebraucht wird: ein trotz allem beschwichtigender, tröstlicher Bericht aus den KZ, gleichsam ein Härtetest für die bürgerliche Ideologie der Freiheit und Menschenwürde, ein Erfahrungsbericht zur Verhinderung von Erfahrung und zur Rettung des Autonomiewahns. Was Levi, Glazar, Wohl und andere in den Blick gerückt haben, nämlich ein ‘Leben’ ohne Freiheit und ohne Menschenwürde, das wird hier systematisch reideologisiert. Uns ist das ganz recht: Rückt die Wirklichkeit uns und unseren liberalen Illusionen doch so kräftig auf den Pelz, daß wir uns schon ganz gern an der “Möglichkeit” wärmen mögen.

Göttingen (Wallstein-Verlag) 1992, 285 Seiten, 38 DM

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