Realität als Bückware

Realität als Bückware

Über ein neues Produkt des Theoretikers Ulrich Enderwitz

Joachim Bruhn

Das neueste Buch von Ulrich Enderwitz Konsum, Terror und Gesellschaftskritik widmet sich einer kleinen, vorgeblich im Linksmarginalen und negativnationalistischen Antideutschtum fixierten, dabei einflußreichen und doch namenlos bleibenden Gruppe von kommunistischen Intellektuellen und Parteigängern der kritischen Theorie, einem Gespenst recht eigentlich, dem der Autor die Verschwisterung und tatsächlich Verschweißung von kritischer Erkenntnis und Verblendung, von subversiver Einsicht und haltloser Ideologieproduktion, von selbstbewußtem Antagonismus und objektiver Affirmation des Kapitals zugleich vorwirft und auch sehr gerne nachweisen möchte. Gerade die Einsicht in die Logik der Kapitalakkumulation sei es, der diesen Kommunisten zur Barrikade vor der Wahrheit gerate, ausgerechnet ihr luzides Verständnis des Nationalsozialismus sei es, der sie zur schamlosen Bejahung des “War on terror” treibe, und schlußendlich ihr taktsicheres Gefühl für den Stand der Dinge wäre es, der sie die Wirklichkeit spektakulär verschleiern lasse. Das ist intrikat: das Kompliment als Denunziation, der Wille zur Aufklärung als Beitrag zur Totalverschleierung des Bewußtseins.

Wie immer bei Ulrich Enderwitz – bewundernswert in seinem vielbändigen Werk Reichtum und Religion (Freiburg: Ca ira 1990 ff.), verschroben und tendenziell obskur in diesem Traktat -, vermischt sich die seit seiner Kritik der Geschichtswissenschaft (Wien: Medusa-Verlag 1988) geübte und strikt sozialphilosophische, auf die Evidenz von Vernunft und Rekonstruktion pochende Argumentation mit aus der Wirklichkeit methodisch so selbstsicher wie selbstherrlich aufgenommenen Versatzstücken aus Empirie. Realität ist Bückware. Man nimmt sie nur auf, wenn die Theorie stolpert. Die Tatsachen sind, so weit ganz materialistisch, nichts als die Vergegenständlichung des gesellschaftlichen Prozesses, nichts außerhalb seiner; aber dieser Prozeß ist zugleich, soweit ganz unmaterialistisch (nämlich: traditionell marxistisch), dieser Auskristallisierung zum Faktum gar nicht wesentlich bedürftig, erfordert sie nur ephemer, als Erscheinungsform im einfachsten nur möglichen Sinn, d.h. als Reklame. Als Marxist arbeitet Enderwitz wie ein Kunstmaler, ein Illustrator seines vorgefaßten Plans; und das Faktum wird blöde darüber und zum Indiz, zur Beute eines Theoretikers, der als der umsichtiger Stratege seiner privateigentümlichen Theorie auftritt und der darüber niemals (fast schon aus manischem Kombinationszwang), wie es sich doch gehörte, in Verlegenheit gerät, wenn ihm, wie aus höherer Fügung, die Rechnung restlos aufgeht. Es scheint, als sei die Vernunft in der Philosophie ohne das abseitig Privatistische, das Idiosynkratische und ganz Insichversponnene, das Pathisch-Projektive des Philosophen selbst nicht zu haben – eigentlich ein Argument mehr für kritische Theorie, das Enderwitz jedoch zur höheren Wohlfahrt seines polemischen Interesses abzuwehren hat. Denn Enderwitz ist nicht, möchte es auch gar nicht sein, ein Wiedergänger Hegels. Er möchte Theoretiker sein, und so sind er und sein Unterfangen richtig schön schräg.

