Dahlmann Antowrt auf "Quo vadis Ça ira?"

Antwort auf Enderwitzens Quo vadis Ça ira

Manfred Dahlmann

Lieber Uli,

“mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und leichtem Schrecken” habe ich deine Kritik unseres Textes zur “barbarischen Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft” gelesen. Dies um so mehr als mir an deinem wie an nahezu allen Reaktionen auf unsere Stellungnahme der, irgendwo zwischen Larmoyanz und Arroganz anzusiedelnde, Ton zu schaffen macht, in dem du über uns, und implizit wohl auch über die Redaktion der Bahamas, herziehst, obwohl wir doch in diesem und anderen Texten tagespolitische Ereignisse lediglich auf der Grundlage basaler Selbstverständlichkeiten kritischer Theorie (zugegebenermaßen: polemisch) darzustellen versucht haben. Ich hoffe, daß eine Verständigung noch möglich ist, die aus meiner Sicht im Kern auf das Einverständnis hinaus laufen sollte, daß ein Gemeinmachen mit der real existierenden deutschen, sich mit dem Kampf des palästinensischen Volkes identifizierenden Linken, die bislang in unseren Texten zumeist den Hauptadressaten unserer Kritik abgegeben hat (ob sich das nicht bald mal ändern sollte, ist eine wirklich berechtigte Frage), schlicht als konterrevolutionär zu bezeichnen ist. Diese Linke in Deutschland, die dem völkischen Sezzessionswahn immer näher stand als den auf der Basis kapitalistischer Vergesellschaftung nicht einzulösenden Versprechen der bürgerlichen Revolution, steht auf der Seite der Reaktion, genauer: Regression, und dürfte für die Kritik sogar als Gegenstand verloren sein. Auch das ist zwar nichts Neues, aber man wird immer wieder neu darauf gestoßen.

Die folgenden Ausführungen versuchen nicht nur deine Kritik zurückzuweisen, sondern auch etwas tiefer in dieses deutsch-linke Denken einzudringen, weil ich glaube, daß in deiner Replik unausgesprochen noch vieles enthalten ist von dem, was wir schon immer an der 68er Tradition kritisiert haben. Dies geschieht nicht, um dich mit dieser Linken umstandslos in einen Topf zu werfen, sondern um darzulegen, daß die Absage an diese Tradition in meinen Augen sehr viel radikaler erfolgen muß, als das mir bei dir der Fall zu sein scheint.

Nicht nur der Ton macht betroffen: es kommt auch eine gewisse, mir kaum verständliche Ignoranz gegenüber unserer bisherigen politischen Praxis zum Ausdruck. Spätestens seit der drohenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989, schon aber seit unserem ersten Buch 1984, das zu einem heute immer noch höchst aktuellen Thema eindeutig Stellung bezog: nämlich der deutschen Friedenssehnsucht – die, wie jede Woche etwa in den Leserbriefen der deutschen Zeitungen und Zeitschriften, aber auch in deren redaktionellen Beiträgen nachzulesen ist, die Deutschen schon wieder mal voll erfaßt hat –, mußte jedem klar sein, der sich näher mit der ISF befaßte: das sind so genannte ‘Antideutsche’. Vorgeworfen wurde uns allseits schon damals, bei unserer Position handele es sich um nichts anderes als “negativen Rassismus”. Jetzt, ein gutes Jahrzehnt später, nachdem schon lange kaum noch einer unserer Gegner damit zu kommen wagt, wird dieser Vorwurf am Ende deiner Replik, an exponierter Stelle also, wiederholt, wenn du uns “der Paradoxie des Antideutschtums, einer aus Provinzialismus und Projektion gemischten negativen Deutschtümelei” bezichtigst. Hältst du uns wirklich für so vergeßlich, daß wir die Absurdität dieses Vorwurfes auch nach so langer Zeit nicht mehr nahezu im Schlaf entlang des damals Geschriebenen wiederholen könnten?

Unsere damaligen Zurückweisungen dieser Anschuldigung werde ich hier nicht im einzelnen wiederholen. Nur so viel: Angesichts der überwältigenden Faktenlage (1870/71, 1914/18, 1933/45, um nur die entscheidenden Daten anzuführen – nehmen wir der Aktualität halber aber ausdrücklich noch den Bundeswehreinsatz im Kosovo hinzu), kann wohl kaum einer leugnen, daß historisch und gesellschaftlich mit dem Namen ‘Deutschland’ eine Politik verbunden ist, die sich konsequent gegen die von anderen Nationen akkumulierten ökonomischen Werte und kulturellen Vorstellungen richtet. Diese Verbindung bleibt mindestens konnotiert, solange die den damaligen Ereignissen zugrundeliegenden Strukturen, die Bedingung ihrer Möglichkeit, gesellschaftlich noch gegeben sind und sich somit diese, die Nachbarn und die Bevölkerung anderer Nationen existentiell bedrohende Politik in der Zukunft vom Prinzip her wiederholen kann. “Völlig bar jedes Realismus und historischen Sinns” wäre es aus unserer Sicht demnach nicht nur, wenn man die Vergangenheit ohne Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse einfach fortschreibt (was man uns nun wirklich nicht vorwerfen kann), sondern eben auch, wenn man die aktuelle Situation mit dem, was in Zukunft ansteht oder droht, identifiziert. Nicht sonderlich geistreich oder gar originell, aber zu bedenken wäre doch wohl der Hinweis, daß etwa 1933 jeder für verrückt gegolten hätte, der prophezeit hätte, daß Deutschland sechs Jahre später der Welt den Krieg erklären wird.

Wenn die Berücksichtigung von Geschichte für die Analyse des Gegenwärtigen nur irgendeinen Sinn macht, sollte, angesichts Deutschlands Vergangenheit, der, der behauptet, daß “Deutschland (unwiderruflich) zu einer Macht zweiten oder dritten Grades” geschrumpft ist, für diese These der “Unwiderruflichkeit” beweispflichtig sein, und es hätte nicht zuerst derjenige seine Behauptungen zu beweisen, der seinen Mitmenschen vor Augen führen will, was in Deutschen vorgeht, wenn sie zusehen müssen (bislang noch: das ist klar), wie Amerika den Weltpolizisten spielt, wo doch ihnen als den wahren Verfechtern der Menschenrechte (die ihnen, wie bekannt, im Kern nicht als Individual-, sondern als Volksrechte gelten) diese Rolle eigentlich zustünde. Denn diese Behauptungen sind dermaßen evident, daß jeder außenpolitische Artikel einer jeden deutschen Zeitung eines jeden Tages für diese deutsche Gefühlslage als Beleg angeführt werden könnte. (Zur Zeit der Niederschrift dieses Satzes geht es gerade um die Menschenrechtsverletzungen der Amerikaner an den gefangenen Taliban-Kämpfern.)

Was ich eingangs mit dem ‘Ton’ meinte, kommt vielleicht am besten in der Art zum Ausdruck, in der du in einer Randbemerkung unsere Rede vom “Dschihad” als “medienkonformen Jargon” bezeichnest. Hast du seit dem 11. September kein (deutsches) Feuilleton gelesen? Der Herausgeber des Merkur – mit dieser Zeitschrift habe ich es, ich weiß, und ich werde gegen Ende dieser Erörterung noch deutlicher machen, warum –, Kurt Scheel, hat sich die Mühe gemacht (anläßlich eines Streites der Herausgeber mit der FAZ über die Einschätzung der Anschläge in den USA: erstaunlich, daß unter den rechten Intellektuellen die gleichen Auseinandersetzungen stattfinden wie unter linken), das deutschsprachige Feuilleton daraufhin zu untersuchen, wer dort eine von den USA sich mehr oder weniger stark distanzierende Haltung einnimmt, und wer nicht. Sein Resultat: bis auf Welt und TAZ, und die von ihm herausgegebene Zeitschrift (eine merkwürdige Koalition, also eher genau die, die man vorweg als ‘stramm’ deutsch qualifizieren würde, die bei genauerem Hinsehen jedoch erklärlich ist, doch auch darauf kann ich hier leider nicht näher eingehen) findet sich in diesen Feuilletons durchweg die Position, die auch du uns gegenüberstellst: Mit den Anschlägen komme lediglich die “Gewalt und der Terror … dorthin zurück, von wo sie … ausgegangen sind”. (Die Auslassungen betreffen Spezifizierungen, die deine Sicht von einigen anderen des hier angesprochenen Spektrums auf einer konkreteren Ebene unterscheiden. Mir geht es um die Grundaussage.)

