Der Staat bin ich

Der Staat bin ich

Kurzer Lehrgang, langer Marsch: Wie die antiautoritäre Politik in der ersten Person ungebrochen in den Staatsfetischismus münden konnte

Joachim Bruhn

Von heute aus betrachtet, entsteht der Verdacht, die ganze Studentenbewegung sei nur erfunden worden, um Sparkassenreklame zu illustrieren. Die Revolte war ein voller Erfolg – vor allem für die Achtundsechziger. Daß heute von ihnen so gesprochen wird wie zu Zeiten der Reichsgründung von den “Achtundvierzigern”, ist Zeichen ihres Durchbruchs zum geschützten Markenzeichen, zum Patent. Das Engagement hat sich doppelt und dreifach gelohnt, und das damals im “Kurzen Lehrgang” zusammengekratzte politische Kapital zahlt sich den Überlebseln der Bewegung mit dem Zins und Zinseszins der politischen Glaubwürdigkeit heim. Die ABC-Schützen des Grundkurses “Lohnarbeit und Kapital” von einst haben sich das Einmaleins der politischen Souveränität summa cum laude eingepaukt. Im Rückblick erscheint die Bewegung als ein gewaltiger Intensivkurs in Public Relations, Kommunikationstechnik und Politmanagement.

Was mittlerweile wie von selber läuft, mußte damals noch mühsam improvisiert werden: Überblick, Mut zur Lücke und Lust am Risiko waren gefragt, Qualifikationen also, die akademische wie politische Karrieren begründeten. Wer es in der antiautoritären Bewegung nicht geschafft hatte, das “Mobilisieren” und Agitieren aus dem Effeff zu lernen oder wahlweise das irgendwie links gemeinte Begatten wissenschaftlicher “Ansätze” mit Marxismus zur zweiten Natur sich zu machen, der hatte in Politik und Wissenschaft schlechte Karten und mußte linker Lehrer werden. Wer dann auch noch die nächste Gelegenheit verstreichen ließ, wem es nicht gelang, auf der schiefen Bahn der so genannten Neuen Sozialen Bewegungen hinunter in die Grüne Partei einen Vorsprung beim Rekrutieren und Politisieren zu erlangen, dem erging es schon schlechter: Die Gymnasien waren mit Pensionsberechtigten überfüllt, die Universitäten schon übervölkert von Genossen, die “Marxismus und Ökologie” vermitteln wollten, wahlweise Linguistik, Ethnologie oder, wie ein ehemaliger Bundesvorsitzender des MSB Spartakus, Anthroposophie. Zum Glück kamen dann Foucault, Deleuze, Derrida, die Poststrukturalisten und andere Heidegger-Anhänger.

Wer auf dem Langen Marsch in die Gründung der Anti-Parteien-Partei nicht schlappmachen wollte, der mußte zäh sein wie eine Basisgruppensitzung, flink wie ein Stadtindianer, hart wie der Abschnittsbevollmächtigte vom KBW. Die Elite, die nun die Führung übernahm, hatte zur Genüge bewiesen, daß ihr das Erweckungserlebnis von 68 nicht äußeres Schicksal war, sondern innere Berufung. Darin kam die Dialektik des antiautoritären Bewußtseins an ihr Ende: Sie hatte sich zu einer neuen politischen Unschuld vermittelt und trat nun mit dem naiven Charme unmittelbarer Menschenfreundlichkeit auf. Der “losgelassene Emanzipationsegoismus” hatte sich zum “Recht der ersten Landnahme” (Hans-Jürgen Krahl) raffiniert. Die “Politik in erster Person” vollendete sich im Berufspolitiker, dem nichts über sich selber geht. Gleichwohl mußte ein Rest innerer Distanz vorhanden sein, eine Art Lausbubenhumor, der glauben machen soll, die Politik geschehe um höherer Zwecke willen und sei so bierernst nicht.

Unnachahmlich beherrscht diese Kunst außer Joschka Fischer Daniel Cohn-Bendit, der süffisant einen anderen Kulturrevolutionär von damals mit der Frage ärgerte: “Und du kämpfst nicht mehr gegen den Staat?”; ein “Du”, das auf der Zunge zergeht. Der Befragte, Jerry Rubin, Autor des Revolt-Bestsellers “Do it!”, mußte mit der Wahrheit herausrücken: “Nein, nicht mehr. Das hat sich erübrigt, das ist der verkehrte Kampf. Der Staat, das muß ich jetzt selber werden, natürlich nicht ich persönlich: wir alle. Alle aus der Sechziger-Generation, die heute die Massen der achtziger Jahre ausmachen. Die beste und einzige Weise, heute den Staat zu bekämpfen, ist, sich an seine Stelle zu setzen. Und wir sind zahlreich genug, wir, die Banker, Ärzte, Zahnärzte, Unternehmer – der Staat, das sind wir. Warum soll man denn gegen sich selbst kämpfen?” Darin besteht die Kunst der politischen Kommunikation, das Programm des zur Partei erhobenen Wandervogels, der bündischen Jugend, der man selbst mit allen Fasern anhängt, aus den anderen herauszukitzeln.