So ist die gesamte, schon selbst historische Diskussion um das Verhältnis von Logik und Geschichte bei Marx und im Materialismus ganz umsonst gewesen. Sein mehr als nur begründeter Widerwille gegen Faktenhuberei und gegen den Faktizismus – gegen die bürgerlichen Historiker ganz recht als Kritik der historischen “Quelle”, des funktionalen Äquivalents zum abergläubischen Faktizitätsbeweises des Splitters vom Kreuz, der Reliquie, expliziert – gerät zur absolutistischen Willkür der niemals und nirgendwo zitierten, der ungeborenen und abgetriebenen Zitate, der Montage und der Projektion, d.h. einer selbst der Reklame restlos verfallenen Suggestionstechnik. Enderwitz unternimmt eine Ersatzhandlung, eine Manipulationsleistung. Denn er will Theorie absetzen, will die Produkte seiner intellektuellen Subsumtionen auch in Kreuzberg und Bockenheim ausliefern dürfen. Er schielt auf den Erfolg, ahnt er doch, wie sehr diese Fingerübung in “wissenschaftlichem Sozialismus” dem Linksdeutschtum gefallen wird. Enderwitz tritt in diesem desaströsen Buch als der billige Jakob seiner selbst auf, der mit Gratisexemplaren nach dem Publikum wirft und dann noch Mengenrabatt gibt. Enderwitz wollte immer ein Theoretiker gewesen sein. Leider scheint es ihm hier zum ersten Mal gelungen. Was eine Tatsache ist, das dekretiert der Autor, das totaltransparente Subjekt seiner selbst, der Souverän des Textes und Autokrat der semiotischen Zirkulation. Was dem Horoskop die Sterne sind, das sind seinem neuen Buch die Fakten. Sie lügen nicht: Herhalten, das müssen sie, Material der Selbstverwirklichung haben sie zu sein, den Weg zu weisen, den man längst geht. Das Objekt der Kritik muß als das pars pro toto dessen benutzt und verbraucht werden, was man selber gerne dächte, dächte man denn und zensierte es nicht hinweg. Was man sich versagen muß, damit das Lebenswerk an der Konstruktion aufgeht, der Schweiß des Schreibens sich auszahlt. Ulrich Enderwitz, der Kritiker der Reklame, treibt sie nun für sich. Er hat, zum ersten Mal in seinem Leben, ein vollendet narzißtisches Buch geschrieben, ein Buch, das gerade deshalb zum ersten Mal allgemein verstanden werden wird.

Enderwitz fuchtelt. Der uneingeweihte Leser, dieser exoterische Lump, erfährt nur, was der Autor sehr gerne für das ideale Objekt seiner kritischen Projektionen halten würde, existierte es denn. Schattenboxen ist die Konsequenz, eine Art Tai Chi in höherer, philosophisch anmutender Potenz. Alles sehr elegant. Denn einerseits soll die kritisierte Fraktion, d.h. die sog. Antideutschen – gegen Attac! und die Grünen, gegen die “Krisis”-Gruppe und gegen die Traditionsmarxisten noch geradezu freundlich pointiert – die authentische Avantgarde der Sozialkritik sein, andererseits ist sie aber (und, in seltsamer Inversion, gerade deshalb) der Stoßtrupp der Affirmation, der sich in der Kunst des Ja-Sagens drillt. Der Name dieser Halbheit ist, wie auch anders, die kritische Theorie, d.h. der Albtraum Wolfgang Fritz Haugs und der “Argument”-Redaktion”, der Enderwitz vor Unzeiten, wie sich jetzt zeigt: leider folgenlos, entkommen war. So ist seine Argumentation vom Geist eines “wissenschaftlichen Sozialismus” durchdrungen, dessen élan vital darauf geht, eine schöne, in sich stimmige Theorie auszubosseln, d.h. das Gegenteil einer materialistischen Kritik. Was ein vertanes, was unsinnig vergeudetes Leben, das man jetzt rächen muß, wie stets in Deutschland, wenn man nicht recht weiß, wie und wo, dann an Adorniten. Wenn irgendetwas klappt, dann die Verdrängung, die Abspaltung und die Verschiebung! Wenn gar nichts mehr geht: dann die Ersatzhandlung! Daß Ulrich Enderwitz bis heute nicht versteht, warum sich die Theoretiker der Frankfurter Schule im II. Weltkrieg für die USA einsetzten, warum Herbert Marcuse für die CIA und damit für den Konsumterror des gemeinen McDonalds arbeitete und ein Franz Neumann für die Nürnberger Anklage – sein in sich eingesponnenes Unverständnis ist auf jeder Seite mit Händen zu greifen. Etwa dort, wo behauptet wird, den kritischen Theoretikern der Gegenwart stelle sich “der Zweite Weltkrieg … als ein mit knapper Not errungener Sieg der Matrix über ihre Ausgeburt dar” (55), d.h. nicht, wie sie es tatsächlich sagen, als glücklicher Sieg über die negative Aufhebung des Kapitals in Barbarei als einer neuen, so kapitalentsprungenen wie kapitalentronnenen Gesellschaftsform sui generis, sondern als Zwischenstadium eines ewigen Nullsummenspiels von “Aktualität” und “Potenzialität” (ebd.). Das eben ist die Reklame: “die Matrix und ihre Ausgeburt”, und das ist auch der Grund, warum sein Buch bei Unrast zur literarischen Welt kommen durfte. Weil es keine Kopfgeburt ist.