Anmerkung: Von den allseits bekannten und beliebten, in diesen Feuilletons sich breit machenden Schriftstellern wie Grass, Jens und Co, die wir in den 70ern ja die “Unterschriftsteller” nannten, weil sie ihre Unterschrift unter jeden Käse der Linken setzten, sieht Scheel dabei noch ab und behandelt sie gesondert – denn die sind selbstredend allesamt gegen “Gewalt” und für “Frieden”: eine Einigkeit, die bei dem deutschen Krieg im Kosovo unter ihnen bezeichnenderweise nicht bestand. Darauf, warum man unserer Meinung nach aus denselben Gründen, aufgrund derer man gegen den Krieg gegen Serbien Partei ergreifen mußte, aktuell Solidarität mit dem Krieg gegen die Taliban und mit Israel bekunden muß, kann ich hier ebenfalls nicht eingehen, ergibt sich aber implizit aus dem Entwickelten. Hier nur der Verweis auf die Zeitschrift konkret, die mit ihrer eigenen Logik der Parteinahmen überhaupt nicht klar kommt, und deshalb alles kunterbunt durcheinander würfelt. Dies vielleicht aber auch nur deshalb, weil Gremliza mal wieder Angst vor massiven Abo-Einbrüchen hat, wenn er sich gegen den linken Mainstream zu weit aus dem Fenster hängt.

Zugegeben – das alles ist nicht repräsentativ, es handelt sich nicht um wirkliche Argumente, sondern um auf Evidenz verweisende Kritik. Weder um das eine noch um das andere aber handelt es sich, wenn man uns in die Nähe von Hannah Arendt oder Sir Karl Popper bringt. Dann schlage ich mit Horst Mahler, Martin Walser und Konsorten zurück. Was also soll das unter Leuten, denen es doch tatsächlich um die Sache geht? Zu jenen von dir angeführten, in unsere Nähe Gerückten ist von uns jedenfalls genügend – meist kritisches – gesagt worden; zum liberalen Kapitalismus in Amerika ebenfalls – und hier nur kritisches. Wir sehen keinerlei Veranlassung, vom Inhalt irgend etwas zurückzunehmen.

Um jedoch kurz bei Autoritäten zu verweilen: wie wär’s mit Günter Anders? Meines Wissens ist der mit seiner Antizipation der aktuellen Entwicklung (die Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen auch für kleine Gruppen: Rackets also; ich glaube das ist der Begriff, der zur Kennzeichnung der aktuellen Entwicklung sehr viel stärker als bisher in Anspruch genommen werden sollte) zu seinen zwar von der Linken nicht sonderlich goutierten – aber was heißt das schon – dennoch kaum als abwegig zu kennzeichnenden Einschätzungen der Subjektrolle moderner Großtechnologie gelangt, ein Aspekt, der von dir, und der Linken insgesamt, nicht berücksichtigt wird, obwohl er doch nur schwer von der Hand zu weisen ist – und von der Sache her nicht allein schon dadurch obsolet werden kann, weil die technologischen Zwänge auch das Lieblingsthema der modernen, fortschrittlichen, naturwissenschaftlich orientierten Intellektuellen sind.

Doch nun zum Verhältnis der USA zu Taliban/Al-Qaida im allgemeinen und dem von uns hergestellten Bezug letzterer zu den Nationalsozialisten im besonderen – was ja wohl den zentralen Punkt deiner Kritik ausmacht.

Daß man sagen könne, die “Vernichtungswut der arabischen Widerstandskämpfer und Terroristen” sei dieselbe wie die der deutschen “Mordbuben”, jene also aus denselben historischen Bedingungen erwachsen, würde ich vehement bestreiten und das haben weder wir noch die Genossen von der Bahamas meines Wissens auch nur dem Sinn nach irgendwo behauptet. Was dagegen klar sein sollte, ist, daß beider Vernichtungswut ein- und dasselbe zum Ausdruck bringt: eben, auch wenn man über die genaue Formulierung streiten kann: eine “barbarische Vernichtungswut”, die sich, und das ist entscheidend für diese Ebene des Vergleichs, so in der angloamerikanischen Regierungs- und Militärpolitik nicht findet, und die es historisch dort in dieser Form auch bisher nicht gegeben hat – trotz der “Flächenbombardements” in Vietnam und Dresden (die es in Afghanistan, entgegen der immer wiederholten Märchen, nicht gegeben haben kann, weil selbst die von den Taliban bezifferte Zahl der Toten ausschließt, daß von den Amerikanern eine derartige Strategie verfolgt worden ist). Und die der Wehrmacht, in der sich der Vernichtungswahn des Dritten Reiches am effektivsten zum Ausdruck brachte, unmittelbar nachfolgende Bundeswehr hat zugegebenermaßen diese Vernichtungswut bisher auch noch nicht gezeigt – aber das Gegenteil hat von uns auch wieder keiner behauptet.

Um nun von hier aus zu unserem ‘Vergleich’ des Nationalsozialismus mit den Taliban zu kommen, mal ganz platt: Wenn ich eine Schaufensterscheibe einschlage, kann das die unterschiedlichsten Gründe haben: von der Absicht zu rauben bis hin zu Liebeskummer. Das Einschlagen der Scheibe aber ist allen Motiven, so unterschiedlich sie sein mögen und so unterschiedlich ihr Einfluß auf die Beurteilung des Verhaltens jeweils sein mag, gemeinsam. Es bleibt somit die Identität im Ausdruck bestehen, und erst so kann die Frage vernünftigerweise gestellt werden, ob dieser (allgemeine) Ausdruck dem (besonderen) Motiv angemessen war – eine Frage, für deren Beantwortung es Reflexion, theoretischer Reproduktion der Wirklichkeit im Denken bedarf, was ja wohl nicht nur unverzichtbare Voraussetzung vernünftiger Praxis bleibt, sondern erst die Frage beantworten kann, ob überhaupt und in bezug auf welches ‘Dritte’ der gemeinsame Ausdruck auf Identisches (seien es Motive, Ursachen oder sonst was) verweist.

Im folgenden geht es mir allerdings weniger um diese alte Frage der Legitimität bestimmter Vergleiche – wobei ich betonen möchte, daß ich der Meinung bin, daß man dieses Thema gar nicht oft genug behandeln kann, da dies eine der seltenen Gelegenheiten bietet, wissenschaftstheoretisch-logische und historische Bestimmungen (siehe die Auseinandersetzungen um den Vergleich KZ – GULAG) in einem zu behandeln, und weil aus meiner Sicht die gängige Trennung von Logik und Geschichte für mich eine der Ursachen dafür ist, warum selbst uns wohl Gesonnene nicht damit zu Rande kommen, wenn wir die “Unvergleichbarkeit von Auschwitz” betonen. Doch an dieser Stelle geht es eher um die Begriffsbestimmungen, unter die die aktuellen Ereignisse, in Identität und Differenz zu den vergangenen, zu fassen sind.

Textimmanente Antikritik

Natürlich bestreite ich nicht, daß jene, nennen wir die mal so: ‘islamistische’ Vernichtungswut das “langjährige Resultat kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung” und ökonomischer Übervorteilung und politischer Demütigung (im Gegensatz zur deutschen Vernichtungswut? Aber was ist mit dem ‘Schmachfrieden von Versailles’?) ist. Auch die (nicht nur linke) Binsenweisheit nachzuvollziehen, daß die insbesondere von Großbritannien und Frankreich (vor allem was Algerien betrifft) ausgehende kolonialistische Gewalt auch wieder dorthin “zurückgekehrt” ist, habe ich keinerlei Schwierigkeiten – wobei man allerdings darauf achten sollte, nicht Opfer mit Tätern zu verwechseln, denn diese ‘zurückgekehrte’ Gewalt tobt sich in diesen Staaten vor allem ja wohl in der Form rassistischer Fremdenfeindlichkeit aus. (Kann man also sagen: Wie gut, daß Deutschland sich an dieser Kolonisation der Dritten Welt nicht, oder sagen wir genauer: nicht in diesem Ausmaß hat beteiligen dürfen?) Die USA jedoch hatten so gut wie nirgendwo Kolonien im ursprünglichen Sinne dieses Wortes, sondern waren bekanntlich selbst mal welche.

Ja, ich weiß: jetzt kommt der Imperialismus. Zu Begriff und Geschichte empfehle ich die (Wieder-) Lektüre von Hannah Arendt. Hier ist nicht der Ort für eine eingehende Kritik ihrer Ausführungen (die jedenfalls qualitativ weit über das hinausgehen, was Lenin unter Imperialismus verstand), nur so viel: keinesfalls kann man den Nationalsozialismus als eine Form des Imperialismus begreifen, ebensowenig den Übergang vom Kolonialismus zum Imperialismus und zur heutigen ‘Globalisierung’ als Steigerung/Effektivierung unmittelbarer Gewaltausübung (eine Bestimmung, die für den Kolonialismusbegriff ja wohl wesentlich ist), sondern n ur als weltweite, immanente Durchdringung der Weltmärkte zugunsten des Äquivalententauschs. Die Ausgestaltung dessen, was das für die Begriffe “Ausbeutung und Herrschaft” in der Dritten Welt (wie auch sonstwo) für Konsequenzen hat, überlasse ich dem, den es interessiert. (Lektüre dazu bei ça ira.) Jedenfalls sollte jedem ein Gerede sofort im Halse stecken bleiben, das diesen Prozeß der Abstraktifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse meint konkret mit dem amerikanischen Regierungspersonal, den Staatsbürgern der USA oder gar den zur Zeit der Anschläge sich im WTC aufhaltenden Menschen identifizieren zu dürfen.