Der antiautoritär gedrillte moderne Berufspolitiker hat gelernt, eine klare Massenlinie durchzuhalten und sich doch nie unwiderruflich festzulegen. Er ist flexibel, weiß zwischen Standbein und Spielbein zu unterscheiden, er verheddert sich nicht und läßt sich auf dem “langen Lauf zu sich selbst” niemals auf dem falschen Fuß erwischen. Wahlweise spielt er die Ansprüche von früher gegen die Wirklichkeit von heute aus, dann wieder die Partei gegen die Bewegung. Er selbst etabliert sich so als die allumfassende Vermittlung, die, kraft der Originalität seiner Person, die Extreme zusammenhält. Eingeübt wurde diese geniale Vermittlung von Generalinie und Zickzack im Gerede von der “Einheit von Theorie und Praxis”, an der sich die Teilnehmer von Parteischulungen und die selbstverwalteten Seminare unter der Leitung von Wolfgang Fritz Haug, Joachim Hirsch und Elmar Altvater besoffen. Auf Widersprüche kam es dabei nicht an, denn das Leben selbst hielt den ganzen Kladderadatsch zusammen; und als Adorno dann 1969, in den “Marginalien zu Theorie und Praxis”, seiner Bilanz der Protestbewegung, vom “Opiat der Kollektivität” sprach, ging dieses Urteil keinen mehr etwas an, der, mit deutlich antisemitischem Ton, die Kritische Theorie als “abgehoben”, “volksfeindlich” und “elitär” verworfen hatte.

1968 opponierte man gegen die Notstandsgesetze, denunzierte den Staat als faschistisch und war bemüht, durch die Phraseologie von der Klassengesellschaft das volksgemeinschaftliche Mordkollektiv der Deutschen zu virtualisieren; heute bastelt man an Gesetzesentwürfen und lobt den Parlamentarismus über den grünen Klee. Aber nur unter mentalem Vorbehalt, natürlich. So meinte vor Jahren ein grüner Fraktionssprecher im bayerischen Landtag: “Schließt man eine revolutionäre Veränderung in mittelfristiger Zeitplanung aus, werden wir uns auch über die Zeitperspektive, die wir uns angesichts der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen einräumen können, Gedanken machen.” “Man” schließt aus, und “wir” machen uns Gedanken. Zum Beispiel darüber: “Wir haben keinen Anlaß, über die Defizite staatlichen Handelns und die Korruptheit der Regierenden hinwegzusehen. (…) Es hieße aber das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man aus diesem Grunde in der heutigen Zeit den Staat als solchen total ablehnen.” Bei aller Kritik im Einzelnen – in Bezug aufs Ganze muß es doch konstruktiv und pragmatisch hergehen. Erst durch Kritik erhält das Mitmachen um jeden Preis die höheren Weihen.

Der politisierende Narzißmus begreift den “Staat als solchen”, die reine Souveränität, als aufgeblasenes Ego, als die Idee und als das Wesen der Wirklichkeit. Abstrahiert von Macht und Herrschaft, erscheint der Staat ausschließlich als Zusammenhang von Menschen und lautere Kommunikation, er tritt auf als therapeutisches Netzwerk. In der Vorstellung vom “Staat als solchem” resümiert sich der Begriff des politischen Fortschritts als Herrschaft der total werdenden Abstraktion. Das berühmte Diktum “Der Staat bin ich” (Ludwig XIV.) wird auf höherer Ebene wahr gemacht, eine Bewegung negativer Dialektik, die im Nachhinein die Revolte als unnötige Aufregung und viel Geschrei um Nichts denunziert. Der Absolutismus von einst wird als kollektiver Narzißmus, als Psychokratie und Selbstverwaltung der Subalternen reproduziert. Eine gelernte Seelentsorgerin, die ehemalige maoistische Bauernbeauftragte Antje Vollmer, hat im Namen der Erben von 68 das Resümee dieser Entwicklung gezogen, als sie ei nmal im Bundestag zu Protokoll gab, “der Staat (sei) nämlich nichts von den Individuen Abgehobenes, ein kollektives Grundböses, sondern der Staat sind wir”. Nie hat Stalin blumiger über die “Diktatur des Proletariats” geplaudert.

Vierzig Jahre “68” haben die antiautoritären Jugendsünden von einst zum deutschdemokratischen Altersstarrsinn versteinert, und dieses Ende offenbart die Wahrheit über den Anfang. Die Erben der Revolte werden über alles mit sich reden lassen, weil sie nicht vorhaben, irgendetwas anderes als immer nur sich selbst begreifen zu wollen. Ihr unbedingter Wille zur Macht, den die Protestbewegung noch in der leninistischen Nörgelfrage nach dem “Was tun?” vor sich geheim halten mußte, war der Katalysator zur Wiedergutmachung Deutschlands. So war der linke Radikalismus von 1968 keineswegs, wie Lenin in anderem Zusammenhang zu meinen beliebte, eine “Kinderkrankheit des Kommunismus”, sondern eben der Abgrund an Aufklärungsverrat, durch den hindurchmuß, wer es in Deutschland zu etwas bringen will.

Aus: Jungle World N° 5 vom 31. Januar 2008

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