Wo, nach der Aria dne-Methode, der rote Faden durch die Labyrinthe der Empirie gelegt zu werden hätte, da zieht Enderwitz eine Trümmerschneise querdurch. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten gibt das Lineal, nicht, wie es sich für einen Denker seiner Statur gehörte, die Dialektik. Die Reflektion auf das Verhältnis von Forschung und Darstellung, auf die Marx, etwa im Nachwort zur zweiten Auflage des “Kapital”, überaus Wert legte – “Die Forschung hat sich den Stoff im Detail anzueignen …” – ist liquidiert und hat gar nicht stattgefunden. Gelingt die Darstellung, so Marx, “so mag es aussehen, als hätte man es mit einer Konstruktion a priori zu tun”. Was bei Marx nur so aussieht als ob, bei Enderwitz ist es wirklich so. Den Zielscheiben dieser Methodik wird zum Beispiel, mögen sie im wirklichen Leben noch so oft das gerade Gegenteil bekunden, skru pellos nachgesagt, sie hätten einen “demiurgenhaften Kapitalbegriff” (S. 49 ff.), und für sie sei “der Wert offenbar (!) kein Bestandteil der Welt, (… ) sondern ein der Welt absolut und autonom gegenüberstehender bzw. entgegentretender Faktor” (50) – ein Unheil allerdings, aber eines, das gegen jeden Zusammenbruch an sich selbst gefeit sei und – was dann das Movens der Affirmation sein soll – die unendliche Reproduktion des Negativen. Hauptsache, so die den kritischen Theoretikern unterschobene Perspektive, Hauptsache: Reproduktion, Endlosigkeit zwar des ganz Falschen, aber eben: Immer so weiter und im Jenseits der definitiven Katastrophe. Derlei kultiviere die “Sicht vom System als ein Schreckenskabinett, das seine Insassen zwar um Sinn und Verstand, aber nicht um Leib und Leben” brächte (51). Und dies dankten sie dem “System” dadurch, daß sie die Kritik als Affirmation unmittelbar zugleich trieben, d.h., am Beispiel von 9/11 oder Israel, sich “eilfertig in die Phalanx der Staatsbürger einreihen” (52) und sich “häuslich im System einrichten” (53). Ulrich Enderwitz hat die charmanteste Theorie über die Korruption der Arbeiterklasse (Arbeiteraristokratie!) seit Lenin entwickelt, und die linken Bourgeois werden es ihm danken. So soll der Begriff vom Kapital sein, den man sich auf den Kreuzberger “Bahamas” oder im Freiburger ISF-Winkel macht: “Jede Negation der Dinge außerhalb des kapitalistischen Systems ist gleichbedeutend mit einer Reaffirmation ihrer Existenz innerhalb des Systems, jede der Welt vom Kapital zugefügte Zerstörung hat zuverlässig die Erhaltung des Zerstörten als Bestandteil des an die Stelle der Welt gesetzten Systems zur Konsequenz. Die Sicht bietet also eine Art Trost…” (50). Heißt das, das die Toten nicht tot sind, daß die Antideutschen die Shoah ins Virtuelle geschoben haben? Gröber als Enderwitz dies tut, kann man den marxschen Begriff vom automatischen Subjekt nicht mißverstehen wollen.