Jedenfalls kann nicht bestritten werden, daß die Aktionen, auf die die USA und Israel reagieren, von politischen Banditen (Rackets) organisiert werden, die politisch für sich den Umstand instrumentalisieren, daß das Kapital die Mehrheit der Menschen weltweit unter dem Primat der Selbsterhaltung, unter der wahrhaft terroristischen und objektiv unnötigen Alternative von Leben oder Tod also, vegetieren läßt. Aber eben das Kapital: es ist es, das in den USA, in Europa, in Arabien, in der Dritten Welt, diesen Skandal (re-) produziert; es sind nicht ‘die’ USA und erst recht nicht Israel: Hier konstituiert das Kapital lediglich eine seiner Erscheinungsformen, in Deutschland eine andere und sonstwo wieder andere.

Ich komme auf diese typisch deutsche (und arabische) Identifikation des Kapitalismus mit den USA unten wieder zurück. Zunächst noch etwas zu Identität und Differenz der “arabischen Terroristen” mit den “deutschen Mordbuben”: Ohne großen Aufwand ließen sich eine Vielzahl empirischer und ideologischer Bestimmungen finden, die bestätigen, daß es sich bei den ‘Gotteskriegern’ des Islam (wie denen des vorbürgerlichen Christentums, in all den zu berücksichtigenden Differenzen: aber die, und deren Transformationen unter den Bedingungen der Entstehung des Kapitals, siehe die Jesuiten, Opus dei, etc., sind hier nicht Thema) um “Kämpen” handelt, deren “kollektive Pathologie” den Symptomen faschistoiden Wahns genau entsprechen, und damit eben auch – sofern es gestattet ist, das Dritte Reich als besondere Ausprägung des Faschismus im allgemeinen zu begreifen, und nicht, was die einzige Alternative wäre, als einmaligen Ausrutscher der Geschichte – des nationalsozialistischen. Greifen wir neben dem Gemeinsamen, um das es in unserem Text hauptsächlich ging: die jeden kapitalistischen ‘Normal’-Betrieb ad absurdum führende Mißachtung des individuellen Selbsterhaltungstriebes in den beabsichtigten Kamikaze-Aktionen des Werwolf (tatsächlich ausgeführt wurden ja wohl eher weniger) mit den am 11. September ins Paradies zu ihren Jungfrauen eingeflogenen Attentätern, nur eine weitere heraus.

Die Frage, ob es sich bei einem Anschlag um einen faschistischen oder einen mit linker Urheberschaft handelt, beantwortet sich weniger über das Ziel, die Zahl der Opfer, die Wahl der Mittel oder dergleichen, sondern damit, ob sich identifizierbare Bekenner überhaupt melden. Denn das strategische Kalkül der Faschisten geht auf, wenn der liberalkapitalistische Staat als unfähig hingestellt werden kann, Sicherheit und Ordnung zu garantieren. Mit der gleichen Kompetenz, dank der die faschistischen Verursacher Unsicherheit zu produzieren vermögen, empfehlen sie sich als geeignete Kraft, Ordnung und Sicherheit zu schaffen. Den Trick durchschaut eigentlich jeder, es ist ja auch klar: beherrschen die Faschisten den Staat, entfällt der Grund für ihre Attentate. Psychologisch ist bei der Bevölkerung wiederum die Identifikation mit dem Aggressor am Werke, und solange dieser Aggressor nicht offensiv sagt: “Ich habe es getan” (im Gegensatz zur Linken: denn die will sich ja bewußt in der Zerstörung des Bestehenden profilieren), sondern die Frage nach der Urheberschaft mit der Rede darüber umschifft, daß etwas geschehen ist, was die Opfer selbst zu verantworten hätten, hat er gute Chancen, sich als väterliche Autorität zu etablieren. Wer das Verhalten Osama bin Ladens nach dem 11. September beobachtet hat, hat mitbekommen, wieviel dieser Mann in seinem diesbezüglichen Verhalten etwa mit seinen faschistischen Kameraden und Brüdern in Italien gemeinsam hat.

Das noch zusammen gesehen mit der Geschichte des Muftis von Jerusalem aus unserem Text (wobei auffällt, daß gerade diejenigen – hier will ich dich ausdrücklich ausnehmen – solche historisch empirischen Quellen als Beleg zurückweisen, für die ansonsten jeder auch noch so konstruierte Kontakt zu einem Nazi als Beweis gilt, daß Zionismus und Faschismus, resp. Rassismus und Nationalsozialismus, dasselbe sind) ergibt sich zwar alles andere als eine durchgängige Identität der verschiedenen Faschismen (auch die haben wir nie behauptet), aber die doch berechtigte Frage, ob hier nicht von Formbestimmungen gesprochen werden kann, die nahelegen, daß mehr oder weniger bruchlos – trotz aller inhaltlichen Differenzen im einzelnen – zusammenzuwachsen droht, was der gemeinsamen Form nach auch zusammengehört. Wenn wir mal die Perspektive wechseln, dürfte die Sache mit dem ‘natürlichen’ Bündnispartner noch klarer werden: Aus der Sicht der klerikal-faschistischen, in den USA ihren Hauptgegner ausmachenden Bewegung kommt alles darauf an, aus dem bisher noch einheitlich auftretenden imperialistisch-westlichen Block eine sich mit ihnen verbündende Macht herauszulösen, die ökonomisch und daher politisch auch in der Lage ist, den USA wirklich Paroli zu bieten – denn letzteres können diese Bewegungen tatsächlich natürlich auch dann nicht, wenn es ihnen wie im Iran und in Afghanistan gelingt, sich zu verstaatlichen. Wer aber käme für diese Rolle – so perspektivisch gesehen auch immer – anderes in Frage als Deutschland? So viel erst einmal zu deiner Unterstellung, wir würden in “Stammtischmanier” die “Muslime alias Araber” usw. als “Bündnispartner (uns Deutscher) von gestern und morgen” betrachten.

Kommen wir zu weiterem, von dem ich dachte, daß es, mittlerweile wenigstens, tatsächlich eine “Binsenweisheit” geworden sei: daß man von den schließlichen Resultaten des “Herumzündelns der Opfer der Weltordnung” in den 60ern und 70ern her gesehen, den Iran und Pol Pot mit dem Vietkong und Che Guevara nicht so ohne weiteres in einen Topf werfen sollte – gar, wenn man bedenkt, wieviel Vietnam für die in meinen Augen in jeder Hinsicht zu begrüßende Beseitigung des Pol-Pot-Regimes getan hat –, was du aber tust, wenn du diese Leute, Bewegungen, Systeme und Staaten allesamt zu Opfern der Weltordnung erklärst, die dem westlichen Intellektualismus (sind Adorno/Horkheimer da auch gemeint?) die Praxis voraus hätten. Mir dagegen sind Intellektuelle, die sich nicht trauen, sich die Hände schmutzig zu machen, allemal lieber als solche, die, wie etwa dieser Osama bin Laden, ihre barbarische Praxis mit religiösen Versatzstücken legitimieren. Eine Randbemerkung noch zu deiner Intellektuellenschelte, die ja bei Linken so auch gang und gäbe ist: Intellektueller ist doch wohl jeder, der zwischen Reiz und Reaktion eine Reflexion, und sei sie noch so dümmlich, zwischenschaltet und diese nicht für sich behält, sondern der Öffentlichkeit zugänglich macht. (Was anderes ist deren gesellschaftliche Rolle, wie du sie in Konsument und Ideologe dargestellt hast.) Jedenfalls bewundere ich immer wieder genüßlich das Schauspiel, über das sich schon die rechte Intelligentsia der 70er-Jahre köstlich amüsierte: nicht-zündelnde, in deinen Augen also: praxisferne linke Intellektuelle werfen nicht-zündelnden, also praxisfernen linken Intellektuellen nicht-zündelnden, also praxisfernen linken Intellektualismus vor.

Zurück zum Thema: Wenn es stimmt, und wir haben noch nie daran gezweifelt, daß, auf der Basis der Durchdringung aller Lebensbereiche durch das Kapital, diese Welt schon längst höchstens kulturalistisch in eine erste oder dritte, christliche oder islamische, demokratisch oder diktatorisch regierte aufgeteilt werden kann, sondern in all ihren Erscheinungen, vor allem den pathologischen, “das Werk und Ergebnis eines langen Prozesses kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung ist”, mit anderen Worten: daß es sich bei allen Staaten dieser Welt mittlerweile um kapitalistische handelt (die sogenannte ‘Globalisierung’ also längst abgeschlossen ist), muß man dann nicht auch sagen, daß die Afghanen nicht nur Opfer des imperialistischen Weltsystems, des US-amerikanistischen Imperialismus allein gar, sondern eben auch des Taliban-Regimes gewesen sind, wie doch wohl die Iraker auch jetzt noch, unter anderem zumindest, als Opfer des von Hussein geführten kapitalistisch konstituierten Staates zu betrachten sein dürften? Sind nicht auch die Palästinenser in vielen Bereichen ihres alltäglichen Lebens (Lynchjustiz wegen Kollaboration, die katastrophale ökonomische Situation usw.) Opfer des Regimes von Arafat (des Terrors der Hamas etc.)? Oder ist doch alles ‘letzten Endes’, im ‘Grunde’ etc., allein Amerikas Schuld? Auf jeden Fall wohl gilt unter deutschen Linken, Arabern und Palästinensern: Israel ist immer Schuld, wenn in Palästina irgend etwas nicht so funktioniert, wie diese Volksfreunde das gern hätten, und wird es auch in Zukunft immer sein. Die israelische Regierung müßte als arg realitätsblind gescholten werden, wenn sie diesen, als Imperialismuskritik daherkommenden Antisemitismus nicht in ihren strategischen Überlegungen bezüglich eines künftigen palästinensischen Staates berücksichtigte.

