Quo vadis Ça ira?

Ulrich Enderwitz

Euer letztes Kommuniqué habe ich mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und leichtem Schrecken gelesen. Wenn ich Eure Botschaft recht verstehe, dann lautet sie, dass die arabischen Widerstandskämpfer und Terroristen (in Eurem medienkonformen Jargon Der Dschihad) von derselben rassisch bedingten Vernichtungswut getriebene Mordbuben sind wie die Deutschen (politisch-ökonomisch oder kulturell-nationalgeschichtlich bedingt kann die Übereinstimmung angesichts der historischen Kluft zwischen Deutschland und der arabischen Welt ja wohl nicht sein), dass die USA Wahrer und Hüter eines vergleichsweise guten, weil Liberalismus und Individualismus garantierenden und insofern unverdrossen als Bollwerk gegen den Faschismus fungierenden Kapitalismus sind und dass Israel nach wie vor die Rolle der den Faschisten und völkischen Staatsgemeinschaftlern arabischer und deutscher Nation ewig als Sündenbock und Mordopfer dienenden Juden spielt.

Man muss die arabischen und palästinensischen Kämpen nicht mögen und kann durchaus alle mögliche individuelle und kollektive Pathologie bei ihnen am Werk sehen. Aber was man sehen muss, ist die Tatsache, dass diese Pathologie in ihren wesentlichen Zügen und vor allem in ihrer Eigenschaft als gesellschaftlich relevante Erscheinung das Werk und Ergebnis eines langen Prozesses kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung ist. In diesem Sinne ist der Islamismus ein “Geschöpf” der westlichen “Zivilisation” und trägt die Gewalt und den Terror in anarchistisch entstellter Gestalt dorthin zurück, von wo sie in militärisch-bürokratischer beziehungsweise ökonomisch-versachlichter Form ausgegangen sind. Das ist eigentlich eine linke Binsenwahrheit, die Ihr offenbar meint, in den Wind schlagen zu können. Wenn Ihr das aber tut, dann müsst Ihr den Iran, Pot Pol, den Vietkong, Che Guevara und all die übrigen in einen Topf mit den Islamisten werfen und sie allesamt für Mordbrenner erklären, weil sie als Opfer der Weltordnung praktisch an ihr herumzündeln, statt wie die kritisch gestimmten Profiteure der Weltordnung (sprich westliche Intellektuelle) bloß theoretisch an ihr zu rütteln.

Was Israel angeht, so bin ich, wie Ihr wisst, durchaus der Ansicht, dass es uns Deutschen nicht zusteht, das Maul aufzureißen und politische Ratschläge zu erteilen oder moralische Urteile zu fällen. Aber ich müsste schon alles, was ich an Urteilskraft und Verstand besitze, verleugnen, um nicht zu sehen, dass die israelische Siedlungspolitik und der darin implizierte Anspruch auf ganz Palästina von entscheidender Bedeutung für die jetzige Zuspitzung der Situation ist und dass Scharon und jene Teile der israelischen Gesellschaft, die er vertritt, unter dem Schutz der Amerikaner eine Konfrontationspolitik betreiben, die direkt in die Katastrophe hineinführt. Dass aus historischer Perspektive noch sehr viel über die Rolle der anderen arabischen Staaten bei dieser Entwicklung und über das unselige politische Bewusstsein der Palästinenser, das diese anderen Staaten nicht weniger als Israel zu verantworten haben, zu sagen wäre, weiß ich; aber dass die Israelis aus Feigheit vor ihren radikalen religiösen Gruppen die Friedenschance, die sich in den letzten Jahren in Form einer klaren Aufteilung Palästinas geboten hat, leichtfertig vertan haben, an dieser Tatsache führt meines Erachtens kein Weg vorbei.

Und nun zu Eurer Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus, zu dem Ihr ansatzweise anhebt, auch wenn Ihr es schamhaft bei Andeutungen belasst. Woher plötzlich dieser qualitative Unterschied zwischen liberalistisch operierendem und nationalsozialistisch organisiertem Kapital, zwischen oligarchischer Demokratie und Faschismus, zwischen Angelsachsen und Teutonen? Habt Ihr denn keine Angst, Euch am Ende bei Hannah Arendt oder gar bei Popper wiederzufinden? Waren wir uns denn nicht immerhin darin einig, dass der volksdemokratische Faschismus eine logische oder jedenfalls krisen- beziehungsweise notstandslogische Konsequenz des repräsentativ-demokratischen Kapitalismus ist und der Nationalsozialismus insofern als eine durch die besonderen Umstände Deutschlands begünstigte frühe Ausbildung oder Vorform einer der kapitalistischen Entwicklung insgesamt eingeschriebenen Rezeptur gelten kann? Wobei ich Früh- oder Vorform gar nicht so sehr im historisch-exemplarischen als vielmehr bloß im systematisch-paradigmatischen Sinne verstanden wissen möchte, das heißt, von der Annahme ausgehe, dass nur unter allgemeinen strukturellen Gesichtspunkten (Intervention des Staats, Zusammenschluss von Kapital und Arbeit, Schaffung eines die gemeinschaftliche Identität terroristisch festklopfenden Feindbilds), nicht aber unbedingt unter dem Aspekt seiner besonderen funktionellen Ausprägung (Führerkult, volksgemeinschaftliche Arbeitsfront, Antisemitismus) der deutsche Faschismus wegweisend gewesen ist. Es ist mit anderen Worten durchaus denkbar, dass zukünftige faschistische Entwicklungen, für die man vielleicht gar nicht so weit in die Zukunft gehen muss, ohne die charakterologischen Besonderheiten des deutschen Faschismus, wenn auch nicht ohne seine strukturellen Prinzipien auskommen werden. Von dieser Möglichkeit wollt ihr offenbar wenig wissen. Für euch sind mordlüstern-schlagkräftige Volksgemeinschaft und Antisemitismus offenbar konstitutive Bestandteil jedes Faschismus.