All das hat zwar keiner der Kritisierten jemals geschrieben oder gesagt – aber es paßt der Enderwitzschen Ersatzhandlung in den Kram, manipuliert ihr ein Alibi herbei. Und so weiter und so fort emanzipiert sich seine “Darstellung” immer weiter von jeder “Forschung” und wird, je zwanghafter sie projiziert, nur immer noch anmaßender. Man merkt die Absicht: es geht ihm darum, seinen halluzinierten Sozialstatus als Theoretiker zu behaupten, und ist am Ende peinlich davon berührt. Wie stets im faktenfreien Positivismus, der sich zur Philosophie bläht, wird am Ende aller Subsumtionen das wirkliche, vor aller Denkoperation fixfertige Kriterium derartiger Setzungen manifest: hier waltet eine dogmatische Anthropologie, die objektiv und ganz genau weiß, worin “die unmittelbare Rücksicht des Menschen auf seine naturalen Triebe” bestünde, die eine im Dunklen operierende “mediale Gehirnwäschemacht” (21) immer aufs Neue ausradiert, und die auch genau das weiß, was jeder Rotgrünwähler längst ohnehin weiß, daß die USA schlecht, das Kyoto-Protokoll gut ist, und daß, “aus ökologischer Sicht”, die Welt “am Rand ihrer homöostatischen Balance” (17) steht (Hat sie dies nicht seit Eis-und Steinzeiten getan? Ist nicht das vielleicht gar: ihr “Wesen”?). Das alles hat denn auch mit Marx und der “Kritik der politischen Ökonomie” nichts mehr zu tun, viel dagegen mit Savonarola und seinem famosen “Fegefeuer der Eitelkeiten”. Enderwitz ist ein Fan der einfachen Reproduktion; jedwede erweiterte scheint ihm die des Teufels und ein Abfall vom “naturalen Trieb”, d.h. das Kapital selbst. Und es macht es für einen Theoretiker, der sich in der Tradition des “wissenschaftlichen Sozialismus” bewegt, nichts aus, ob er aus der “Natur” oder, wie Haug, aus “Arbeit” ableitet und deduziert: Hauptsache, ein Ursprung steht zur Verfügung, von dem aus sich subsumieren läßt, ein Feldherrenhügel der Wesensschau.

Zu studieren ist weiterhin, wie Ulrich Enderwitz dem islamischen Antizionismus ein “Realfundament” unterschiebt, d.h. ein Moment “von objektiver Begründung bei der Wahl des Haßobjektes” (99). Daran läßt sich verstehen, wie seine Konstruktion a priori immer dann Fakten ansaugt, wenn sie dem Illustrator genehm sind. Die Behauptung ist fix und fertig ausgesponnen, der Beweis wird sich schon einstellen: Denn es versteht sich von allein, daß Israel selbst schuld ist, erweist sich Ariel Scharon doch notorisch als unfähig, die Probe aufs Exempel der Enderwitzschen Theoreme zu wagen, d.h. die “Probe aufs Exempel der Ablösbarkeit des realen Konflikts von seiner ideologischen Überdeterminierung” (100). Das ist fein gesagt, aber nicht gedacht. Enderwitz, nun ganz Politikberater, möchte den Zionismus gerne von seinem falschen Antisemitismusbegriff heilen sowie davon, den Zerstörungswillen seiner Nachbarn nicht (wie den der Nazis) als “willentliches Täuschungsmanöver”, sondern (wie unter nützlichen Idioten ihrer selbst gemeinhin üblich) als “unwillkürliche Selbsttäuschungsveranstaltung” (100 f.). Kurz und gut: Israel ist selbst dafür verantwortlich, den Islamfaschismus endlich “um seine haltgebende Verankerung in der Empirie zu bringen” (101) – Chapeau: das wäre dann der gewitzteste Antizionismus seit langem und eine Art Zuckermann zum Quadrat, um so mehr, wenn man, wie Enderwitz nicht müde wird zu betonen, niemals vergißt, daß gerade auch Israel von einem “sekundären Lustgewinn” profitiere, “den die Krankheit Antisemitismus verschafft” (103). “Sekundärer Lustgewinn”! Wenn das Theodor Herzl gewußt hätte!! (Daß in der eigenwilligen Art, in der die Enderwitzsche Konstruktion Fakten inhaliert, der Mufti von Jerusalem natürlich nicht vorkommt und damit nicht das historische Bündnis des Nazifaschismus mit seinen Moslems an der “kolonialen Peripherie”, sei nur am Rande erwähnt, denn das versteht sich für den Autor einer “Kritik der Geschichtswissenschaft” von selbst.)