Was eigentlich wäre denn die “Katastrophe in Palästina”? Wie wir jetzt mit Sicherheit wissen, wäre die von dir geforderte “klare Aufteilung”, wenn sie in den letzten Jahren erfolgt wäre, vor allem in dem Sinne ‘klar’ gewesen, daß hier in unmittelbarer Nachbarschaft zu Israel ein Staat entstanden wäre, auf dessen Gebiet Leute ausgebildet werden, die die Vernichtung der Juden (zumindest der, die in Israel leben) zu ihrem ausschließlichen Lebensinhalt erkoren haben. Wer bedroht denn im Nahen Osten eigentlich wen damit, ihn leiblich-konkret umzubringen (jeder neue palästinensische Märtyrer erneuert und verstärkt diese Drohung), einzig weil er sich einer bestimmten kollektiven Identität zugehörig fühlt (oder sie ihm zugeschrieben wird): Juden Palästinenser oder Palästinenser (natürlich nicht alle: aber auf dieses kritisch-rationale Spielchen mit den All- und Existenzaussagen, mit dem man alles, das heißt also nichts, rechtfertigen kann, sollten wir uns doch nicht wirklich einlassen) Juden? Meinst du mit “Katastrophe” demnach, daß, wenn es zu einer Aufteilung des Staatsgebietes nicht kommt, es dann keinen palästinensischen Staat geben wird? Wäre das objektiv, das heißt von den materiellen Bedingungen individueller Reproduktion her gesehen, denn wirklich so schlimm? Würde nicht ein rechtsstaatlich, im Sinne des amerikanischen, oder gar des aktuellen deutschen Begriffs davon von mir aus, auf jeden Fall: den Normen der Zivilisation verpflichtetes Staatsbürgerrecht der Palästinenser in Israel für die einzelnen Menschen nicht die weitaus humanere ‘Lösung’ darstellen als ein Staat, wie ihn die Palästinenser-Führer sich vorstellen? Seit wann eigentlich ist Linken die Nicht-Gründung eines Staates, gar der (drohende) Verlust einer ‘nationalen Identität’, kein Grund zur Freude (freudigen Erwartung), sondern Ausdruck einer “Katastrophe”? Leider, so kann ich mir diese Frage auch selbst beantworten, sehr lange schon, und dabei so eingefleischt, daß der Staatskritiker angesichts derart staatsfixierter Linker schier zur Verzweiflung getrieben wird.

Verlassen wir deinen und erläutern kurz noch unseren Text: Dessen zentrale Behauptung, auf die du nicht zu sprechen kommst, ist, daß die regierungsamtlich verlautbarten Solidaritätsbekundungen der Deutschen mit den USA nach dem 11. September geheuchelt sind, daß also die in den Medien behauptete Differenz zwischen der offiziellen Politik und ihren Kritikern, seien letztere links oder rechts gestrickt, in Wirklichkeit gar nicht existiert, sondern ganz Deutschland einer Meinung ist: In ihren Reaktionen auf die Anschläge (die einzig von Rachegelüsten motiviert seien) schießen die USA und Israel weit über das Ziel einer angemessenen Verteidigung hinaus und man müsse ihnen mehr oder weniger heftig auf die Finger klopfen, damit sie zu den zivilisatorischen Errungenschaften des Westens (gemeint ist: des von Auschwitz geläuterten Deutschlands) zurückfinden. Man kann ergänzen: Was die Politiker und Journalisten des Politikteils, so sie von uneingeschränkter Solidarität schwafeln, wirklich denken und tun würden, wenn sie könnten – Originalton Scheer im Merkur: “im Politikteil schreiben die Realisten, im Wirtschaftsteil die Reaktionäre, im Kulturteil die Unschuldigen” –, steht im Feuilleton.

Natürlich könnte in Frage gestellt werden, ob wir den Beweis geführt haben, daß die deutschen Politiker und Intellektuellen tatsächlich heucheln; diesen Beweis haben wir allerdings gar nicht führen wollen. Unsere Aussagen appellieren an Evidenz und ergeben sich aus den vielen, meist der FAZ (in der bekanntlich steht, welche Meinung die deutsche Regierung in den nächsten Tagen haben wird) entnommenen Zitaten. Nicht zu bestreiten dagegen, da offen als Selbstverständnis formuliert, sind die Parteinahmen der deutschen Linksopposition für das angeblich von den USA unterdrückte afghanische, und von den Taliban (nicht der Nordallianz: das sind amerikanische Marionetten) repräsentierte, bzw. das von Israel unterdrückte palästinensische und von der PLO (bzw. der Hamas oder sonstigen Rackets) repräsentierte Volk. Denn Völker kämpfen um ihre Befreiung – das wissen wir spätestens seit Anfang der 70er von den deutsch rebellierenden Studenten.

Unserem “Kommunique”, wie du unseren Text nennst, liegen natürlich eine Reihe, dort allein aus Platzgründen schon nicht offen gelegter Grundeinstellungen zugrunde. Auf diese soll im folgenden eingegangen werden – das geht zwar über deinen Brief hinaus und rollt das hier Erörterte noch einmal von einer anderen Seite her auf (den Vietnam-Protest der 68er), es kann aber auch nichts schaden und das Verständnis fördern, wenn diese Grundsätze noch mal explizit gemacht werden, zumal die für mich zentrale Problematik deiner Kritik: das der Dialektik von Zivilisation und Barbarei, bis hier noch gar nicht thematisiert worden ist.

Nochmals: was deutsch istzur Dialektik von Zivilisation und Barbarei

Nicht einmal ein Antideutscher, ein “Anti-Anti-Amerikanist”, wie der logische Positivist Gremliza meint jenen kennzeichnen zu können (ein Antideutscher kann in der Tat dieser Logik zufolge nur ein Philo-Amerikaner sein – verständlich bei Gremliza, denn schon lange weiß man, daß Dialektik seine Sache, und die seiner Zeitschrift, nicht ist), reinsten Wassers wird bestreiten, daß der Kampf der Studentenbewegungen in der westlichen Welt in den 60er- und 70er-Jahren gegen den Krieg der USA in Vietnam vollkommen berechtigt war und jede Unterstützung verdient hatte. Von heute aus zeigt sich jedoch, daß die damaligen Begründungen des Protestes alles andere als unschuldig zu nennen sind, sondern zum Großteil dermaßen völkisch, und damit hirnverbrannt deutsch daher kamen (auch wenn diese Begründungen von Franzosen, Engländern oder Amerikanern vorgebracht worden sein mochten: die konkrete Staatszugehörigkeit ist nun wirklich nicht das Kriterium für das, was wir unter ‘deutsch’ verstehen), und in der Folge auch nie umfassend revidiert worden sind, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn diese Begründungen – etwa was die Reaktion der USA auf den Anschlag auf das WTC betrifft –, umstandslos weiterhin in der Linken vorgebracht werden und sie das unausgesprochene Paradigma der Linken in Deutschland abgeben, sobald diese sich anschic kt, das zu kritisieren, was sie für Kapitalismus, Imperialismus, Unterdrückung überhaupt, hält.

Die allermeisten begründeten damals ihr Engagement gegen die Politik der USA ebenso abstrakt pazifistisch moralisierend, wie das heute gang und gäbe ist: Hauptsache Frieden. Die darin enthaltene Antizipation der uneingeschränkten Bereitschaft, sich mit jedem Aggressor zu identifizieren, wenn der einem bloß die Überwindung aller Mißstände – bei den Rechten heißt es entsprechend: ‘Ruhe und Ordnung’ – (wie anders als in einer harmonischen, also völkischen Gemeinschaft; und allein darin besteht der Realgehalt dieser allgegenwärtigen Friedens- und Ruhesehnsucht) verspricht, ist von uns schon vor mehr als zehn Jahren vorgeführt worden, so daß ich das hier nicht weiter zu erläutern brauche. Daneben lassen sich aber noch drei weitere Begründungsweisen unterscheiden: die eine, die revolutionär-kommunistische, kann ich, wegen ihrer Marginalität, ebenfalls übergehen. Es verbleiben zwei Varianten der Kritik am Krieg in Vietnam, die, unbeschadet dessen, daß ich mit deren Prämissen alles andere als einverstanden bin, für sich aber doch beanspruchen können, gesellschaftlich bedeutsame Momente der kapitalistischen Realität verarbeitet zu haben (systemtheoretisch gesprochen: gesellschaftlich anschlußfähig zu sein).