Und die Konsequenz, die ihr daraus zieht, erscheint mir ebenso hanebüchen wie in sich logisch. Jeder zukünftige Faschismus muss Euch zufolge ein deutscher Faschismus, um nicht zu sagen, ein Faschismus der Deutschen sein. Wir Deutschen haben schlagend bewiesen, dass wir die Volksgemeinschaft in Reinkultur, eine in Rottenform geborene Nation, ein die Warenform als Naturverhältnis reproduzierendes Staatsvolk sind. Und wir haben gezeigt, dass wir uns auf den Antisemitismus mörderisch gut verstehen. Dass wir Deutschen den Faschismus nicht nur erfunden, sondern auch ein- für allemal inhaltlich definiert und quasi gepachtet haben, legt dann im Blick auf die Zukunft zwei Optionen nahe, zwischen denen Ihr Euch nach meinem Eindruck nicht so recht entscheiden könnt: Entweder dieser deutsche Faschismus bleibt ein Sonderphänomen, seine “Implementation”, wie man neudeutsch zu sagen pflegt, ein Sonderweg der Deutschen; dann muss man sich, um ihn zu verhindern, auf die Seite des “normalen”, liberalistischen Kapitalismus als des herrschenden und den deutschen Sonderweg allein zu verbauen fähigen Allgemeinen schlagen. Oder dieser deutsche Faschismus ist – wie ja durch die These von der tendenziellen, wo nicht gar notwendigen Faschisierung des Kapitalismus nahgelegt wird – der maßgebende Wechsel auf das Schicksal des Kapitalismus ganz allgemein, der Vorgriff auf die Zukunft aller Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht; dann müsst Ihr in vexierbildlicher Wiederaufnahme der Rede vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen wird, und des darin kodifizierten Größenwahns Deutschland zur schlechthin schicksalsträchtigen Nation, zum “Meister der Krise” oder besser gesagt zum “Tier der Apokalypse” erklären. Die einzigen, die aus Gründen ihrer von Euch als Antisemitismus ausgemachten Feindschaft gegen Israel (und gegen die USA!?) an dieser “historischen Mission” der Deutschen vielleicht noch teilhaben dürfen, sind dann die Muslime, alias Araber, alias Palästinenser, unsere, wie ihr in Stammtischmanier zu konstatieren beliebt, “Bündnispartner von gestern und morgen”.

Diese Sicht aber von Deutschland als dem bahnbrechenden Vorreiter beziehungsweise wegweisenden Anführer beim leviathanischen Marsch in den apokalyptisch permanenten Notstand scheint mir bar jedes Realismus und historischen Sinns. Selbst wenn ihr die Deutschen für ein unverbesserliches und an “normale” Standards “einfacher” kapitalistischer Vergesellschaftung anpassungsunfähiges Staatsvolk h altet – an der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg die Machtverhältnisse unwiderruflich verschoben und Deutschland – das wiedervereinigte mit seinem ökonomischen Klotz namens DDR am Bein gewiss nicht weniger als das einstige westdeutsche – zu einer Macht zweiten oder dritten Grades geschrumpft hat, führt für die kritische Reflexion meines Erachtens kein Weg vorbei. Selbst wenn Ihr also mutmaßt oder fürchtet, ein sich selbst überlassenes Deutschland werde flugs seine alte staatsvölkisch-volksgemeinschaftlich-antisemitische “Natur” hervorkehren, müsst Ihr doch zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland ganz und gar nicht sich selbst überlassen, sondern eingebunden in einen vom Kapitalismus der USA dominierten weltpolitischen Kontext ist, demgegenüber sich zu verselbständigen und einen Sonderweg oder eine Führungsrolle geltend zu machen, es nicht die geringste Chance hat. Wäre es da nicht besser und historisch angemessener, sich ein bisschen mehr mit den kraft des westlichen Kapitalismus amerikanischer Prägung herrschenden Verhältnissen und den durch ihn bestimmten und, wie ich vermute, auf ganz anderen Mechanismen als auf dem volksgemeinschaftlichen Führerstaat und dem nationalsozialistischen Antisemitismus aufbauenden faschistischen Zukunftsperspektiven der “zivilisierten Welt” zu beschäftigen, statt die Form von Selbstbespiegelung zu betreiben, die Ihr mit Eurer Fixierung auf die von der Geschichte überholte deutsche “Sondermission”, wie ich meine, betreibt und die Euch, wie mir – zumal nach der Lektüre Eures letzten Kommuniqués – scheint, der Paradoxie des Antideutschtums, einer aus Provinzialismus und Projektion gemischten negativen Deutschtümelei in die Arme treibt?

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