Ulrich Enderwitz entnimmt die Ermächtigung zu diesem absolutistischen Vorgehen aus einer sehr privaten und eigenwilligen Auslegung der freudianischen Analyse: Was die Leute, die man nach 9/11, weil man nun den Pro-Deutschen zu Diensten sein möchte, nicht mehr recht mag, denken, das ergebe sich keinesfalls aus ihren bei klarem Bewußtsein verfaßten Schriften (alles nur Rationalisierungen), sondern aus ihrem praktischen Verhalten. Wer 9/11 als antisemitisches Massaker begreift, kann nur ein Agent der Kulturindustrie sein, des Konsumterrors und der Bush-Administration; die Begründung dafür ist irrelevant. Die Leute handeln, was sie sind, nicht: was sie davon sagen und darüber behaupten (man ist, was man frißt, frei nach Joseph Bové: das ist Denken auf seinem gastroenteriologischem Niveau.). Was aber, wenn das praktische Verhalten dieser Antideutschen (weil sie keine Politiker sind, auch sonst mangels Macht nicht) nichts ist – als eben: das, was sie schreiben? Dann gehört es sich erst recht, ihr Geschriebenes komplett zu ignorieren und als Geschreibsel zu behandeln. War es einmal (und ist es noch) – etwa in seinem Buch Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung (Freiburg 1992) – das Faszinierende und das frappa nt Aufklärerische seines Denkens, Ideologie psychoanalytisch als Manifestation zu verstehen und das notwendig falsche Bewußtsein als das im Staat zwanghaft veröffentlichte, rationalisierte Unbewußtsein der falschen, der kapitalen Gesellschaft zu kritisieren, so ist jetzt an die Stelle des freudianischen Analytikers die strikt gegenaufklärerische Position Jacques Lacans getreten, d.h. das marxistisch zur heilig-revolutionären Wandlung klingelnde, aber im Grundbestand heideggerische Aburteil über die psychische, die ideologische “Struktur”, die der erscheinenden Empirie nicht mehr als die verdrehte und mehr als nur symptomatische Erscheinungsform ihrer selbst bedarf und nicht mehr als zwar ganz verkehrte, aber doch: Verwirklichung, sondern nur noch als blödes Exempel und mechanische Illustration zu figurieren hat. Empirie ist irrelevant, sagt Enderwitz mit Lacan, Empirie, das ist Zuckerguß und Beiwerk, eine Art Piercing im Metaphysischen.