Die eine, die in den USA die am weitesten verbreitete war, und der es schließlich unter anderem zu verdanken war, daß die Amerikaner sich aus Vietnam zurückzogen, verwies auf den Widerspruch, den es macht, als Führungsmacht der freien Welt und Hort der Zivilisation aufzutreten, in der Praxis aber eben diese Grundsätze mit Füßen zu treten. Damit ist alles gesagt, was zu sagen ist, wenn man sich in seiner Kritik auf die USA als den Staat beruft, in dem die bürgerlich-liberalen Ideale bisher ihre angemessenste Verwirklichung gefunden hätten: die Berufung auf die zivilisatorischen Grundlagen erfolgt vom Ideal her; die Zivilisation gilt dieser Argumentation nicht als das Verwirklichte, sondern als das von der konkret verfolgten Politik Gefährdete. Gegen diese Gefährdungen gilt es die Ideale konsequent zu verwirklichen und zu stabilisieren. Mit revolutionärer Kritik, die Staat und Geld zum Gegenstand hat, hat das auch auf den ersten Blick schon natürlich rein gar nichts zu tun.

Aber noch viel weniger gilt dies für die andere Variante, die, wie wir sagen würden, “deutsche Form” linker USA-Kritik seit 1945. Woran man diesen deutschen Linken sofort erkennt, ist sein Vorwurf an die Adresse Israels, der da lautet: Ein Staat, der sich an die von ihm selbst propagierten rechtsstaatlichen Normen nicht hält – indem er beispielsweise die von ihm der terroristischen Rädelsführerschaft Verdächtigten ohne Gerichtsprozeß liquidiert – könne die Einhaltung zivilisatorischer Grundstandards auch von seinem Gegner nicht verlangen. Kurz: nur der könne sich auf Menschenrechte berufen, der sie auch bei sich selbst verwirklicht habe. Wer so argumentiert (das taten und tun im übrigen die staatskapitalistischen Länder auch sehr gerne), hat, ganz gegen seinen Willen, die Zivilisation zum absoluten Zweck ihrer selbst erhoben, zum absoluten Wert, hat die (in der anderen Variante implizit akzeptierte) Dialektik von Ideal und dessen Verwirklichung stillgestellt und glaubt sich deshalb legitimiert, die israelischen Vergeltungsschläge mit den palästinensischen Selbstmordanschlägen in einen Topf werfen zu dürfen. Im Ergebnis steht dann der wahnwitzige Gedanke, daß der, der sich gegen seine Armut und Unterdrückung wehrt, auf jeden Fall im Recht ist, unabhängig davon, ob er seinem Widerstand auch die seiner Unterdrückung und ihrer Überwindung angemessene Form gibt. Unterstellt wird hier nichts anderes, als daß der Unterdrückte ein der Reflexion unfähiges, reines Responsewesen ist und deshalb für seine Taten, egal welche, keine Schuld auf sich lädt.

Wer so argumentiert, hat offenbar nicht nur von der Geschichte der Aufklärung, vom Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaft erst recht, nichts begriffen, schlimmer noch: da es sich hier ja meist um antikapitalistisch, antiimperialistisch argumentierende Linke handelt, bewegt man sich mit dieser Argumentation auch abseits jedes Materialismus, jenseits jeder Ideologiekritik. Zu fragen wäre schließlich: wo kommen denn diese ominösen Menschenrechte her? Sind das Hirngespinste bürgerlicher Ideologen, geschaffen, um Herrschaft und Ausbeutung zu verschleiern, oder – und bisher dachte ich, das sei Konsens zumindest in unseren Kreisen – verkehrte Gedankenformen einer tatsächlich existierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Machen wir es kurz: was berührt es die Menschenrechte, die Zivilisation oder sonst all diese hehren Gedankengebäude (genauer: deren Substanz, das Kapital), wenn ein Bush, ein Reagan oder sonst eine Charaktermaske von irgendeinem “Reich des Bösen” schwadronieren? Was kümmert es die reinen Denkformen (genauer: den gedanklichen Ausdruck des gesellschaftlichen Verhältnisses, das das Kapital ist), wenn Bush in der Praxis genau dasselbe will wie dieser Osama bin Laden – als ob je ein Bürger etwas anderes für sich gewollt hätte als sein partikulares Interesse zum allgemeinen zu erklären -: nämlich die (Wieder-) Vereinigung seiner (wegen ihrer in sich implizierten Identität: von ‘Natur’ aus) totalitären Ideale und Normen (der abstrakt-reinen Bestimmungen) mit der gegebenen Wirklichkeit? Das Auseinanderfallen von Moral und politischer Praxis ist jedem Bürger (sei er Atheist, Christ, Mohammedaner oder Buddhist) der fortwährende, nur mit dem Jüngsten Gericht beendete Grund allen Übels (Erbsünde), so daß man wirklich sagen kann, daß dieser Idealismus nicht nur die schon seit Jahrhunderten bestehende Klammer ist, die allen Menschen, so scheint es, von ‘Natur’ aus, in Wirklichkeit natürlich: ideologisch gemeinsam ist, sondern auch die Dynamik erzeugt, dank der sich die Menschheit immer wieder neu denselben Problemen zuwendet – selbstredend ohne sie zu lösen. (Daß diese Dynamik mit dem Kapital eine ganz spezifische Ausprägung bekommt, ist offensichtlich, hier aber nicht Thema.)

Tatsächlich hat in diesem Sinne von der Sache her der nun wirklich unerträgliche Friedensethiker und Tagesschaukommentator Ulrich Wickert, und mit ihm das ganze, ihm Beifall zollende Deutschland, recht, wenn er behauptet, Bush und bin Laden hätten dieselbe Denkstruktur. Den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden übersieht er natürlich: Bush kann sich mitsamt seiner Regierung, der Legislative und der Iudikative, noch so sehr auf den Kopf stellen: sie werden es nicht fertig bringen, oder allgemeiner: bisher haben es die Regierungen der USA historisch trotz einiger erfolgversprechender Anläufe einfach (noch) nicht geschafft, was den Deutschen 1933-45, und den Taliban während ihrer Regierungszeit zunehmend gelang: nämlich in den USA dem Kapitalismus (innerstaatlich) das Gegeneinander-Konkurrieren der Kapitalien und Menschen so auszutreiben, daß man von einem Übergang in eine faschistische Gesellschaft sprechen könnte – also eine Konkurrenz zu überwinden, die es in der entwickelten Form wie in den USA und Deutschland in Afghanistan natürlich nie gegeben hat, deren Abglanz jedoch den Taliban schon Rechtfertigung genug für ihre menschenverachtende Herrschaft war.

Die USA repräsentierten nie eine in einer Massenbewegung verankerte, insbesondere die Arbeiterklasse in die Volksgemeinschaft einbindende Gesellschaft, die vom Prinzip her antikapitalistisch nicht nur agitiert, sondern auch insoweit agiert, als sie die Ausschaltung/Kontrolle der innerstaatlichen Konkurrenz als Allheilmittel der Krisenüberwindung ansieht. Also genau das zerstört, was den Kapitalismus aus seinem Wesen (das sich auch in jedem Faschismus gleich bleibt) erst zum erscheinenden und funktionierenden Kapitalismus macht: die Übersetzung des in der Produktion erzeugten Werts in die auf den Märkten zu erzielenden Preis e. Die amerikanisch-liberale Variante der Krisenlösungsstrategie zu verfolgen, das heißt die Lösung im Kampf ‘Jeder gegen Jeden’, statt im Kampf der eigenen Vergemeinschaftung gegen alle anderen zu suchen, das ist es, was Wickert und mit ihm alle Deutschen (und Araber und so weiter) den Amerikanern im Grunde vorwerfen. (Diese strukturelle Unterscheidung bezüglich der Konkurrenzverhältnisse in den einzelnen Staaten, die natürlich nur neben die Unterscheidung bezüglich des erreichten kapitalistischen Produktionsniveaus treten, diese auf keinen Fall ersetzen kann, kann auch dazu dienen, diejenigen eines Besseren zu belehren, die glauben, uns eine außergesellschaftlich konstituierten Wesensbestimmung des Deutsch-Seins vorwerfen zu können.)