Der Marxist soll Illustrator sein, einer, der, in einem nun doch irgendwie, wenn auch unfreiwillig komischen Plagiat aus kritischer Theorie, gar nichts zu sagen, sondern nur zu zeigen hat. Indem er die kritische Theorie der Gegenwart abfertigt wie die Schulbuben, muß er zugleich Sigmund Freud in die Ecke stellen. Denn hatte der nicht gesagt, der Analytiker (d.h. Ideologiekritiker) müsse der “Versuchung” widerstehen, “gegen den Kranken die Rolle des Propheten, Seelenretters, Heilands zu spielen”, die Rolle dessen, der zum Bekenntnis antreten läßt, d.h. aber die Rolle des chronisch wortlosen und schweigenden, des lacanschen Strukturalisten und Wesenschauers, des Deuters der Auspizien? Und hatte nicht Freud zudem angemerkt, daß die Analyse “ja krankhafte Reaktionen nicht unmöglichen machen (will), sondern dem Ich des Kranken die Freiheit schaffen soll, sich so oder anders zu entscheiden”? Das eben wäre die Kritik zur Freiheit gewesen, nicht aber: die Rubrifikation und systematische Subsumtion unters allzeit Bereite der anti-antideutschen Ideologie.

In paradoxer Umkehrung der den Antideutschen von Enderwitz unterschobenen Deutung des “automatischen Subjekts” als ewigem Jungbrunnen und Perpetuum mobile ist es die Enderwitzsche Strukturwissenschaft, die die Toten wirklich tot sein läßt. Das kommt daher, daß ihm das Empirische eben keine notwendige Erscheinungsform des Unwesens (mit einer gewissen Neigung ins Nicht-Identische), sondern die ephemere Illustration des Wesens darstellt (dessen Abbildung und identische Widerspiegelung). Die Deutschen, so geht die Logik der Enderwitzschen Deutung, haben die Juden zwar ermordet, aber eigentlich haben sie nicht die Juden gemeint, sondern vielmehr sich selbst. Sie könnten daher (so freudianische Trieblogik, in der nichts wirklich und endgültig verloren geht), und auch, weil der Massenmord eine Ersatzhandlung war, die Toten jederzeit ungeschehen machen – nichts ist mehr in diesem “Materialismus”, das objektiv wäre und unwiderruflich, nicht der Tod: alles nur Illustrationen. Bei Enderwitz gibt es keine Einzelnen mehr, keine Individuen, nurmehr Exemplare, Vergegenständlichungen und Beispiele: alles von der Statur eines Idealismus, dessen kein Hegel fähig gewesen wäre. Seinem Marxismus, der nur Prozesse kennte und deren ephemere, individuelle Vergegenständlichung, ist kein totes Leben unwiederholbar, unwiederherstellbar. Er will das nur nicht, bedeutet es ihm doch nicht das geringste. Er ist der Herr, wenn nicht des Reichtums, so doch der theoretischen Subsumtion. Er sonnt sich im Gefühl einer theoretischen Allmacht, die ihm – was angesichts seines bukolischen Ideals der einfachen Reproduktion auch nicht unverständlich ist – zu kostbar ist, sie tatsächlich auszuüben. Das unterscheidet ihn, den Theoretiker, von der Kritik, gar: von der Kritik der politischen Ökonomie. Dieser absurde Marxismus kann alles, weil er nichts vermag, außer: mit den Fakten als dem Unausweichlichen der Geschichte einverstanden zu sein, weil er glaubt, sie “rekonstruieren” zu können, eine Affirmationsleistung, zu der ein kritischer Theoretiker kaum putativ fähig wäre.