Außerdem ist es den US-Amerikanern, trotz aller Anstrengungen auch hier, bisher nicht gelungen, die im westlichen Abendland nach blutigsten Auseinandersetzungen historisch entstandene Trennung zwischen Kirche und Staat wieder rückgängig zu machen – und diese Trennung ist bekanntlich eine weitere, wenn nicht die zentrale innere Voraussetzung liberalkapitalistischer Vergesellschaftung. Es handelt sich dabei um ein (nimmt man einmal ein paar insbesondere französische Staatsrechtler und deutsche Philosophen aus, durchgängig als Übel empfundenes) Auseinanderfallen, das seit dem Hochmittelalter, sagen wir vorsichtig: an der Entstehung einer Gesellschaft, die überhaupt auf einen Gedanken wie den einer auf der Freiheit der Individuen aufbauenden Gesellschaft erst kommen konnte, maßgeblich beteiligt war. Die gelingende Aufhebung dieser Trennung auf der Basis einer kapitalistisch hoch entwickelten Gesellschaft – nochmals: diesen Unterschied des Nationalsozialismus zu allen an die Staatsmacht gelangten faschistoiden Bewegungen in den peripheren Ländern darf man natürlich nicht übersehen, und wir übersehen ihn nicht – repräsentierte einst der deutsche Führer: in säkularisierter Form. In Afghanistan gelang den Taliban das in religiöser Form – wenn auch, wie schon mehrfach betont, nicht auf der Grundlage eines auch nur in Ansätzen entwickelten kapitalistischen Produktionsniveaus; was aber hier, wo es um eine Gemeinsamkeit in der Denkform (und dem gemeinsamen Ausdruck einer unterschiedlich konstituierten Praxis) geht, außen vor bleiben kann.

Eine jeder Vernunft Hohn sprechende Vereinigung von Kirche und Staat gibt es in sehr vielen, und wohl in allen arabischen Ländern. Eigentlich überall auf dieser Welt ist man zudem kräftig dabei, jede Realisierung dieser ersten Grundlage einer jeden Kritik: die Kritik der Religion, rückgängig zu machen oder aber gar nicht erst zu institutionalisieren – um sich dann zu wundern, warum es mit dem Kapitalismus auch dann nicht so recht klappen will. Dieses tatkräftige, das heißt menschenverachtende Verhindern des Auseinanderfallens von Moral/Ethik/Religion und Staat/Recht ist es, das diese Staaten, Ethnien, Bewegungen zu ‘natürlichen’ Verbündeten einer an den Nationalsozialismus anknüpfenden Krisenlösungsstrategie werden läßt. Jede Parteinahme für eine derartige auf Vereinheitlichung des Allgemeinem (Volk/Gemeinschaft/Sitte) mit dem Besonderem (Individuum) zielende Praxis (statt: Versöhnung in der nicht aufzuhebenden Trennung von Individuum und Gesellschaft) ist regressiv, ist reaktionär und kann in keinster Weise entschuldigt werden – auch nicht mit Ausbeutung und Unterdrückung.

Nochmals: die Menschenrechte des Individuums sind nur zusammen mit ihrer Nichtverwirklichung zu haben, wie jedes Ideal als verwirklichtes sich in Nichts auflösen würde und deshalb sein Nicht-verwirklicht-Sein konstitutiv ist für seine Existenz: die positive Grundlage einer revolutionären, materialistischen Kritik können solche ‘Werte’ selbstverständlich nie abgeben. Deshalb schon braucht weder die Bahamas noch die ISF sich für irgendeine angebliche Parteinahme für liberal- oder sonstige bürgerliche Errungenschaften zu rechtfertigen – wir haben schließlich nie behauptet, Idealisten zu sein. Auch wo es um die radikale Kritik der Menschenrechte geht, die Kritik der Zivilgesellschaft gar, brauchen wir uns in unseren Beiträgen dazu vor keinem zu verstecken (und was die an die Wurzel gehende Reichweite dieser Kritik angeht erst recht nicht).

Was nun ist von Leuten zu halten, die den USA jede Zivilität absprechen, diese aber nicht, wie die Idealisten, als das Nicht-Verwirklichte einklagen (oder wie die kritische Theorie: als das Unverwirklichbare begreifen, an dem dennoch negativ als Bedingung der Möglichkeit für Veränderung festgehalten werden muß), sondern sich zu der Behauptung versteigen, daß diese Ideale bürgerlicher Zivilisation im Grunde schon alle Übel bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft repräsentierten? (Diese Haltung ist übrigens typisch deutsch in dem Sinne, daß sie ihre Tradition in der Philosophie Schopenhauers, Nietzsches, Heideggers findet und heute von Sloterdijk und Safranski medienwirksam an den deutschen Mann, und die deutsche Frau natürlich auch, gebracht wird.) Dieserart positivistische, das heißt totale, abstrakte Negation, das heißt Selbstzerstörung, realisiert die Barbarei unmittelbar (umgangssprachlich: was soll man mit dem ganzen moralischen Kram, wenn die Menschen alle – außer mir natürlich – von Natur aus schlecht sind); zerstört die Grundlage jeder Möglichkeit materialistischer Kritik, eliminiert die Möglichkeit, über Ideal und Wirklichkeit von Zivilisation vernünftig, und das heißt nicht nur im Sinne der Theoretiker der Zivilgesellschaft nachdenken zu können.

Muß man wirklich unter kritischen Theoretikern noch betonen, daß die Dialektik der Aufklärung in der Tragik einer existentiellen Situation besteht, in der die Selbsterhaltung (hier der Zivilisation) mit Notwendigkeit zur Selbstzerstörung (Barbarei) führt; diese somit nicht jene ist, sondern das Kapital beides gleichursprünglich aus sich heraus setzt, in einer Bewegung, einem Prozeß, der nur revolutionär überwunden werden kann? Muß man denn immer wieder betonen, daß die Tragik sich reproduziert, weil in der antihumanistischen Stillstellung dieser Dialektik von Zivilisation und Barbarei einzig und allein die Regression angelegt ist, die genau es ist, die ja diese Dialektik in die Katastrophe verwirklichter Barbarei hinein treibt? Ist es keine Binsenweisheit der Ideologiekritik mehr, daß die politische Realität, spätestens seit Auschwitz, nicht aus der Perspektive Frieden oder Krieg, Ideal oder Wirklichkeit zu betrachten ist, sondern eben aus dieser Dialektik von Zivilisation und Barbarei? Ist es keine selbstverständliche Grundannahme mehr, daß Selbsterhaltung mit der Entstehung des Kapitals nicht nur unter den Naturzwang der Alternative von Leben oder Tod gesetzt ist, sondern allein von der wahnwitzigen Organisation kapitalistischer Vergesellschaftung, die diesen Zwang zur Selbsterhaltung qua Arbeit (und Gelderwerb), den es gälte, materialistisch aufzuheben, in den Rang eines Fetischs erhebt?

Kommen wir zur deutschen Linken zurück: Es gibt von dieser kaum eine Stellungnahme zur Außenpolitik, in der nicht mit mehr oder weniger expliziertem Bedauern davon ausgegangen wird, daß Deutschland Anhängsel des US-amerikanischen Imperialismus ist. Dies gilt beispielsweise für die RAF in ihren ersten Prozessen Mitte der 70er, als sie die Vertreter der BRD vorladen wollte, um zu demonstrieren, daß diese, indem sie den Krieg der USA in Vietnam unterstützten, die spezifischen Interessen Deutschlands mißachteten, oder, wie Horst Mahler, damals RAF-Mitglied und heute bekanntlich NPD-Anwalt, oder Otto Schily, damals RAF-Anwalt und heute bekanntlich Mahlers Kontrahent im selben Geiste vor dem Bundesverfassungsgericht, wohl schon immer meinten: “verrieten”. Auf was zielte, damals bezogen auf Vietnam, heute auf den Kosovo und Afghanistan, das Gerede in Deutschland von den Menschenrechten, wenn nicht allein auf die Rechte eines Volkes? Die Identifikation mit dem vietnames ischen Volk hat zwar längst aufgehört – spätestens seit Vietnam das von Pol-Pot repräsentierte kambodschanische ‘überfiel’: seit längerem ist es, nach vielem hin und her, das palästinensische, das dafür herhalten muß, die Stelle zu besetzen, die man wohl schon bald auch bei den letzten Mohikanern der Linken durch das Volk besetzen werden wird, dem die ganze Veranstaltung immer schon diente: das deutsche.

Was aber soll das eigentlich sein: das Recht eines Volkes? Hat schon mal jemand bedacht, was für ein Blödsinn es ist, einer abstrakten, von völkischen Blut- und Boden-Idioten konstruierten Aggregierung ‘Rechte’ zuzusprechen? (Und der als Realabstraktion mißverstandene Begriff des Volkes bleibt dieser denkunmögliche Widersinn, selbst wenn er in wohl alle Verfassungen der Welt Eingang gefunden hat.) Als die abstrakt-nominalistische Verallgemeinerung, die es ist, kann ein Volk auch nicht wirklich unterdrückt und ausgebeutet werden. Als ebenso schwachsinnig wie dieses, jedem Linken dennoch immer noch rasch über die Lippen kommende Gerede wäre nur noch eine Kritik zu bezeichnen, die den USA vorhält, sie könne oder wolle auf dieser Welt das Paradies auf Erden, den Kommunismus in Afghanistan oder auch nur die Gleichstellung der Frau in den arabischen Staaten nicht verwirklichen (letzteres empfiehlt sich für die USA schon deshalb nicht, weil sie dann von ihren Kritikern der Zerstörung kultureller Identität bezichtigt werden würden): das alles läuft auf eine Tautologie ähnlich der hinaus, die dem Kapitalismus vorwirft, er beute die Arbeiter/Menschen aus.

Kritik durch Darstellung

Es bleibt das alte Problem: Seitdem das revolutionäre Subjekt – so dies denn überhaupt je existierte – ausgefallen ist, können die Grundlagen der materialistischen Kritik positiv nicht mehr formuliert werden. Es bleibt damit nur die Rückkehr zum Prinzip der Kritik der politischen Ökonomie von Marx in dem Sinne, daß in ihr die Prozesse der bürgerlichen Gesellschaft die ihnen adäquate theoretische Darstellung finden sollten, in der Hoffnung, daß sich ihre Wahrheit dann als Praxis erweist. Für den hier zur Debatte stehenden Konflikt zwischen den kapitalistischen Staaten (nicht nur des Westens, sondern weltweit) und seinen sich in seinem Inneren herausbildenden faschistischen, racketförmig sich organisierenden Bewegungen (in diesem Sinne: zwischen Zivilisation und Barbarei) heißt das zunächst, vor aller Parteinahme, die ablaufenden politischen Prozesse zu analysieren. Die Begriffe, die dazu erforderlich sind, lassen sich bei Marx aber bekanntlich nur rudimentär finden – Auschwitz fand später statt. Der von diesem Marx schon der Lächerlichkeit preisgegebene Idealismus allerdings, als deutscher gar, kann die notwendigen Begriffe natürlich auch nicht liefern – wie oben gezeigt: ein positiver Bezug auf die Zivilisation wäre nicht nur idealistisch, sondern schlösse die Barbarei unaufhebbar in sich als Resultat mit ein. Hier bleibt nur – und jetzt komme ich auf den Wert einer solchen Zeitschrift wie den Merkur zu sprechen, aber auch die FAZ spielt natürlich diese Rolle – sich den tatsächlichen Gegner (der die Linke natürlich so nicht ist, der kann man bestenfalls ein schlechtes Gewissen bereiten) vorzuknöpfen, sich auf sein (höchstes) Niveau zu begeben – wie Marx dies mit den Klassikern der politischen Ökonomie vorgeführt hat. Eine andere Weise, wie die Kritik zu einer die herrschende Realität transzendierenden Darstellung kommen kann, die dennoch die Realität in sich aufgenommen hat, kenne ich nicht.

Die Begriffe, die sich so (über die vorhandenen hinausgehend) entwickeln lassen, entstammen natürlich nicht dem Arsenal der politischen Gutmenschen, stellen nicht der Wirklichkeit christlich-humanistische Ideale (im Sinne einer prinzipiellen Parteinahme für das Gute und gegen das Böse – die Ausbeutung und Unterdrückung etwa – dar, die in, und aufgrund dieser Abstraktheit nur dazu dient, sich ein gutes Gewissen zu verschaffen) gegenüber, sondern sind eher solchen Leuten wir beispielsweise Carl Schmitt und Niklas Luhmann entlehnt. Selbstredend geht es bei diesem Hinweis auf diese Autoren nicht um das übliche Angebot zur gefälligen Identifikation (diese Leute sind und bleiben wegen ihrer ontologisierenden, affirmierenden Darstellung die Hauptgegner materialistischer Kritik), sondern um die Durchdringung der von ihnen entwickelten Begriffe und der in ihnen reflektierten Wirklichkeit mit Kritik. (Das ist das Verfahren, das auch unter dem Titel Kritik durch Darstellung bekannt geworden ist.) Deshalb wird bei einem derartigen Vorgehen von Ausnahmesituationen her gedacht, nicht ausgehend von Regeln. Zum Beispiel: Entscheidend sind nicht die derzeitigen Beziehungen Deutschlands zu den USA, sondern die politischen Entwicklungen der Gegenwart, die den Extrem- beziehungsweise Ernstfall vorbereiten. (Man kann sicher sein, daß die Politstrategen in den Ministerien auch so denken.) Es geht des weiteren um die aktuell vorgenommenen Freund- und Feindbestimmung – und ihre Einbettung in die hier kurz abgehandelten, vom Kapital konstituierten gesellschaftlichen Strukturen. Zwischen all diesen Polen oszillierend laufen die entscheidenden, die Individuen bis in ihren Triebhaushalt hinein bestimmenden Identifikationsprozesse ja auch tatsächlich ab. In einem Satz: es geht darum, Worst-case-Szenarien zu erstellen, die einen Realitätsgehalt haben, und nicht so apokalyptisch inhaltsleer, weil moralisierend, wie etwa bei Krisis daherkommen.

In der gegebenen Situation folgt daraus zum Beispiel: Wer aktuell die USA oder Israel kritisiert, und das noch, ohne sich von der deutschen Alternative (auch und gerade was die deutschen Versuche einer Friedensstiftung betrifft) ausdrücklichst zu distanzieren, appelliert implizit unweigerlich an die deutschen Politiker, den USA und besonders Israel Einhalt in ihrem angeblich so menschenverachtenden Tun zu gebieten, macht also die Position stark, die bewiesen hat, daß sie das Unbegreifliche realisieren kann: Völker (also eigentlich Abstraktionen) zu ermorden. Diese Logik der impliziten Parteinahme für etwas, was man explizit so ja gar nicht ausdrücken würde, zu durchbrechen, wäre ein Ziel der Kritik, wobei ihr Polemik und Idiosynkrasie zwar nicht die einzigen, aber doch naheliegendsten Mittel sind. Daß unter den gegebenen Bedingungen eine öffentliche Parteinahme für die aktuelle Politik der USA und Israels gegen Deutschland notwendig wird, ist somit eine Konsequenz dieser Kritik. (Es komme keiner mit dem ‘Argument’, daß dann, wenn das das Resultat sei, dann die Analyse falsch sein müsse: Wahrheit ist nun einmal nicht, was einem gerade in den interessenbedingten Kram paßt.) Aktuell kommt alles darauf an, jede völkische Identifikation zu durchbrechen, eventuell auch mit einer vernünftigen (das kann, da situationsbedingt, unter Umständen auch heißen: kritisch rationalen) Gegenidentifikation zu kontern, in der Hoffnung, so den Raum und die Dynamik für eine materialistische Kritik von Staat und Geld zu schaffen; deren Aufgabe es selbstredend bleibt, jede Identifikation zu transzendieren.

Die Politik der USA nach dem 11. September

Die Reaktionen der USA (wie die Israels seit seiner Gründung) gehorchen dem Prinzip der Selbsterhaltung angesichts einer Bedrohung, die auf Vernichtung zielt – nicht nur auf die Zerstörung der Werte und Lebensumstände, die die USA (und Israel) symbolisieren, sondern vor allem die Vernichtung des nackten, konkreten Lebens ihrer Staatsbürger, auch unabhängig etwa davon, wie weit diese eigentlich von dem in ihren Staaten akkumulierten Reichtum profitieren und es ihnen vielleicht genauso dreckig geht wie den islamistischen Angreifern. Man kann die Erfolgsaussichten dieser Vernichtungsabsicht, was die USA betrifft, als gering ansehen. Nicht bestreiten aber kann man die in den Anschlägen vom 11. September symbolisch zum Ausdruck ge brachte, der Nation insgesamt geltende Vernichtungsdrohung – die von jedem Menschen dieser Welt verstanden worden ist. Ebenso wie besonders von den Afghanen (angeblich aber nicht von den deutschen Linken) die Lektion verstanden worden ist, daß die USA in ihrer Reaktion gerade nicht gleiches mit gleichem vergelten, sondern mit ihren Gewaltaktionen zu verhindern trachten, daß der Erfolg der Anschläge neue Kinder zeugt.

Dies ist nun einmal in diesem Fall rein technisch schon nicht mit einer Erhöhung passiver Sicherheitsmaßnahmen zu leisten (wie will man den Luftraum um alle Hochhäuser schützen?), sondern nur durch eine Einschüchterung des Angreifers mit allen, das heißt eben auch: repressiven Mitteln. Was jeder Pädagoge (und Arafat ebenso wie Osama bin Laden, Sharon ebenso wie Bush) weiß: daß man nicht mit leeren Drohungen operieren darf, sondern einem selbst vor Aussprechen einer Drohung ganz klar sein muß, ob man willens und in der Lage sein wird, diese Drohung auch wahr zu machen, wenn sie den gewünschten Erfolg nicht hat, von diesem Prinzip behaupten die deutschen Antiimperialisten nicht nur, es sei wirkungslos, realitätsferner noch: es sei kontraproduktiv und man müsse es, auch unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, im Interesse des Friedens außer acht lassen.

Anmerkung: Hiroshima und Nagasaki sind im übrigen die besten Beispiele dafür – und Vorläufer der gegen den Irak, Serbien und Afghanistan verfolgten amerikanischen Politik der Kriegsführung –, wie in modernen bürgerlichen Demokratien Technologie, Krieg und Politik so verbunden werden, daß sich der Friede des Kapitals, zumindest für eine gewisse Zeit, mit einem Minimum an Aufwand und Opfern (bei sich selbst natürlich zuerst, aber dann auch für den Gegner!) wiederherstellen läßt. Oder anders: wer eine Atombombe besitzt, aber nicht praktisch bewiesen hat, sie auch einzusetzen, kann sie nicht nur eigentlich gleich verschrotten, sondern, wie das Schicksal der Sowjetunion zeigt, sich darauf einstellen, daß sein atomwaffenbesitzender Gegner ihn früher oder später hegemonisieren wird. Da ist bei keinem Beteiligten irgendeine Bosheit im Spiel: es sind die von der Technologie gesetzten Bedingungen, die dieses Verhalten provozieren. Näheres ist bei Günter Anders nachzulesen.)