Deswegen hat dieser Marxismus überhaupt gar keinen Sinn für Rache. Er ist das Grundgesetz der Einverstandenen, der Positivismus ihrer Behaglichkeit. Alles ist irenäisch und abgeklärt, alles ist so ordentlich und aufgeräumt, so übersichtlich und so deutsch wie auf einer 1.Mai-Demonstration von Stoikern. Dieser Positivismus à la Enderwitz ist die Verdoppelung dessen, was ganz ohne ihn zum Überdruß vorhanden ist. Und dieser Marxismus hat, eben weil ihm kein Sinn für Rache eignet, auch nicht den geringsten Sinn für die Kritik nach Marx: Denn diese Kritik will, so absurd es klingt und erst recht auch ist, wieder zum Leben bringen, was von der Volksgemeinschaft aus der Positivität geschafft, was umgebracht wurde und ausgerottet, als das nur Daseiende. Das ist vergeblich, aber der Stachel der Vernunft. Für Enderwitz dagegen ist, was tot ist, endgültig tot, ohne jedes Legat zur Rache und irgendein Testament auf den Kommunismus. Das meint nicht “Sinn” oder “Sinnstiftung” (wie er bestimmt einwenden wird), sondern den bewußten Ausdruck dessen, daß die Weltgeschichte, solange sie ihren logischen Gang geht, ihre menschliche Bestimmung nicht erfüllt. Dieser Abstand zwischen der Logik des Kapitals und der Bestimmung der Geschichte ist die Quelle der Kritik, nicht die theoretische Explikation der Logik. Das leidenschaftslos Obduzierende, die abgeklärte Weise, in der er geruht, die Geschichte zu Protokoll zu nehmen, ist seine irgendwie doch originelle Methode, mit Deutschland einverstanden zu sein, d.h. sein persönliches D’accord mit den Faktizitäten. Die Toten, sagt Ulrich Enderwitz, sind nur die Einbildung ihrer Mörder: Wir könnten das, sagt Enderwitz, wie jede andere Vergegenständlichung, in unseren produktiven Wahn, in unsern heideggerschen Urgrund des immer und immer gebärenden Schoßes der fruchtbaren Gattung, der Arbeit, zurücknehmen und aufs Neue verlebendigen, denn die Toten sind ja bloß die Fakten und also gar nicht die Toten. Alles ist Prozeß. Nichts ist unwiderruflich verloren: Derlei zu behaupten, gar von “Rettung” zu sprechen wie Adornos Meditationen zur Metaphysik, sei nur die spätbürgerliche Romantik vom Gebrauchswerts im allgemeinen und des Gebrauchswerts am Menschen im besonderen, d.h. Ausdruck einer erzbürgerlichen Leidenschaft für die Phänomene, d.h. für die Ware und für die typisch kritisch-theoretische Verhaftetheit ans Bürgerliche. In der kritischen Theorie gefalle sich der Konsument als Ideologe.

Soviel zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gegenwart, zum Verhältnis auch von wissenschaftlichem Sozialismus und kommunistischer Kritik bei Ulrich Enderwitz. Die Provinz kommt, sagt Ernst Bloch, ganz von selbst in die Metropolen, man muß nur warten können, und sie kommt natürlich aus Münster, vom Unrast- Verlag. Geduld haben und abwarten, warten auf nichts als den idealistischen Unverstand der durch ’68 für ihr Leben geblendeten Denker und auf das, was antiadornitische Marxisten wie Ulrich Enderwitz in ihrem philosophischen Stürmen und Drängen verbreiten: Für die Pro-Deutschen. Für die “Klassenkämpfer”. Gegen den Zionismus. Für Deutschland. Und das alles im Namen eines Karl Marx, von dem sie nicht die Adresse kennen und nur den Terminus der “Konstruktion a priori”, die hervorzubringen sie sich sehnen. Die Theoretiker verzehren sich nach dem Idealismus, nach dem rückstandslosen Verzehr der Fakten durch den Begriff, der ihr eigener sein soll. Sie verzehren sich um so mehr danach, wenn sie einmal als Marxisten im Namen der “Realfundamente”, der “Homöostase” und der tatsächlichen, der “naturalen Bedürfnisse” angetreten waren, die Menschheit unter ihren eigenen, theoretisch ausgedachten und artig zur Objektivität entfalteten Begriff zu beugen.

So geht es auf die schiefe Bahn, vom Werk bei Ca ira zum Machwerk bei Unrast: unten angedotzt, hat Ulrich Enderwitz vor dem Brot-und-Spiele-Komplex kapituliert und sich der Reklame ergeben, wenn auch nur der Rekla me seiner selbst als eines Theoretikers, auf den man beim Philosophischen Quartett als linken Joker in Zukunft wird zählen müssen. Er wird dort vielleicht, so freundlich und bedächtig, wie es seine Art ist, mit anderen Unrast-Autoren über die Chancen, aber auch über die Risiken eines “emanzipatorischen Antizionismus” plaudern, auch über den “sekundären Lustgewinn”, den das für Deutschland mit sich bringt.

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