Es ist eine den Friedensbewegten aller Couleur nicht auszutreibende Mär, daß Gewalt nur Gegengewalt erzeuge – und nicht sehr viel öfter ihre Anerkennung. (Sie verdrängen, was ihnen ihre Eltern mal angetan haben.) Denn politisch viel wichtiger als die Frage, ob es im unmittelbaren Kampf ‘Mann gegen Mann’ gelingt, den Gegner niederzuwerfen, ist die Frage, wie und ob es gelingt, als Autorität/Hegemonialmacht anerkannt zu werden. Die Rolle der USA als Buhmann für alles kapitalistische Elend einerseits, als Ausdruck für die moralische Verderbtheit, Feigheit und Schwäche des verbürgerlichten Individuums andererseits, in einem Wort: die Kennzeichnung der USA als Papiertiger, zwingt diese geradezu, um die Loyalität der ihr feindlichen Bevölkerung zu erlangen, sich als so etwas wie ein strafender Vater zu gerieren, als eine Autorität jedenfalls, die stärker ist als der Arm der Gottes, repräsentiert etwa in den Taliban. Das Erfolgskriterium des westlichen Krieges gegen den sogenannten Terrorismus besteht somit nicht darin, ob Osama bin Laden verhaftet oder an den Galgen gehängt wird: das ist was für die Medien (und Menschenrechtler), nichts für die Politik; sondern darin, daß es gelingt, Staaten zu konstituieren, die in ihrem Inneren das Gewaltmonopol durchsetzen können und es im Interesse der USA gegenüber ihrer Bevölkerung dauerhaft auszuüben gewillt sind. (Ist das gesichert, kümmern sich die USA nicht weiter. Sie überlassen dann, normalerweise, das heißt wenn es keine medienwirksame Show abzuziehen gilt, die Leute in den von ihnen hegemonisierten Staaten ihrem Schicksal: und genau das wird ihnen ja etwa in Afrika angekreidet. Wie üblich: was die Amis auch machen, massiv eingreifen oder gar nichts tun: ihren Kritikern in Deutschland ist es in keinem Falle recht.) Für das Verhältnis von Israel zu Palästina gilt dasselbe: Israel kann aus schierem Überlebensinteresse nicht hinnehmen, daß Arafat offensichtlich nicht über ein Gewaltmonopol verfügt, über das er alle seine Bürger auf einen Frieden verpflichten könnte.

Dabei sollte der deutschen Linken nach 68 dieser, natürlich seit Macchiavelli den Diplomaten alles andere als unbekannte Mechanismus bürgerlicher Herrschaft, so unbekannt nicht sein. Denn schließlich hat sie am eigenen Leibe erfahren, wie der BRD-Staat seine Linke mit klassischen repressiven Mitteln – von der Terroristenhatz über die von den liberalen Intellektuellen erzwungene und geleistete Distanzierung vom Buback-Nachruf bis zu den Berufsverboten und den sachlich zwar völlig überzogenen, aber dank der martialischen Aufmachung dennoch höchst erfolgreichen Polizeieinsätze – psychologisch in die Knie gezwungen hat, das heißt zur bedingungslosen Anerkennung des Gewaltmonopols und der Souveränität des kapitalistischen Staates. Nicht also die juristischen, ideologischen und praxeologischen Plänkeleien über Erfolg und Mißerfolg einzelner Aktionen im Kampf ‘Mann gegen Mann’, ‘Bürger gegen Institution’, oder gar irgendein subjektiver Verrat oder sonstiges Unvermögen hat zum Niedergang dieser Linken geführt, sondern die einfache Tatsache, daß sie verinnerlicht hat, daß der Staat stärker ist als sie, daß sie, solange sie nicht zu staatsloyalen Bürgern konvertieren, ihre Hoffnung, den Staat auf ihre ‘Linie’ festlegen oder gar übernehmen zu können (zu mehr reichte ihre Vorstellungskraft bekanntlich sowieso nicht), begraben können. So ließen sie sich auf die Linie des Staates festlegen oder kuschten zumindest: Mehr hatten schon die römischen Kaiser von ihren Untertanen, und auch den Christen eigentlich nicht verlangt. Letztere aber verweigerten den Kaisern diese Anerkennung – was sie einem eigentlich sympathisch machen könnte, wenn da nicht ihr menschenverachtender, durchaus an den Taliban-Islamismus erinnernder Fundamentalismus gewesen wäre. Und mehr verlangen die USA von den Afghanen auch nicht, was diese sehr schnell ‘begriffen’ haben – und das ist die einzige Chance der USA, die sie von außen bedrohenden Rackets zumindest noch eine zeitlang niederhalten zu können.

Der Konkurs der alten Welt sollte, so glaube ich, nicht nur als strukturbedingter Kampf um die Verteilung des Reichtums gelesen werden, sondern könnte auch als ein Kapitel in der Dialektik von Zivilisation und Barbarei dargestellt werden – woraus dann jedoch folgen würde, daß man eindeutig Partei für Rom und gegen den katholischen Fundamentalisten Augustinus zu nehmen hätte: was viele interessante Fragen aufwirft, die aber hier nicht zu erörtern sind. (Ich weiß: Hannah Arendt läßt grüßen – aber was soll’s.) Was man jedoch, vor allem anderen, also vor jeder Parteinahme oder Identifikation und auch vor der Bestimmung der Begriffe, zu erbringen hat, ist die Klärung der Prämissen der Diskussion. Eine Auffassung jedenfalls, die die besondere deutsche Form antikapitalistischer Kritik (oder allgemeiner: den Faschismus) umstandslos dem amerikanischen Imperialismus einverleibt und für die, wieder ganz in der Tradition von 68, ein neuer Faschismus nur von den USA ausgehen kann – womit Deutschland natürlich fein raus ist –, verwischt die historischen und logischen Differenzen zwischen der (anglo-) amerikanischen und deutschen Form kapitalistischer Vergesellschaftung, die, und auch das sollte nicht vergessen werden, schließlich in zwei Weltkriegen ausgetragen wurden – Kriegen im übrigen, in denen nur Heuchler so tun konnten als ergriffen sie nicht Partei für die eine oder andere Seite.

Zum Schluß: Der Islamismus ist sicherlich ein “Geschöpf der westlichen Zivilisation” – der Islam jedoch so wenig, oder so viel, wie das Chris tentum. Kann das heißen, daß das eine, der Islam, mit dem anderen, dem Islamismus, nichts zu tun hat? Wenn man jedoch bedenkt, daß der Islam eine (religionsgeschichtlich gesehen) stark vereinfachte, popularisierte Abspaltung vom Frühkatholizismus (ein ‘reformiertes’ Christentum) darstellt, ist dann der moderne Islam nicht in derselben Form in die kapitalistische Vergesellschaftung eingebunden wie der Spätkatholizismus, das heißt, ideologisch durchaus der Vernunft im Sinne der Aufklärung äußerst feindlich gegenüber eingestellt, ökonomisch und politisch aber mittlerweile durchweg kapitalistisch konstituiert? Muß man dem Islam nicht allein deshalb schon (wegen der mit dem Islamismus gemeinsamen Verankerung im Kapital) auch die Islamisten (deren Verankerung im Kapital offensichtlich und von uns nie bestritten worden ist) zurechnen? Oder anders: Haben die Islamisten mit dem Islam nicht mindestens ebensoviel zu tun wie die christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegner mit der römisch-katholischen Kirche? Den Streit darum, welche Interpretation von Bibel oder Koran die angemessene ist – die, die diesen Schriften eine Friedensbotschaft oder die, die ihnen Gewaltverherrlichung unterstellt – sollten wir jedenfalls wirklich nicht nötig haben. (Zu dem Unfug solcher Interpretationen entlang der Gewaltfrage sei wieder auf den Merkur 633, Jan. 2002, verwiesen und da unter anderem auf den Aufsatz von Dell Agli.)

So wie die Religionskritik Voraussetzung jeder Kritik ist, so ist der Fortgang der Dialektik von Zivilisation und Barbarei die Möglichkeitsbedingung der Revolution – erst recht seit dem Bekanntwerden des Verschwindens des revolutionären Subjekts. Die Alternative der Revolution, die losgelassene Barbarei, die tatsächlich, wenn auch unterschwellig, Deutschland mit den Islamisten verbindet, wäre die praktisch vollzogene Negation jeder Kritik, der Verrat jeder Hoffnung, daß Selbsterhaltung doch noch einmal unter dem Primat der freien Assoziation, und nicht dem Zwang des nackten Überleben-Müssens stehen könnte.

Manfred Dahlmann

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